Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS) ist eine seltene, aber schwerwiegende Autoimmunerkrankung des Nervensystems, die sowohl im Kindes- als auch Jugendalter und bei Erwachsenen auftreten kann. Es handelt sich um eine entzündliche Erkrankung der Nerven, bei der das Immunsystem fälschlicherweise die Myelinschicht angreift, die die Nerven umgibt und für eine schnelle Signalübertragung verantwortlich ist. Diese Schädigung beeinträchtigt die Übertragung von Informationen, was zu verschiedenen neurologischen Symptomen führen kann.
Was ist das Guillain-Barré-Syndrom?
Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS), auch als akute inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (AIDP) oder akute idiopathische Polyneuritis bekannt, ist eine immunvermittelte Polyneuritis, bei der das körpereigene Immunsystem Strukturen des peripheren Nervensystems angreift. Pathophysiologisch kommt es zu einer multifokalen Demyelinisierung und/oder axonalen Schädigung im Bereich der Rückenmarkswurzeln und peripheren Nerven. Das Immunsystem greift dabei entweder das signalübertragende Axon oder die Myelinscheide an, welche die Nerven umhüllt und eine rasche Signalübertragung gewährleistet. Das autonome Nervensystem bleibt typischerweise unbeeinträchtigt.
Ursachen und Risikofaktoren
Die genaue Ursache des GBS ist derzeit nicht geklärt. Allerdings deuten Hinweise darauf hin, dass eine Immunreaktion gegen die eigenen Nerven vorliegt. Zu den am häufigsten GBS verursachenden Bakterien zählt Campylobacter jejuni mit 30 Prozent, während CMV (Herpesviren) zu den mit 10 Prozent häufigsten GBS auslösenden Viren zählen. Weitere mögliche Ursachen sind Impfungen wie etwa gegen Tetanus, Polio, Influenza oder Tollwut, Immuncheckpoint-Inhibitoren wie Nivolumab oder eine Schwangerschaft. Doch auch chirurgische Eingriffe, insbesondere orthopädische, gastrointestinale und kardiologische, können das Guillain-Barré-Syndrom hervorrufen.
Das GBS entwickelt sich typischerweise wenige Tage bis Wochen nach einer respiratorischen oder gastrointestinalen bakteriellen oder viralen Infektion, die eine aberrante Autoimmunreaktion auslöst. Als häufigster Risikofaktor gilt die Infektion mit Campylobacter jejuni, einem Bakterium, das Gastroenteritis mit Symptomen wie Übelkeit, Erbrechen und Diarrhoe verursacht. Als weitere gesicherte auslösende Erreger gelten in allen Altersstufen Cytomegalieviren, Epstein-Barr-Viren und Mycoplasma pneumoniae. Zusätzlich wurde ein erhöhtes GBS-Risiko nach Infektionen mit COVID-19, Zika-Virus sowie anderen viralen Erregern beobachtet.
Symptome des Guillain-Barré-Syndroms
Das Guillain-Barré-Syndrom ist gekennzeichnet durch plötzliches Einsetzen von Beschwerden. Diese reichen von Problemen beim Gehen über leichte Schmerzen bis hin zur Schwäche der Muskulatur, Kribbeln, Empfindungsverlust oder Lähmungen. Diese Symptome treten meist in den Beinen auf und breiten sich anschließend nach oben auf die Arme aus. Tritt das GBS auf, sind die Reflexe abgeschwächt oder fehlen gänzlich. Sobald die ersten Symptome auftreten, erreichen diese bei 90 Prozent der Betroffenen nach drei bis vier Wochen den Höhepunkt. Die Ausprägung der Symptome ist abhängig von den jeweils betroffenen Nerven.
