ALS und Multiple Sklerose: Ein Vergleich zweier neurologischer Erkrankungen

Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) und Multiple Sklerose (MS) sind beides neurologische Erkrankungen, die das zentrale Nervensystem (ZNS) betreffen. Obwohl sie einige ähnliche Symptome aufweisen können, handelt es sich um unterschiedliche Krankheiten mit unterschiedlichen Ursachen, Verläufen und Behandlungsmethoden. Dieser Artikel beleuchtet die wichtigsten Unterschiede zwischen ALS und MS.

Was ist Multiple Sklerose?

Multiple Sklerose (MS), auch Encephalomyelitis disseminata genannt, ist eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), von der weltweit Millionen von Menschen betroffen sind. Das ZNS umfasst das Gehirn, das Rückenmark und den Sehnerv. Bei MS greift das Immunsystem fälschlicherweise die Myelinscheide an, eine Schutzschicht, die die Nervenfasern umgibt. Diese Schädigung der Myelinscheide (Demyelinisierung) stört die Signalübertragung zwischen dem Gehirn und anderen Körperteilen.

Verlaufsformen der MS

Es gibt verschiedene Verlaufsformen der MS, die sich in ihrem Fortschreiten und ihren Symptomen unterscheiden:

  • Schubförmig remittierende MS (RRMS): Dies ist die häufigste Form, bei der Symptome in Schüben auftreten, gefolgt von Phasen der teilweisen oder vollständigen Erholung (Remission). Über 85 bis 90 % der Patienten beginnen mit dieser Verlaufsform.
  • Primär progrediente MS (PPMS): Bei dieser Form schreitet die Erkrankung von Anfang an stetig fort, ohne deutliche Schübe oder Remissionen. Sie betrifft etwa 10 bis 15 % der MS-Erkrankten.
  • Sekundär progrediente MS (SPMS): Diese Form entwickelt sich aus der RRMS, wobei die Schübe allmählich in eine fortschreitende Verschlechterung übergehen. Ungefähr jeder dritte MS-Patient in Deutschland hat die Verlaufsform SPMS oder befindet sich im Übergang zur SPMS.
  • Klinisch isoliertes Syndrom (KIS): Hierbei handelt es sich um die ersteEpisode neurologischer Symptome, die auf MS hindeuten, aber noch nicht alle Diagnosekriterien erfüllen. Ein KIS kann in eine RRMS übergehen, muss es aber nicht.

Ursachen der MS

Die genauen Ursachen von MS sind noch nicht vollständig geklärt. Es wird angenommen, dass eine Kombination aus genetischer Veranlagung und Umweltfaktoren eine Rolle spielt. Eine Hypothese besagt, dass ein unbekanntes Virus oder ein Krankheitserreger die Autoimmunreaktion auslöst, die die Myelinscheide angreift.

Symptome der MS

Die Symptome der MS sind vielfältig und können von Person zu Person stark variieren, abhängig davon, welche Bereiche des ZNS betroffen sind. Häufige Symptome sind:

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  • Sehstörungen (z.B. verschwommenes Sehen, Doppeltsehen, Sehnerventzündung)
  • Gefühlsstörungen (z.B. Kribbeln, Taubheit, Schmerzen)
  • Muskelschwäche und -steifheit
  • Koordinations- und Gleichgewichtsstörungen (Ataxie, unsicherer Gang)
  • Fatigue (extreme Müdigkeit)
  • Blasen- und Darmfunktionsstörungen
  • Kognitive Beeinträchtigungen (z.B. Gedächtnisstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten)
  • Emotionale Beschwerden (z.B. Angst, Depression)

Diagnose der MS

Die Diagnose von MS basiert auf einer Kombination aus klinischer Untersuchung, Anamnese, neurologischen Tests und bildgebenden Verfahren wie der Magnetresonanztomographie (MRT). Typische Veränderungen im Nervenwasser (Liquor) können ebenfalls auf MS hindeuten. Die Diagnosekriterien umfassen den Nachweis von Läsionen im ZNS, die über die Zeit und an verschiedenen Orten auftreten.

Therapie der MS

MS ist derzeit nicht heilbar, aber es gibt verschiedene Behandlungsmöglichkeiten, um die Symptome zu lindern, die Schübe zu reduzieren und das Fortschreiten der Erkrankung zu verlangsamen.

