Enterisches Nervensystem Störungen: Eine umfassende Betrachtung

Das enterische Nervensystem (ENS), oft als "Bauchhirn" bezeichnet, spielt eine zentrale Rolle bei der Steuerung der Verdauungsprozesse. Es handelt sich um ein komplexes Netzwerk von Neuronen, das sich entlang des gesamten Magen-Darm-Trakts erstreckt und autonom agiert. Störungen dieses Systems können vielfältige Beschwerden verursachen und die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen. Dieser Artikel beleuchtet die Anatomie, Funktion und Störungen des ENS, um ein umfassendes Verständnis dieser wichtigen Struktur zu ermöglichen.

Das enterische Nervensystem: Anatomie und Funktion

Das enterische Nervensystem (ENS) ist ein Teil des vegetativen Nervensystems, das den Magen-Darm-Trakt vom Ösophagus bis zum Rektum steuert. Es ist das komplexeste dieser Systeme und auch unter dem Begriff Plexus entericus bekannt. Das ENS reguliert die zentralen Aufgaben und Funktionen des Magen-Darm-Trakts. Es besteht aus etwa 100 Millionen Nervenzellen und ist damit komplexer als das Rückenmark. Es wird auch als "Bauchhirn" oder "zweites Gehirn" bezeichnet, da es in der Lage ist, unabhängig vom Gehirn zu lernen und Informationen über Nahrungsbestandteile zu speichern.

Das ENS unterteilt sich in das enterische, sympathische und parasympathische Nervensystem und arbeitet autonom. Obwohl das enterische Nervensystem eine Komponente des vegetativen Nervensystems darstellt, arbeitet es dennoch unabhängig davon (sowie vom Gehirn und vom Rückenmark) und koordiniert die Tätigkeit von Speiseröhre, Magen und Darm selbstständig.

Die Hauptfunktionen des ENS umfassen:

  • Motilität: Steuerung der Muskelbewegungen von Speiseröhre, Magen und Darm zur Förderung des Nahrungsbreis.
  • Sekretion: Regulation der Ausschüttung von Verdauungssäften und Hormonen in den Verdauungsorganen.
  • Lokale Durchblutung: Beeinflussung der Durchblutung in den Verdauungsorganen durch Innervierung der dortigen Gefäße.

Das ENS besteht aus zwei Hauptnervengeflechten:

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  • Plexus submucosus (Meissner-Plexus): Befindet sich in der Submukosa und ist hauptsächlich für sekretorische Aufgaben zuständig.
  • Plexus myentericus (Auerbach-Plexus): Liegt zwischen der Ring- und Längsmuskelschicht und ist vor allem für die Peristaltik verantwortlich.

Das ENS ist in der Lage, Reize aus dem Lumen des Magen-Darm-Trakts zu erfassen und entsprechend zu reagieren. Es aktiviert Dehnungsrezeptoren und initiiert die Entspannung der Ringmuskulatur, gefolgt von der Kontraktion der Längsmuskulatur, um eine Peristaltikwelle zu erzeugen, die den Nahrungsbrei aboral transportiert.

Die Kommunikation zwischen Kopf- und Bauchgehirn erfolgt über den Nervus vagus. Dieser Hirnnerv verläuft vom Gehirn an der Speiseröhre entlang durch das Zwerchfell und überträgt Informationen vom Kopf an den Bauch und umgekehrt. Dabei werden rund 90 Prozent der Informationen vom Bauch an das Kopfgehirn gesendet und lediglich 10 Prozent in die andere Richtung. Das Bauchgehirn teilt dann beispielsweise mit, wenn Giftstoffe über die Nahrung in unseren Körper gelangt sind.