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Die Schwäche beginnt meist in den Füßen und steigt symmetrisch aufwärts zu Beinen, Armen, Gesicht und schließlich zur Atemmuskulatur auf. Patient:innen bemerken zunächst unerwartete Schwierigkeiten beim Treppensteigen oder Gehen. Seltener beginnen die Symptome im Gesicht und breiten sich nach unten aus. Die meisten Patient:innen erreichen das Maximum der Schwäche innerhalb der ersten zwei Wochen, 90% sind bis zur dritten Woche an ihrem schwächsten Punkt. Charakteristisch sind abgeschwächte oder erloschene Muskeleigenreflexe. Aufgrund der Nervenschädigung empfängt das Gehirn abnorme sensorische Signale, was zu unerklärlichen, spontanen Empfindungen (Parästhesien) führt. Diese äußern sich als Kribbeln, Ameisenlaufen unter der Haut oder Schmerzen. Bis zu 50% der Patient:innen leiden unter heftigen neuralgischen Schmerzen ohne objektivierbare Sensibilitätsausfälle, gelegentlich bereits als Erstsymptom. Bei einigen Patient:innen entwickelt sich eine Hirnnervenbeteiligung mit Schwierigkeiten bei Augenbewegungen, Schlucken, Sprechen oder Kauen. Teilweise treten Ateminsuffizienz und/oder vegetative Symptome wie abnorme Herzfrequenz, Blutdruckveränderungen oder Verdauungs- und Blasenprobleme auf.
Diagnose des Guillain-Barré-Syndroms
Besteht durch die Symptomatik der Verdacht auf das Guillain-Barré-Syndrom, wird zur Diagnostik zunächst eine Anamnese erhoben und eine körperliche Untersuchung durchgeführt. Bemerkt die Ärztin oder der Arzt abgeschwächte oder fehlende Reflexe, erhärtet sich der Verdacht auf das GBS. Die Flüssigkeit des Gehirns und Rückenmarks im Wirbelkanal nennt sich Liquor und wird im Rahmen einer Lumbalpunktion entnommen und im Labor untersucht. Eine weitere Möglichkeit zur Diagnostik des Guillain-Barré-Syndroms ist die Messung der Nervenleitgeschwindigkeit. Bei einer Blutuntersuchung können die Autoantikörper unter Umständen nachgewiesen werden. Zudem lassen sich andere Erkrankungen ausschließen, die ähnliche Symptome aufweisen.
Die Diagnose des Guillain-Barré-Syndroms basiert auf einer kombinierten Bewertung anamnestischer, klinischer, liquordiagnostischer und elektrophysiologischer Befunde. Da GBS unterschiedlich beginnen kann und mehrere Erkrankungen ähnliche Symptome aufweisen, kann die Diagnosestellung in frühen Stadien herausfordernd sein.
- Notwendige Kriterien: Fortschreitende Schwäche mehr als einer Extremität über maximal 4 Wochen, Verlust mindestens der distalen Muskeleigenreflexe, Ausschluss alternativer Ursachen mit angemessenen Mitteln.
- Unterstützende Kriterien: Relative Symmetrie der Paresen, Hirnnervenbeteiligung, nur milde sensorische Symptome, Erholung nach 1-4-wöchiger Plateauphase, autonome Dysregulation, kein Fieber bei Beginn der Neuropathie.
Typisch ist eine „zyto-albuminäre Dissoziation“ mit erhöhter Liquoreiweißkonzentration bei normaler Zellzahl. Bei initial normalem Befund kann die Punktion nach sieben bis zehn Tagen wiederholt werden. Die elektrophysiologische Diagnostik ist zur Diagnosesicherung und Variantenunterscheidung unverzichtbar. Sie misst die Nervenleitfähigkeit, die bei GBS aufgrund der Myelinschädigung verlangsamt ist. Bei initial normalen Befunden kann die Untersuchung nach einer bis zwei Wochen wiederholt werden.
Behandlung des Guillain-Barré-Syndroms
Der Verlauf des Guillain-Barré-Syndroms kann unterschiedlich sein, sodass es sowohl beim Verlauf als auch bei der Prognose keine genaue Leitlinie gibt. Bei etwa zwei Dritteln der Betroffenen erscheinen erste Symptome eines GBS innerhalb von fünf Tagen bis drei Wochen nach einer Infektion, Operation oder Impfung. Die dadurch hervorgerufene Schwäche nimmt anschließend innerhalb von drei bis vier Wochen zu und kann entweder für einige Zeit bestehen bleiben oder aber zurückgehen und verschwinden. Ein Zunehmen der Symptome für mehr als acht Wochen deutet allerdings nicht auf das Guillain-Barré-Syndrom hin, sondern auf eine chronische inflammatorische demyelinisierende Polyradikuloneuropathie (CIDP). Nach etwa zwei Monaten kommt das Fortschreiten der Erkrankung zum Stillstand. Wird das Syndrom früh behandelt, tritt meist innerhalb von Tagen oder Wochen Besserung ein. Ohne Behandlung dauert eine Heilung bei den meisten Betroffenen einige Monate. Etwa drei Prozent der Patientinnen und Patienten versterben an plötzlichen Komplikationen wie Atemlähmungen, Lungenembolien oder kardialen Arrhythmien.
