Neurologie und Psychiatrie: Unterschiede und Gemeinsamkeiten

Psychische Erkrankungen sind in Europa weit verbreitet. Laut dem Grünbuch der EU-Kommission zur psychischen Gesundheit sind jährlich mehr als 27 Prozent der erwachsenen Europäer davon betroffen. Angststörungen und Depressionen sind die häufigsten Erkrankungen. Am Beispiel der unipolaren Depression wies der Epidemiologe Prof. Dr. Hans-Ulrich Wittchen, Dresden, auf die weite Kluft zwischen dem Behandlungsbedarf und der Versorgungsrealität hin. Sieben Prozent der Europäer litten daran, aber nur ein Drittel bis die Hälfte werde behandelt, sagte er bei einem Symposium der Bundespsychotherapeutenkammer zum Thema „Psychotherapie in Europa“. Zwischen drei und acht Prozent der Betroffenen werden pharmakologisch oder minimal mit psychotherapeutischen Interventionen behandelt. Psychotherapie erhielten nur zwei bis drei Prozent. In keinem Land Europas reicht das zur Verfügung stehende Angebot an Psychotherapie aus.

Die Psychiatrie und die Neurologie sind zwei medizinische Fachgebiete, die sich mit Erkrankungen des Nervensystems befassen. Obwohl sie eng miteinander verbunden sind, weisen sie deutliche Unterschiede in ihren Schwerpunkten, Ansätzen und Behandlungsmethoden auf. Dieser Artikel beleuchtet die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen diesen beiden Disziplinen, um ein umfassendes Verständnis ihrer jeweiligen Rollen in der medizinischen Versorgung zu ermöglichen.

Gemeinsame Basis: Das Nervensystem

Sowohl die Neurologie als auch die Psychiatrie haben ihren Ursprung in der Medizin und teilen eine gemeinsame Basis im Verständnis des Nervensystems. Die Psychiatrie ist in unserem Kulturkreis ein Teilgebiet der Medizin, und psychische Störungen werden als Dysfunktionen des Zentralnervensystems (ZNS) verstanden. Mit dem Wissen über die Funktionsweise des Gehirns teilt die Psychiatrie insofern mit der Neurologie die medizinisch-naturwissenschaftliche Basis ihres Fachgebietes. Beide Fachgebiete beschäftigen sich mit der Diagnose und Behandlung von Erkrankungen, die das Gehirn, das Rückenmark und die peripheren Nerven betreffen. Dazu gehören beispielsweise:

  • Erkrankungen des Gehirns: Schlaganfälle, Tumore, Entzündungen (Enzephalitis, Meningitis)
  • Erkrankungen des Rückenmarks: Querschnittslähmung, Multiple Sklerose
  • Erkrankungen der peripheren Nerven: Polyneuropathie, Karpaltunnelsyndrom

Die enge Verbindung beider Fachgebiete zeigt sich auch in der Konsiliar- und Liaisonpsychiatrie, bei der ein Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Patienten auf allgemeinen (nichtpsychiatrischen) Stationen eines Krankenhauses bzw. Spitals mitbehandelt. Während in der Koniliarpsychiatrie ein externer Psychiater in den Behandlungsprozess eines Patienten mit einbezogen wird, versteht man unter Liaisonpsychatrie eine interdisziplinäre Zusammenarbeit innerhalb eines Teams aus verschiedenen Ärzten, u.a. eines Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie. Im Bereich der KL-Psychiatrie wird der Begriff verwendet, wenn sich ständige und formelle Kontakte (Teilnahme an Visiten, Rapporten oder Spezialsprechstunden) wie auch intensivere informelle Kontakte zwischen den Psychiatern und den somatisch tätigen Ärzten ergeben. Ziel der gemeinsamen Arbeit und des intensiven Austauschs ist das frühzeitige Erkennen möglicher psychischer Beeinträchtigungen und in der Folge die Verbesserung des Behandlungsergebnisses und der -effizienz.

