Toxische Polyneuropathie: Ursachen, Diagnose und Behandlung

Die Polyneuropathie (PNP) ist eine Erkrankung des peripheren Nervensystems, bei der mehrere Nerven geschädigt werden. Der Begriff "Polyneuropathie" stammt aus dem Griechischen und bedeutet übersetzt "Erkrankung mehrerer Nerven". Sie manifestiert sich hauptsächlich durch Sensibilitätsstörungen oder Schmerzen, insbesondere in den Extremitäten. Wenn die Polyneuropathie durch eine toxische Substanz ausgelöst wird, spricht man von einer toxischen Polyneuropathie. Die Anzahl der Betroffenen ist tendenziell steigend.

Was ist Polyneuropathie?

Bei einer Polyneuropathie (PNP) sind periphere Nerven geschädigt. Die peripheren Nerven sind Nerven außerhalb des Gehirns und des Rückenmarks. Sie sind wichtig für die Übertragung von Informationen zwischen dem Gehirn und den Muskeln, der Haut und den inneren Organen. Eine Schädigung dieser Nerven kann eine Vielzahl von Symptomen verursachen, die von Taubheitsgefühl und Kribbeln bis hin zu Schmerzen und Muskelschwäche reichen.

Ursachen der Polyneuropathie

Die Polyneuropathie ist eine häufige neurologische Erkrankung, die sowohl Männer als auch Frauen in gleichem Maße betrifft und im Alter an Häufigkeit zunimmt. Es gibt über 300 bekannte Ursachen von Polyneuropathie. Ca. 35 % der Polyneuropathien sind in Deutschland auf den Diabetes mellitus (Zuckererkrankung) zurückzuführen und etwa 20 % auf Alkoholkonsum. Die Ursache von etwa 1/4 aller Polyneuropathien bleibt auch nach ausführlicher Abklärung ungeklärt.

Die Pathogenese der Polyneuropathie ist vielfältig und abhängig von der jeweiligen Ätiologie. Die Schädigung kann sowohl Nervenzellen, Axone als auch die Myelinscheide betreffen.

Zu den häufigsten Ursachen gehören:

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  • Diabetes mellitus: Ein chronisch erhöhter Blutzuckerspiegel führt zu einer endothelialen Dysfunktion der kleinen Blutgefäße, die die Nerven versorgen (Mikroangiopathie). Zusätzlich schädigen toxische Stoffwechselprodukte die Nerven. Die diabetische Polyneuropathie ist die häufigste Form der Polyneuropathie. Sie kann sowohl bei Typ-1- als auch bei Typ-2-Diabetes auftreten. Ein dauerhaft erhöhter Blutzucker greift die Nervenzellen an und schädigt diese mit der Zeit unwiderruflich.
  • Alkoholmissbrauch: Chronischer Alkoholkonsum ist eine häufige Ursache der alkohol-assoziierten Polyneuropathie. Alkoholismus ist oft mit Mangelernährung verbunden. Viele Alkoholiker ernähren sich mangelhaft und einseitig. So kann unter anderem ein Mangel an Vitamin B12 entstehen. Dieses Vitamin ist aber sehr wichtig für die Funktion des Nervensystems. Ein Vitamin-B12-Mangel könnte also Nervenstörungen bei Alkoholikern zusätzlich begünstigen.
  • Chemotherapie: Bei der Chemotherapie-induzierten Neuropathie greifen die Medikamente die Spinalganglien und die peripheren Nerven an. Bestimmte Krebsmedikamente (Zytostatika) zerstören zwar insbesondere schnellwachsende Krebszellen - doch auch Nervenenden, Nervenzellen oder deren isolierende Hülle nehmen im Verlauf der Behandlung nachhaltig Schaden. Dadurch wird der Informationsaustausch zwischen Nervenzellen und Gewebe gestört. Dies führt zu Parästhesien, brennenden Schmerzen aber auch zu Muskelschwäche.
  • Weitere Ursachen:
    • Nierenerkrankungen
    • Lebererkrankungen
    • Schilddrüsenerkrankungen
    • Vitaminmangel (B1, B2, B6, B12, E) oder Vitaminüberdosierungen
    • Gifte (Schwermetalle wie Blei, Arsen, Thallium, Quecksilber, Gold)
    • Chemische Lösungsmittel (Kohlenwasserstoffe wie Benzol oder Trichlorethen, Alkohole wie Methanol)
    • Infektionskrankheiten (Borreliose, Lepra, HIV/AIDS)
    • Autoimmunerkrankungen (Guillain-Barré-Syndrom, Sjögren-Syndrom, Vaskulitis)
    • Paraneoplastische Syndrome
    • Amyloidose
    • Porphyrie
    • Genetische Ursachen (Hereditäre motorisch-sensible Neuropathie Typ I (HMSN I; vom Englischen "Hereditary Neuropathy with liability to Pressure Palsies" (HNPP); Synonyme: Morbus Charcot-Marie-Tooth (CMT))

Medikamente als Ursache

Arzneimittelbedingte Neuropathien hängen in der Regel von der Dosis und der Dauer der Verabreichung ab. Meistens, aber nicht immer, bessern sie sich nach Therapieabbruch. Der Mechanismus der Schädigung ist fast immer unbekannt.