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Da sich die Anzeichen und Beschwerden des Guillain-Barré-Syndroms schnell verschlimmern können und es in manchen Fällen lebensbedrohlich werden kann, sollten Betroffene umgehend eine Fachärztin bzw.
Derzeit existiert keine kausale Heilung für das Guillain-Barré-Syndrom. Jedoch können spezifische immunmodulierende Therapien den Schweregrad reduzieren und die Erholungszeit verkürzen. Die Behandlung umfasst akute immunmodulierende Maßnahmen sowie umfassende supportive Therapie. Eine Indikation für Intravenöse Immunglobuline oder Plasmapherese besteht bei mäßig schwerem bis schwerem Verlauf innerhalb einer maximalen Krankheitsdauer von vier Wochen. Beide Verfahren sind als gleichwertig anzusehen, die Entscheidung erfolgt nach Verfügbarkeit, Gesamtsituation der Patient:innen und zu erwartenden Nebenwirkungen. Glukokortikosteroide sind nicht wirksam und sollen nicht gegeben werden, da sie sogar für die Erholung hinderlich sein können. Patient:innen werden stationär, idealerweise intensivmedizinisch überwacht, da Atemversagen auftreten kann und mechanische Beatmung erforderlich werden könnte. Störungen des autonomen Nervensystems erfordern kontinuierliches Monitoring von Herzfrequenz, Blutdruck und anderen Vitalfunktionen. Bei Schluckstörungen sind spezielle Maßnahmen zur Aspirationsprophylaxe notwendig.
Immunmodulierende Therapien
- Intravenöse Immunglobuline (IVIG): Dies sind Proteine, die aus dem Blutplasma von Spendern gewonnen werden und das Immunsystem modulieren können. IVIG hilft, die Entzündung im Nervensystem zu reduzieren und die Symptome zu lindern. Sie werden in einer Dosierung von 0,4 g/kg Körpergewicht/Tag an fünf aufeinanderfolgenden Tagen empfohlen. Der genaue Wirkmechanismus der Immunglobuline beim GBS ist letztlich unbekannt. Mögliche Wirkungen umfassen unter anderem die Hemmung pathogener Autoantikörper durch in der Immunglobulinlösung enthaltenen sogenannten antiidiotypischen Antikörper, Hemmung der Antikörproduktion von B-Zellen, kompetitive Hemmung von Makrophagen durch Blockade ihrer Fc-Rezeptoren und Beeinflussung der T-Zellaktivierung durch lösliche Faktoren.
- Plasmapherese (Plasmaaustausch): Bei dieser Behandlung wird das Blut des Patienten aus dem Körper entnommen, das Plasma, das entzündliche Substanzen und schädliche Antikörper enthält, entfernt und durch frisches Plasma oder eine Plasmaersatzlösung ersetzt. Die Indikation zum Plasmaaustausch besteht bei gesicherter Diagnose mit schwerem Verlauf. Der Erkrankungsgipfel sollte noch nicht erreicht sein und der Erkrankungsbeginn nicht länger als 14 Tage zurückliegen. Eine akute Infektion oder gar eine Sepsis müssen ausgeschlossen werden. Der Plasmaaustausch wird durch Zellseparation oder Membranfiltration durchgeführt. Es sollen humorale Faktoren, wie Antikörper, Komplement- und Entzündungsmediatoren, die den immunpathogenetischen Prozeß beim GBS unterhalten, weitgehend aus dem Blutplasma entfernt werden.
- Immunadsorption: Bei der Immunadsorption wird das mechanisch separierte Blutplasma über eine Adsorbersäule gepumpt, an die Proteine und zirkulierende Antikörper gebunden werden. Das Plasma wird dem Patienten direkt reinfundiert. Eine Substitution mit Fremdeiweiß ist daher nicht erforderlich. Im Vergleich zur Plasmaaustauschbehandlung gilt die selektive Adsorption als weniger belastend und nebenwirkungsärmer. In ihrer therapeutischen Wirksamkeit scheint die Immunadsorption der Plasmaaustauschbehandlung vergleichbar zu sein.