Unterschiede in Fokus und Methodik

Trotz der gemeinsamen Basis gibt es wesentliche Unterschiede zwischen Neurologie und Psychiatrie:

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  • Fokus: Die Neurologie konzentriert sich hauptsächlich auf organische Erkrankungen des Nervensystems, die auf strukturelle oder funktionelle Veränderungen zurückzuführen sind. Die Psychiatrie hingegen befasst sich mit psychischen Erkrankungen, die sich in erster Linie in Veränderungen des Denkens, Fühlens und Verhaltens äußern.
  • Diagnostik: Neurologen setzen häufig bildgebende Verfahren wie MRT (Magnetresonanztomographie) oder CT (Computertomographie) sowie elektrophysiologische Untersuchungen (EEG, EMG) ein, um organische Ursachen für neurologische Symptome zu finden. Psychiater stützen sich stärker auf klinische Gespräche, Beobachtungen und psychologische Tests, um psychische Störungen zu diagnostizieren. Die Erhebung psychiatrisch relevanter Informationen stützt sich überwiegend auf teilstrukturierte ärztliche Untersuchungen wie den psychopathologischen Befund, die Eigen- und die Fremdanamnese. Eine in der Psychiatrie oft angewandte weitere Art der Datengewinnung benutzt Fragebögen mit Selbst- und Fremdratingskalen sowie testpsychologische Verfahren. Daneben nimmt die Bedeutung messbarer biologischer Parameter ständig zu.
  • Therapie: In der Neurologie stehen medikamentöse Behandlungen (z.B. bei Epilepsie oder Multipler Sklerose) und interventionelle Verfahren (z.B. Operationen bei Tumoren oder Gefäßerkrankungen) im Vordergrund. Die Psychiatrie setzt neben Medikamenten (z.B. Antidepressiva oder Antipsychotika) vor allem auf Psychotherapie, um psychische Probleme zu behandeln. Psychotherapie bedeutet übersetzt „Behandlung der Seele“ oder Behandlung von seelischen Problemen. Es leitet sich aus dem Altgriechischen „Psyche“ ab, was so viel bedeutet wie Seele, Hauch, Atem.

Psychosomatik als Bindeglied

Die Psychosomatik stellt ein wichtiges Bindeglied zwischen Neurologie und Psychiatrie dar. Unter Psychosomatik wird eine Betrachtungsweise von Gesundheit und Krankheit in der Medizin verstanden, die den Menschen als eine einzigartige geistig-seelisch-sozial-körperliche Einheit versteht. Sie betont beim Vorliegen von körperlichen Störungen die Berücksichtigung von geistig-seelischen und sozialen Faktoren für das Verständnis von Krankheitsentwicklung und Heilung und geht bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Krankheiten von einem biopsychosozialen Krankheitsmodell aus. Damit werden Krankheit und Gesundheit nicht als zwei unterschiedliche Zustände angesehen, sondern sie stehen in enger dynamischer Wechselwirkung zueinander. Die Psychosomatik berücksichtigt die Wechselwirkungen zwischen körperlichen und psychischen Faktoren bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Krankheiten. Viele körperliche Erkrankungen können durch psychische Belastungen verstärkt oder sogar ausgelöst werden. Umgekehrt können körperliche Erkrankungen auch psychische Symptome verursachen.

Derzeit werden zwei Zugänge zur Psychosomatik unterschieden: eine tiefenpsychologische Perspektive, die auf den Annahmen der Psychoanalyse aufbaut und einen eher verstehenden und deutenden Zugang hat und eine empirisch-naturwissenschaftliche Perspektive, die weitestgehend dem Begriff der Verhaltensmedizin entspricht. Nach der empirisch-naturwissenschaftlichen Perspektive sind Gesundheit und Krankheit keine zwei voneinander trennbaren Begriffe, sondern bilden eine Gesamtheit, die in enger Wechselwirkung steht.