Störungen des enterischen Nervensystems

Störungen des ENS können sich in einer Vielzahl von Symptomen und Erkrankungen äußern. Dazu gehören:

  • Morbus Hirschsprung: Hierbei handelt es sich um eine angeborene Fehlbildung im Bereich des Enddarms. Die Nervenzellen in der Darmwand fehlen, wodurch keine Darmbewegung entstehen kann und folglich der Nahrungsbrei nicht bis zum Darmausgang transportiert wird. Der Speisebrei staut sich und ein sogenannter Riesendarm kann entstehen, welcher sich durch einen dicken, herausgedrückten Bauch äußert.
  • Reizdarmsyndrom (RDS): Charakteristisch für die Krankheit sind vor allem Unregelmäßigkeiten in der Darmentleerung (Verstopfung und/oder Durchfälle), die auch mit Schmerzen einhergehen können. Dem Syndrom liegt meist eine Überaktivierung des enterischen Nervensystems zugrunde. Folgen des Reizdarms sind häufig Symptome wie Sodbrennen oder saures Aufstoßen.
  • Reflux: Störungen im enterischen Nervensystem können sich durch weitere Symptome bemerkbar machen. Ein Reflux, also ein Zurückfließen des Mageninhalts in die Speiseröhre, löst womöglich Sodbrennen aus und zählt häufig auch zu den neurogastroenterologischen Krankheiten.
  • Depression: Das Bauchgehirn und das Kopfgehirn kommunizieren über Neurotransmitter (Botenstoffe). Zu diesen gehören Serotonin („Glückshormon“) oder Dopamin (verbessert die Motivation). Da die Serotoninmenge im Bauch zusätzlich die vorhandene Menge an Serotonin im Gehirn beeinflusst, kann eine Störung im Darm bezüglich der Bildung des Hormons auch Auswirkungen auf die Psyche haben.
  • Achalasie: Eine primäre Motilitätsstörung der Speiseröhre, die sich durch Schluckstörungen äußert. Ursache ist die Degeneration inhibitorischer Ganglienzellen des Plexus myentericus.
  • Chagas-Krankheit: Eine Parasitose, die durch Trypanosoma cruzi verursacht wird und zu einer irreversiblen Schädigung von Ganglienzellen des Meissner- und Auerbach-Plexus führt.
  • Diabetes mellitus: Kann zu einer Neuropathie führen, die auch das ENS betrifft und sich in einer Gastroparese äußern kann.
  • Divertikulose: Patienten mit Divertikulose zeigen häufig eine enterische Neuropathie mit einer erhöhten Anzahl von Gliazellen im Plexus myentericus und einer reduzierten Anzahl in beiden Nervenplexus.

Neurogastroenterologie: Die Verbindung zwischen Neurologie und Gastroenterologie

Die Neurogastroenterologie ist ein medizinischer Fachbereich, der sich mit der Erforschung und Behandlung von Erkrankungen im Magen-Darm-Trakt befasst, die auf Störungen des Nervensystems des Magen-Darm-Trakts zurückzuführen sind. Typische neurogastroenterologische Erkrankungen sind Schluckstörungen, Refluxerkrankung, Reizmagen, Reizdarmsyndrom, chronische Verstopfung sowie Stuhlinkontinenz.

Die Hirn-Bauch-Achse spielt eine wichtige Rolle bei der Entstehung psychosomatischer Erkrankungen. Stress und chronischer Stress können das enterische Nervensystem im Magen-Darm-Trakt beeinflussen und zu Schmerzen, Krämpfen, Blähungen und Durchfall führen. Umgekehrt können chronische Beschwerden im Bauchraum Auslöser von psychischen und psychosomatischen Erkrankungen sein.

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Diagnose von Störungen des enterischen Nervensystems

Die Diagnose von Störungen des ENS erfordert eine sorgfältige Anamnese, klinische Untersuchung und den Einsatz verschiedener diagnostischer Verfahren. Dazu gehören:

  • Anamnese: Erhebung der Krankengeschichte, einschließlich der Art, Häufigkeit und Dauer der Beschwerden. Gezielt sollte nach Störungen des Kreislaufs, der Verdauung, des Stoffwechsels inklusive Gewichtsveränderungen, sekretomotorischen Störungen inklusive Schwitzen, aber auch Störungen der Blasenfunktion, Darmentleerung und der Sexualfunktionen gefragt werden.
  • Körperliche Untersuchung: Beurteilung des allgemeinen Gesundheitszustands und des Bauchraums.
  • Laboruntersuchungen: Messung von Blutzucker, HbA1c, thyreoideastimulierendem Hormon (TSH) und Vitamin B12, Serum- und Urinelektrophorese, Immunfixation (AL-Amyloidose?). Für die Diagnostik der Sjögren-Erkrankung sollten die SSA- und SSB-Antikörper bestimmt werden. Bei allen Patienten mit subakuter Entwicklung autonomer Funktionsstörungen empfiehlt sich die Bestimmung der Antikörper gegen ganglionäre Acetylcholinrezeptoren, gegen spannungsabhängige P/Q- und N-Typ-Kalziumkanäle, gegen spannungsabhängige Kaliumkanäle sowie der Anti-Hu-Antikörper.
  • Autonome Funktionstests: Untersuchung der sudomotorischen, kardiovagalen und der vasomotorischen Funktionen. Die vagale Kontrolle des Sinusknotens wird über die Herzratenvariabilität erfasst. Standardtests sind die Stimulation mittels 10-Sekunden-Atmung sowie das Valsalva-Manöver.
  • Bildgebende Verfahren: Röntgenuntersuchung der Magen- und Darmpassagezeit.
  • Endoskopie: Magen- und Darmspiegelung zum Ausschluss von Entzündungen oder Passage-Hindernissen.
  • Manometrie: Messung des Speiseröhrendrucks.
  • Hautbiopsien: Bestimmung der intraepidermalen Dichte markloser Fasern zur Diagnostik von Small-Fiber-Neuropathien.
  • Kipptischuntersuchung: Beurteilung des Blutdruck- und Pulsverhaltens beim Wechsel vom Liegen ins Stehen.

Behandlung von Störungen des enterischen Nervensystems

Die Behandlung von Störungen des ENS richtet sich nach der zugrunde liegenden Ursache und den individuellen Symptomen des Patienten. Zu den Behandlungsoptionen gehören:

  • Medikamentöse Therapie:
    • Säurehemmung bei übermäßiger Säurebildung
    • Prokinetika bei verlangsamter Magenentleerung
    • Antidepressiva
    • Krampflösende Mittel
    • Durchfallhemmende Präparate
  • Ernährungsumstellung:
    • Gesunde Ernährung zur Pflege der Darmflora
    • FODMAP-reduzierte Diät zur Reduzierung von Reizen im Dickdarm
    • Ballaststoffreiche Ernährung
  • Stressmanagement:
    • Entspannungsübungen wie autogenes Training oder Yoga
    • Psychotherapie
  • Orthomolekulare Therapie:
    • Vitamin-D-Supplementierung zur Regulierung des Serotoninmetabolismus
    • Omega-3-Fettsäuren zur Beeinflussung des Serotoninmetabolismus
  • Phytotherapie:
    • Wirkstoffkombinationen aus Pfefferminz- und Kümmelöl
  • Höhenluft-Zelltraining (IHHT): Zur Regulierung der HPA-Achse und Verbesserung der Stressresistenz.
  • Chirurgische Eingriffe:
    • Operative Entfernung betroffener Darmabschnitte bei Morbus Hirschsprung
    • Ballondilatation der Speiseröhre oder operative Erweiterung des Schließmuskels bei Achalasie
  • Interdisziplinäre Therapieoptionen:
    • Einbau eines Magen- oder Kreuzbeinschrittmachers

Selbsthilfemaßnahmen zur Beruhigung des Darms bei Stress

Verschiedene Stressoren können zur Symptomatik eines Reizmagens, der „funktionellen Dyspepsie“, führen. Diese äußert sich durch Sodbrennen, Völlegefühl oder Oberbauchschmerzen. Hierbei ist es wichtig zu beachten, dass das Krankheitsbild eine Ausschlussdiagnose ist und körperliche Erkrankungen als Ursachen der Beschwerden ausgeschlossen werden sollten.

Da bis zu fünfzig Prozent der Patienten/-innen mit Magen-Darm-Beschwerden unter einem Reizdarm (Colon irritabile) leiden, sollte diese Diagnose bei Patienten/-innen mit entsprechenden Symptomen in Betracht gezogen werden. So kann etwa psychischer Stress Krämpfe, Druckschmerzen und Durchfälle zur Folge haben. Wichtig ist wie auch beim Reizmagen, dass es sich um eine Ausschlussdiagnose handelt und schwerwiegende Erkrankungen nicht übersehen werden dürfen. Häufig führt bereits die Aufklärung über die Harmlosigkeit der Erkrankungen zu einer Entspannung bei den Patienten/-innen. Entsprechend steht die Lifestyle-Modifikation mit Stressreduktion an erster Stelle der Therapie.

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