Supportive Therapie
Patient:innen werden stationär, idealerweise intensivmedizinisch überwacht, da Atemversagen auftreten kann und mechanische Beatmung erforderlich werden könnte. Störungen des autonomen Nervensystems erfordern kontinuierliches Monitoring von Herzfrequenz, Blutdruck und anderen Vitalfunktionen. Bei Schluckstörungen sind spezielle Maßnahmen zur Aspirationsprophylaxe notwendig.
Rehabilitation
Eine Rehabilitationsbehandlung ist nach GBS erforderlich. In der Reha-Phase ist eine Physiotherapie wichtig, um die Muskeln zu stärken und die Mobilität zu verbessern. Als Chefarzt einer neurologischen Rehabilitationsklinik liegt der Schwerpunkt bei Patientinnen und Patienten mit Guillain-Barré-Syndrom auf der gezielten Wiederherstellung motorischer Funktionen.
Prognose und Heilung
Ja, das Guillain-Barré-Syndrom ist in den meisten Fällen heilbar. Allerdings erreichen in der Regel die Beschwerden des Guillain-Barré-Syndroms ihren Höhepunkt innerhalb von vier Wochen und bilden sich anschließend wieder zurück. Die meisten Patient:innen erholen sich vollständig, wobei die Genesung von wenigen Wochen bis zu mehreren Jahren dauern kann. Manche behalten langfristige Schwäche, Taubheitsgefühle, Fatigue oder Schmerzen zurück. Psychologische Unterstützung kann bei der Bewältigung der emotionalen Belastung hilfreich sein.
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Das Ausmaß der Remission hängt in erster Linie von dem Schweregrad der Axondegeneration mit entsprechenden Muskelatrophien ab. Als ungünstige prognostische Faktoren sind höheres Lebensalter, rascher und schwerer Beginn sowie die Notwendigkeit zur künstlichen Beatmung zu werten. Wenngleich die Prognose als gut bezeichnet wird, kommt es nur bei etwa 15 Prozent zu einer vollständigen Rückbildung der Symptome. Etwa zwei Drittel der Patienten behalten leichte neurologische Defizite, wie Fußheberschwäche oder distale Hypästhesien, die das alltägliche Leben nicht wesentlich behindern. Funktionell beeinträchtigende Paresen oder Sensibilitätsstörungen bleiben bei etwa 10 bis 15 Prozent der Patienten bestehen. Nach Einführung der intensivmedizinischen Therapiemaßnahmen sterben noch etwa 2 bis 6 Prozent an interkurrenten Infekten und Komplikationen thrombembolischer, kardiovaskulärer Zwischenfälle.
Weitere Therapieansätze
- Vitamine und Omega-3-Fettsäuren: Ein niedriger Folatspiegel könnte mit einem Guillain-Barré-Syndrom zusammenhängen. In Sachen Vitamin D gibt es unterschiedliche Studienergebnisse, solche, in denen kein Zusammenhang zwischen dem Vitamin-D-Status entdeckt wurde, aber auch solche, in denen sich zeigte, dass Menschen mit Neuropathien (u. a. aufgrund von Diabetes) eher einen Vitamin-D-Mangel aufweisen. Allerdings wäre es sinnvoll, generell gut mit Omega-3-Fettsäuren versorgt zu sein, also nicht erst im Krankheitsfall mit der Einnahme zu beginnen.
- Probiotika: Bifidobacterium infantis ist auch jenes Bakterium, das bei einer Histaminintoleranz helfen kann und daher häufig in probiotischen Präparaten enthalten ist, die für eine Linderung dieser Unverträglichkeit empfohlen werden.
- Acetyl-L-Carnitin (ALC): ALC zeigt bei Patienten mit peripheren Neuropathien unterschiedlicher Ursachen eine neuroprotektive (nervenschützende) und auch eine antinozizeptive Wirkung.
- Akupunktur: Auch Akupunktur könnte in die Therapie des Guillain-Barré-Syndroms integriert werden.