Die Rolle von Psychiatern, Psychologen und Psychotherapeuten

Bei seelischen Beschwerden oder Erkrankungen suchen viele Menschen einen Experten, der ihnen hilft. Dabei steht man schnell vor dem Problem: Psychiater, Psychologe oder Psychotherapeut? Drei Begriffe, die nicht so leicht auseinanderzuhalten sind. Ein Psychologe hat Psychologie studiert. Psychiater und Psychologen sind Experten der seelischen Gesundheit. Beide dürfen mit einer entsprechenden Weiterbildung als Psychotherapeuten arbeiten und Menschen mit psychischen Problemen behandeln.

  • Psychiater: Psychiater haben ein Medizinstudium absolviert und sich anschließend auf die Diagnose und Behandlung psychischer Erkrankungen spezialisiert. Sie können Medikamente verschreiben und Psychotherapie anbieten. Nach dem Medizinstudium folgt eine mehrjährige Facharztausbildung in der Psychiatrie und Psychotherapie. Nach bestandener Facharztprüfung gelten sie als Psychiater und können auch als ärztliche Psychotherapeuten arbeiten.
  • Psychologen: Psychologen haben ein Studium der Psychologie abgeschlossen. Sie können psychologische Tests durchführen, Beratungen anbieten und Psychotherapie durchführen, wenn sie eine entsprechende Weiterbildung absolviert haben. Sie dürfen jedoch keine Medikamente verschreiben. Sie beschäftigen sich also mit dem Lernen und Verhalten der Menschen, mit ihren Gefühlen und Gedanken. Dieses versuchen sie zu beschreiben, zu erklären, vorherzusagen oder ggf. zu ändern. Nach dem Abschluss können Psychologen z. B. in Personalabteilungen, Schulen, als Coaches oder in der Forschung arbeiten.
  • Psychotherapeuten: Psychotherapeuten sind Experten für die Behandlung psychischer Probleme. Sie können entweder Ärzte (Psychiater oder andere Fachärzte mit psychotherapeutischer Weiterbildung) oder Psychologen mit einer Zusatzausbildung in Psychotherapie sein. Nicht jeder darf eine Psychotherapie durchführen. In Deutschland ist die Berufsbezeichnung Psychotherapeut rechtlich geschützt.

Interdisziplinäre Zusammenarbeit für eine optimale Versorgung

Eine optimale Versorgung von Patienten mit neurologischen oder psychischen Erkrankungen erfordert oft eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Neurologen, Psychiatern, Psychologen und anderen Fachleuten. Zum Teil kommt es vor, dass Patientinnen oder Patienten von zwei Fachleuten betreut werden, sowohl von einem Psychiater als auch von einem Psychologen. Der eine übernimmt die medikamentöse und der andere die psychotherapeutische Seite der Behandlung. Wichtig ist in solchen Fällen, dass alle Parteien Kenntnis voneinander haben und zusammenwirken. Durch die Kombination ihrer jeweiligen Kompetenzen können sie eine umfassende Diagnose stellen und einen individuellen Behandlungsplan entwickeln, der sowohl die körperlichen als auch die psychischen Aspekte der Erkrankung berücksichtigt.

Genetische Gemeinsamkeiten psychiatrischer Störungen

Die Forschung hat gezeigt, dass verschiedene psychiatrische Störungen genetische Gemeinsamkeiten aufweisen können. Eine internationale Studie untersuchte das Ausmaß genetischer Gemeinsamkeiten zwischen fünf psychiatrischen Erkrankungen, die in der Bevölkerung besonders häufig vorkommen: Schizophrenie, Bipolare Störung, Majore Depression, Autismus und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Die Ergebnisse zeigen eine starke genetische Korrelation zwischen Schizophrenie und Bipolarer Störung. Deutlich, wenn auch weniger stark, ist die Überlappung zwischen der Majoren Depression mit Bipolaren Störungen und Schizophrenie sowie zwischen Bipolarer Störung und ADHS.