Einige Medikamente können als Nebenwirkung eine Polyneuropathie verursachen. Dazu gehören:

  • Chemotherapeutika: Doxorubicin, Etoposid, Gemcitabin, Ifosfamid, Platin(derivate) (Cisplatin), Vincristin, Vincaalkaloide, Taxane
  • Immuncheckpointinhibitoren: Pembrolizumab, Nivolumab
  • Antibiotika: Isoniazid, Ethambutol, Linezolid, Nitrofurantoin, Metronidazol
  • Antiarrhythmika: Amiodaron
  • Statine: Simvastatin, Pravastatin, Fluvastatin
  • Weitere: Interferone, Virustherapeutika bei HIV, Bortezomib, Thalidomid

Bei Patienten, die unter Polyneuropathien leiden oder durch Diabetes mellitus beziehungsweise eine Alkoholsucht ein erhöhtes Risiko für die Entstehung einer Polyneuropathie haben, sollte die Therapie mit oben genannten Medikamenten (außer Metformin) vermieden werden. Bei zwingender Indikation ist auf Symptome zu achten, um frühzeitig reagieren zu können und unnötige Leiden zu vermeiden.

Symptome der Polyneuropathie

Bei den meisten Menschen beginnt die Polyneuropathie mit Reizerscheinungen im Sinne von Kribbelgefühlen, brennenden Missempfindungen bis hin zu heftigen Schmerzen und Taubheitsgefühlen an den Füßen. Häufig beschrieben wird ein Schwellungsgefühl, unangenehmer Druck, Gefühl wie auf Watte zu gehen, ein Elektrisieren oder Stechen. Meistens sind zunächst nur die Zehen und der Fußballen bds. betroffen. Im Verlauf von mehreren Monaten bis Jahren kommt es zur Ausweitung der Symptome auf die Füße und Unterschenkel mit Socken-förmiger oder Kniestrumpf-förmiger Begrenzung. Die Oberschenkel können im Verlauf einer weiteren Verschlechterung oder bei einigen Patienten auch primär betroffen sein. Auch das Temperaturempfinden leidet, so dass beispielsweise die Badewassertemperatur in der Badewanne an den Füßen nicht mehr richtig eingeschätzt werden kann. Zumeist erst im Verlauf der Erkrankung können zusätzlich die Fingerspitzen und Hände mit Handschuh-förmiger Begrenzung der Taubheitsgefühle betroffen sein. Parallel dazu kann es zunehmend zu Lähmungen, beispielsweise der Fußheber oder Zehenheber oder Fußsenker kommen, so dass Muskelschwund und Gangstörungen entstehen.

Alle Symptome entstehen zumeist symmetrisch und nur seltener asymmetrisch mit Betonung auf einer Seite. Krämpfe, insbesondere nachts oder bei Belastungen, sind nicht selten. Viele Patienten klagen über kalte Füße. Auch das Lageempfinden wird zunehmend gestört, so dass die akkurate Aufrechterhaltung des Standes leidet. Dies führt zu Schwanken, Schwindel und Gangstörungen. Das Schmerzempfinden wird allmählich herabgesetzt, so dass Verletzungen am Fuß nicht oder nur zu spät wahrgenommen werden. Dies kann, z.B. beim Diabetes mellitus, zur Entstehung von Druckgeschwüren führen. Letztlich können auch die inneren Organe im Sinne einer autonomen Polyneuropathie betroffen sein. Dies führt beispielsweise zur Blasenlähmung, Darmträgheit oder zur mangelnden Regulation des Herzschlages bei Anstrengung.

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Charakteristisch für das Vorliegen einer toxischen Polyneuropathie ist, dass die Symptome unmittelbar nach Kontakt mit der auslösenden Substanz erfolgen. Meist sind die peripheren Nerven der Extremitäten und hierbei besonders die Füße betroffen. Es kommt verstärkt zum Missempfinden, gesteigerter Berührungs- und Sinnesempfindlichkeit, Ausfallserscheinungen sowie brennenden und drückenden Schmerzen. Meist werden diese Symptome als aufsteigend empfunden und treten nachts verstärkt auf. Unter Umständen kann auch das autonome Nervensystem reagieren und somit zu teils lebensbedrohlichen Zuständen führen.

Diagnose der Polyneuropathie

Die Diagnose Polyneuropathie wird aus der Kombination der Befunde aus dem Anamnesegespräch, einer ausführlichen körperlichen und neurologischen Untersuchung sowie einer neurophysiologischen Diagnostik gestellt.