  • Schubtherapie: Bei akuten Schüben werden häufig Kortikosteroide eingesetzt, um die Entzündung zu reduzieren und die Symptome zu lindern. In schweren Fällen kann eine Plasmapherese oder Immunadsorption erforderlich sein.
  • Langzeittherapie: Verschiedene immunmodulatorische Medikamente können eingesetzt werden, um die Häufigkeit und Schwere der Schübe zu reduzieren und das Fortschreiten der Erkrankung zu verlangsamen. Zu diesen Medikamenten gehören Interferone, Glatirameracetat, monoklonale Antikörper und orale Immunmodulatoren.
  • Symptomatische Therapie: Medikamente und andere Therapien können eingesetzt werden, um spezifische Symptome wie Spastik, Schmerzen, Fatigue, Blasenfunktionsstörungen und Depressionen zu behandeln.
  • Rehabilitation: Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie können helfen, dieFunktion und Lebensqualität zu verbessern.

Was ist Amyotrophe Lateralsklerose (ALS)?

Die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine fortschreitende neurodegenerative Erkrankung, die die motorischen Nervenzellen (Motoneuronen) im Gehirn und Rückenmark angreift. Diese Nervenzellen sind für die Steuerung der willkürlichen Muskelbewegungen verantwortlich. Durch den Abbau der Motoneuronen kommt es zu Muskelschwäche, Muskelschwund (Atrophie) und schließlich zu Lähmungen.

Ursachen der ALS

Die Ursachen der ALS sind in den meisten Fällen (ca. 90 %) unbekannt (sporadische ALS). In etwa 10 % der Fälle ist die ALS erblich bedingt (familiäre ALS) und wird durch Mutationen in bestimmten Genen verursacht.

Symptome der ALS

Die Symptome der ALS können je nach betroffenem Bereich des Nervensystems variieren. Häufige Symptome sind:

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  • Muskelschwäche und -steifheit, beginnend in den Armen, Beinen oder der Sprechmuskulatur
  • Muskelschwund (Atrophie)
  • Unwillkürliche Muskelzuckungen (Faszikulationen)
  • Schwierigkeiten beim Sprechen (Dysarthrie) und Schlucken (Dysphagie)
  • Atembeschwerden (Dyspnoe) im fortgeschrittenen Stadium
  • Kognitive und Verhaltensänderungen (in einigen Fällen)

Im Gegensatz zur MS sind die Sinnesfunktionen (Berührung, Schmerz, Temperatur), das Sehen, Hören, Riechen und Schmecken sowie die Funktionen von Blase und Darm in den meisten Fällen nicht betroffen.

Diagnose der ALS

Die Diagnose der ALS basiert auf einer neurologischen Untersuchung, Elektromyographie (EMG) zur Messung der Muskelaktivität und bildgebenden Verfahren wie der Magnetresonanztomographie (MRT), um andere Erkrankungen auszuschließen. Die Diagnose kann schwierig sein, da es keine spezifischen Tests für ALS gibt und die Symptome denen anderer neurologischer Erkrankungen ähneln können.

Therapie der ALS

ALS ist derzeit nicht heilbar. Die Behandlung zielt darauf ab, die Symptome zu lindern, die Lebensqualität zu verbessern und den Krankheitsverlauf zu verlangsamen.

  • Riluzol: Dies ist das einzige Medikament, das in Deutschland zur Behandlung der ALS zugelassen ist. Es kann den Krankheitsverlauf möglicherweise um einige Monate verlängern.
  • Edaravon: Ein weiteres Medikament, das in einigen Ländern zur Behandlung der ALS zugelassen ist und möglicherweise den Krankheitsverlauf verlangsamen kann.
  • Symptomatische Therapie: Medikamente und andere Therapien können eingesetzt werden, um spezifische Symptome wie Muskelkrämpfe, Spastik, Schmerzen, Depressionen und Schlafstörungen zu behandeln.
  • Unterstützende Maßnahmen: Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie und Ernährungsberatung können helfen, dieFunktion und Lebensqualität zu verbessern. Im fortgeschrittenen Stadium kann eine Beatmung erforderlich sein, um die Atmung zu unterstützen.