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Im Rahmen der Studie wurden etwa eine Million variable Stellen im Genom, sogenannte „Single Nucleotide Polymorphisms“ (SNPs), bei mehr als 75.000 Personen miteinander verglichen. Untersucht wurden Patienten mit Schizophrenie, Bipolarer Störung, Majorer Depression, Autismus, ADHS sowie gesunde Kontrollpersonen. Die Wissenschaftler fanden heraus, dass es zwischen Schizophrenie und Bipolarer Störung eine besonders starke Ähnlichkeit im Muster der SNPs gibt. Dies weist darauf hin, dass es einen hohen Anteil von gemeinsamen genetischen Faktoren für diese beiden psychiatrischen Störungen gibt. Hinweise auf eine signifikante Überlappung der beteiligten genetischen Faktoren gab es auch zwischen Bipolarer Störung und Majorer Depression, sowie auch zwischen Schizophrenie und Majorer Depression. Die Ergebnisse liefern einen bedeutenden Beitrag zum Verständnis dieser in der Bevölkerung häufigen neuropsychiatrischen Krankheiten. Sie belegen biologische Gemeinsamkeiten bislang diagnostisch abgegrenzter Störungen und geben Impulse bei der Suche kausaler Krankheitsklassifikation.

Neurologie und Psychiatrie in der DDR: Eine getrennte Entwicklung

Die Entwicklung der Neurologie im geteilten Deutschland verlief nach 1945 äußerst divergent: Während sich in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) spätestens ab Anfang der 1960er-Jahre klare Autonomiebestrebungen und eine zunehmende Abgrenzung gegenüber der Psychiatrie zeigen, blieben in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) beide Fächer, nicht zuletzt aus ideologischen Gründen, eng miteinander verbunden. Erst Anfang der 1980er-Jahre führte die zunehmende Profilierung und Spezialisierung der Neurologie zur Sektionsbildung in der Fachgesellschaft für Psychiatrie und Neurologie und so zur Emanzipation des Fachs. Eigenständige Kliniken etablierten sich zumeist erst nach 1990.

Die systematische Literaturrecherche für den 30-jährigen Zeitraum ergab mit 44 Beiträgen eine geringe Zahl von Veröffentlichungen zur Neurologie in der DDR, die sich inhaltlich zudem teilweise stark überschneiden. Damit wurde die Vorannahme bestätigt, dass ein nationaler sowie vergleichend internationaler medizinhistorischer Forschungsbedarf besteht. In Rostock finden sich mit der Schaffung des ersten separaten neurologischen Lehrstuhls (1958) und in Leipzig mit der Einrichtung der DDR-weit einzigen rein neurologischen Universitätsklinik (1965) Hinweise für eine beginnende frühe Eigenständigkeit, die auch zu einer schärferen fachlichen Abgrenzung gegenüber der Psychiatrie führte. In Greifswald hingegen bestand durchgängig eine verbundene Klinik.

Von insgesamt 24 Veröffentlichungen der Kategorie Fächerdifferenzierung fokussiert eine ganze Reihe auf Abgrenzungstendenzen zwischen Neurologie und Psychiatrie. In der Kategorie Fachgesellschaften und Fachzeitschriften finden sich Arbeiten über die einzige Fachzeitschrift, die zugleich als Mitteilungsorgan der Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie der DDR fungierte, wodurch von einer engen Verzahnung zwischen der Fachgesellschaft und der Schriftleitung der Zeitschrift ausgegangen werden muss.

Mit der zunehmenden politisch-ideologischen Einflussnahme der SED-Verantwortlichen (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) wurden die gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und legislativen Rahmenbedingungen für zentralistisch organisierte Strukturen im Gesundheits- und Hochschulwesen mit der entsprechenden Kaderpolitik geschaffen. Als Mittel der Beeinflussung finden sich Zensur sowie das ideologiegeleitete Präferieren wissenschaftlicher Inhalte. Ein wichtiger Aspekt der ideologischen Einflussnahme zeigt sich in dem auch spezifisch auf die Neurologie zielenden Versuch der Etablierung des „Pawlowismus“, der in der DDR vor allem in den 1950er-Jahren propagiert wurde und als Versuch zu verstehen ist, die Forschung stärker am Vorbild der sowjetischen Wissenschaften zu orientieren.

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