  • Anamnese: In dem Anamnesegespräch wird sich Ihr:e behandelnde:r Arzt oder Ärztin unter anderem nach Ihren Beschwerden erkundigen sowie nach bereits bestehenden Erkrankungen, Ihrer aktuellen Medikation sowie Ihrem Alkoholkonsum.
  • Körperliche und neurologische Untersuchung: Diese beinhaltet unter anderem:
    • Sensibilitätsprüfung
    • Prüfung der motorischen Funktion
    • Gleichgewichtsprüfung
    • Koordinationsprüfung
    • Prüfung der Reflexe
  • Laboruntersuchung: Hierbei werden, neben einem Blutbild, Entzündungsparameter und Blutzuckerwerten, bei Bedarf auch Vitamin-Spiegel (wie Vitamin B12 und Folsäure) sowie Giftstoffe bestimmt. Die Laboruntersuchung kann Hinweise auf die Ursache einer möglichen PNP geben. Auslösende Substanzen können über das Blut des Betroffenen nachgewiesen werden. Diese Untersuchungen werden in der Regel in Speziallabors durchgeführt.
  • Neurophysiologische Untersuchung: Dazu gehört die Elektroneurograhie (ENG) und die Elektromyographie (EMG). Mit Ersterer kann die Nervenleitgeschwindigkeit der peripheren Nerven gemessen werden. Die Elektromyographie gibt hingegen die elektrische Aktivität von Muskeln an. Je nachdem, ob es sich um eine axonale oder demyelinisierende PNP handelt, kommt es zu unterschiedlichen Untersuchungsergebnissen.
  • Weitere Untersuchungen: Bei Bedarf können zudem noch weitere Untersuchungen durchgeführt werden, wie z.B. eine Nervenwasseruntersuchung (Liquor) bei Verdacht auf eine entzündliche Erkrankung oder eine Kernspintomographie der Lendenwirbelsäule oder Halswirbelsäule, wenn gleichzeitig dort eine zusätzliche Erkrankung z.B. ein enger Spinalkanal vermutet wird. Die wichtigsten genetischen Ursachen lassen sich durch genetische Untersuchungen aus dem Blut heraus abklären. Eine Untersuchung eines operativ entfernten Teils eines betroffenen Nervens (Biopsie) ist heutzutage nur in Ausnahmen notwendig.

Behandlung der Polyneuropathie

Die häufig auch von Ärzten verbreitete Aussage: "Bei Polyneuropathie kann man nichts machen", ist falsch. Es gibt viele therapeutische Ansätze. Verbesserungen sind fast regelmäßig möglich. Auch eine Ausheilung ist nicht selten erzielbar.

Das primäre Ziel der Behandlung ist die Ausschaltung der Ursache der Polyneuropathie. Die bedeutet z.B. einen Diabetes mellitus optimal mit Medikamenten einzustellen. Medikamente, die eine Polyneuropathie verursachen, müssen abgesetzt oder ausgetauscht werden, insofern sie nicht aus anderem Grund unabdingbar notwendig sind. Eine toxische Exposition, beispielsweise durch Schwermetalle oder Umweltgifte, muss beendet werden. Ist Alkohol die Ursache der Polyneuropathie, so muss vollständige, lebenslange Abstinenz eingehalten werden. Auch kleinere Mengen Alkohol können eine Verschlechterung herbeiführen oder eine Ausheilung verhindern, da das Nervensystem bereits vorgeschädigt ist. Alkoholabstinenz ist immer eine Voraussetzung für eine Verbesserung oder Ausheilung der Symptomatik.

Für die Behandlung der Schmerzen oder unangenehmen Missempfindungen stehen mehrere Medikamente zur Verfügung. Bei einer toxischen Polyneuropathie sollte die auslösende Substanz gemieden werden. Generell sollte in dieser Zeit auch der Kontakt mit anderen chemischen Substanzen eingeschränkt werden. Durch die Gabe von Gamma-Linolen und Alpha-Liponsäure können Wahrnehmungsstörungen verbessert werden.

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Liegt eine entzündliche Ursache der Polyneuropathie vor, so können Cortison-Infusionen, Plasmapherese (umgangssprachlich - Blutwäsche) oder die Gabe von Immunglobulinen zu einer Linderung oder gar Ausheilung führen. Die Notwendigkeit der Anwendung dieser Medikamente oder Verfahren zu beurteilen ist Sache des neurologischen Experten.

Missempfindungen und Schmerzen können überdies mit einer Neural-Akupunktur behandelt werden.

Lähmungen und Muskelschwund, Gleichgewichtsstörungen und Gangstörungen können mit einer spezifischen Physiotherapie behandelt werden. Diese kann gegebenenfalls um elektrische oder magneto-elektrische Stimulationverfahren ergänzt werden.

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