Das narrative Gehirn: Eine Erkundung der Macht des Erzählens

Wer in Geschichten verstrickt ist, lebt intensiver. Erzählungen sind ein fundamentaler Bestandteil des Menschseins. Sie ermöglichen es uns, die eigenen Erfahrungen zu strukturieren und die Erfahrungen anderer zu teilen. Fritz Breithaupts Buch "Das narrative Gehirn" unternimmt eine Neubestimmung des Menschen als narratives Wesen, das sich durch Erzählungen in der Welt verankert. Der Autor stützt sich dabei auf Erkenntnisse der Hirnforschung, Experimente mit Nacherzählungen und Analysen von Serien, Romanen, Märchen und alltäglichem Büroklatsch.

Die Bedeutung von Narrationen

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gesellte sich zu den bekannten Konzepten wie "Homo sapiens" und "Homo oeconomicus" der "Homo narrans", der erzählende Mensch. Lebendiges Erzählen, das über die reine Rekonstruktion von Ereignissen hinausgeht und als dynamische, ausgeschmückte Mitteilung verstanden wird, gilt als essenziell für das Menschsein. Es fördert soziale, emotionale, kognitive und personale Kompetenzen.

Narratives Denken und Emotionen

Narratives Denken wird stets mit spezifischen Emotionen belohnt. Wir leben, wie wir leben, weil wir diesen Belohnungsmustern folgen. Emotionen spielen eine zentrale Rolle für Narrationen. Es stellt sich die Frage, ob emotionale Einschätzungen lediglich eine Begleiterscheinung des nacherzählten Plots sind oder ob sie im Mittelpunkt der Wiedergabe einer Geschichte stehen.

Breithaupt definiert narrative Emotionen als solche, die Narrationen in Rezipient*innen hervorrufen. Wesentlich ist die Differenzierung zwischen „Beobachter-fokussierten Emotionen“ und den „empathischen narrativen Emotionen“.

Narrative als Antwort auf Krisen

Ein "Narrativ" bestimmt kollektive Erfahrungen und Erwartungen, besonders Narrative von Krisen. Ein Narrativ bietet das Angebot eines Endes zur Auflösung einer Krise. Damit korrespondieren vier Erwartungen:

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  1. Das Narrativ ist selbst ein Bestandteil der Überwindung der Krise.
  2. Emotionen sind wichtiger als Kausalitäten.
  3. Dem Narrativ wohnt das Angebot einer neuen Identität inne.
  4. Es besteht die Möglichkeit, dass alles hätte anders sein können, bei gleichzeitiger Fixierung des tatsächlichen Verlaufs.

Breithaupt analysiert das kollektive Narrativ des 11. Septembers und destilliert daraus „die therapeutische Dimension von kollektiven Krisen-Narrativen“.

Identität und narrative Figuren

Eine Figur bzw. ein Individuum, das Teil einer Narration ist, entsteht durch kognitive Operationen. Drei mentale Operationen sind dabei von großer Relevanz: „das Spielen von Figuren (playability), das Tracken von Individuen und das Rechtfertigen ihrer Handlungen“.

Im narrativen Denken erschließen sich uns Möglichkeitsräume. Wir befinden uns immer in der Mitte einer Geschichte, in der sich eine mentale Vieldimensionalität eröffnet.

Die Evolution des narrativen Gehirns

Breithaupt wagt einen Blick auf die Genese des „mobilen Bewusstseins“. Er regt an, die kulturelle Evolution von Bewusstseinsmobilität „in der Entwicklung von Bühnen zu verorten, verstanden im weiten Sinne als Schauplätze der Vorführung für andere, die vielleicht bereits seit einigen hunderttausend Jahren unser Gruppenverhalten geprägt haben könnten“. Auf Bühnen aktiviere sich eine „kollektive Aufmerksamkeitsfokussierung“. Unter den drei Bedingungen der „joint attention“ (geteilte Aufmerksamkeit), der „bewussten Täuschung oder Inszenierung für die anderen“ und der „Kultivierung einer rezeptiven Haltung der Beobachter“ entstehe „kollektive Empathie“.

Fritz Breithaupts Forschungsmethoden

Breithaupts Forschungen setzen an bei der Frage, ob Menschen narrative Lebewesen seien. Die Überlegungen dazu basieren nicht auf gehirnanatomischen Untersuchungen, sondern allein auf dem, was man messen könne.

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Stille-Post-Spiele

Breithaupt nutzt die Methode des Stille-Post-Spiels, um zu bestimmen, was das narrative Denken ausmacht. In diesem Verfahren entstehen Ketten von Nacherzählungen. Frederic Bartlett behauptete in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dass Kausalität Stabilität garantiere. Breithaupt und seine Mitarbeiter*innen gehen unter Laborbedingungen davon aus, „dass Emotionen eine zentrale Rolle für Narrationen spielen“.

Die Studie, in der die Teilnehmerinnen aufgefordert wurden, eine von anderen Teilnehmerinnen in 12-15 Sätzen erzählte und von wiederum anderen auf das Maß an bestimmten emotionalen Kriterien hin beurteilte Geschichte im Stille-Post-Verfahren weiterzuerzählen, ergab, im Gegensatz zu Bartletts Ergebnissen, dass sich Komponenten der Rationalität von Nacherzählungsgeneration zu Nacherzählungsgeneration reduzierten.

Experimentelles Humangehirn

Breithaupt leitet das Experimental Humanities Lab an der Indiana University in Bloomington. Dort erforscht er narrative Ereignisse, Empathie, moralisches Denken, Emotionen, Parteilichkeit, Ausreden, Gewalt und Überraschung.

Kritik an Breithaupts Ansatz

Burkhard Müller kritisiert Breithaupts Versuch, wissenschaftliche Exaktheit zu behaupten, indem er emotionale Wertigkeiten beim Weitererzählen von Geschichten misst, ohne deren Inhalt zu beachten. Er bemängelt auch die Ausweitung des Begriffs "Narrativ" und das fehlende Verhältnis zur Wirklichkeit.

Albrecht Koschorke vermisst bei Breithaupt die Beschäftigung mit den dunklen Seiten des Erzählens bzw. den von ihm ausgelösten peinigenden Emotionen. Er findet es vermessen, dass Breithaupt zu wissen vorgibt, was "richtiges", was "falsches" Erzählen sei. Zudem bedauert er, dass neurowissenschaftliche Befunden zum Thema im Buch kaum vorkommen.

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Volkart Wildermuth empfiehlt als Ergänzung zu Fritz Breithaupts Buch weiterführende Literatur über empirische Ästhetik. Er bemängelt, dass Breithaupt dem Buchtitel nicht ganz gerecht wird, da er allenfalls eine "stimmige", wenngleich nicht immer detailgenaue Einführung in die Theorie des Erzählens aus literaturwissenschaftlicher Sicht bietet, keine Darstellung der biologischen Hintergründe.

Narrative in der Gesellschaft

Narrative spielen in unseren Leben und unserer Gesellschaft eine große Rolle. Sie werden von Erzählungen geprägt und wir versuchen durch Erzählung, uns unsere Gegenwart zu erklären. Narrative können uns helfen, eine Krise zu überwinden, indem sie uns ermöglichen, das Geschehen einzuordnen, damit abzuschließen und weiterzugehen.

Allerdings können kollektive Narrative auch Schattenseiten haben. Das Narrativ des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der Held, der gegen Goliath kämpft, kann im Weg stehen, wenn es zu einem Stellungskrieg kommen sollte, der nur am Verhandlungstisch gelöst werden könne.

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