Unterschiede zwischen ALS und MS im Überblick

MerkmalAmyotrophe Lateralsklerose (ALS)Multiple Sklerose (MS)
Betroffene ZellenMotorische Nervenzellen (Motoneuronen) im Gehirn und RückenmarkMyelinscheide der Nervenfasern im Gehirn, Rückenmark und Sehnerv
Art der ErkrankungNeurodegenerative ErkrankungAutoimmunerkrankung
UrsachenMeist unbekannt (sporadisch), in etwa 10% der Fälle genetisch bedingt (familiär)Vermutlich Kombination aus genetischer Veranlagung und Umweltfaktoren
Typisches Alter bei Diagnose40 bis 70 Jahre20 bis 40 Jahre
GeschlechtMänner sind etwas häufiger betroffenFrauen sind zwei- bis dreimal häufiger betroffen als Männer
SymptomeMuskelschwäche, Muskelschwund, unwillkürliche Muskelzuckungen, Schwierigkeiten beim Sprechen und Schlucken, Atemprobleme; Sinnesfunktionen sind meist nicht betroffenVielfältig, u.a. Sehstörungen, Gefühlsstörungen, Muskelschwäche, Koordinationsstörungen, Fatigue, Blasen- und Darmfunktionsstörungen, kognitive Beeinträchtigungen; Symptome variieren je nach betroffenem Bereich des ZNS
VerlaufProgressiv, keine RemissionenSchubförmig (RRMS), progredient (PPMS, SPMS) oder klinisch isoliertes Syndrom (KIS); Verlauf ist variabel
LebenserwartungVerkürzt, meist 3 bis 5 Jahre nach DiagnoseIn der Regel normale Lebenserwartung, aber die Lebensqualität kann stark eingeschränkt sein
BehandlungRiluzol, Edaravon, symptomatische Therapie, unterstützende Maßnahmen (Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, Ernährungsberatung, Beatmung)Schubtherapie (Kortikosteroide, Plasmapherese), Langzeittherapie (immunmodulatorische Medikamente), symptomatische Therapie, Rehabilitation
HeilungNicht heilbarNicht heilbar

Fortschritte in der MS-Forschung

Eine aktuelle Studie der Universität Münster hat einen Durchbruch beim Verständnis der MS erzielt. Die Forscher identifizierten drei Subtypen der MS auf Zellebene, die jeweils durch ein spezifisches Profil von Immunzellen im Blut gekennzeichnet sind und mit unterschiedlichen Krankheitsverläufen assoziiert sind. Diese Erkenntnisse könnten zu einer personalisierten Behandlung von MS-Patienten führen, die effektiver ist und weniger Nebenwirkungen hat.

Die Studie unterscheidet drei Typen der immunologischen Aktivierung:

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  • Entzündliche MS: Patienten leiden unter mehr Krankheitsschüben und zeigen Läsionen, die auf eine Fehlfunktion der Blut-Hirn-Schranke hinweisen.
  • Degenerative MS: Patienten sind von Anfang an schwerer betroffen und die Behinderung schreitet schneller voran. Es finden sich winzige Löcher in der Hirnsubstanz.
  • Dritter Subtyp: Dieser ist noch nicht im Detail erforscht.

Diese Ergebnisse könnten dazu beitragen, die Suche nach dem individuell richtigen Wirkstoff zu beschleunigen und besser einschätzen zu können, ob schwere Nebenwirkungen auftreten.

Neuromyelitis optica Spektrum-Erkrankung (NMOSD)

Lange Zeit wurde die Neuromyelitis optica (NMO), auch Devic-Syndrom genannt, als seltene Sonderform der MS betrachtet. Im Jahr 2004 konnten Forscher einen spezifischen Antikörper gegen den Wasserkanal Aquaporin-4 identifizieren, was die Abgrenzung zur MS erlaubte und die Diagnostik und Therapie grundlegend änderte. Wie die MS kann auch die Neuromyelitis optica in verschiedenen Formen auftreten und wird daher seit Einführung der neuen Diagnosekriterien von 2015 Neuromyelitis optica Spektrum-Erkrankung (abgekürzt NMOSD von englisch Neuromyelitis optica spectrum disorder) genannt.

Gemeinsam ist beiden Erkrankungen, dass sie in der Regel schubförmig verlaufen und bei der NMOSD oft - aber nicht immer - ähnliche Symptome wie bei der MS auftreten können. Diagnostiziert wird die NMOSD aufgrund spezifischer Blut-, seltener auch Liquormerkmale, und typischer Befunde in der klinischen Untersuchung und der Kernspintomographie.

Therapieprinzipien - Unterschiede und Gemeinsamkeiten

Deswegen ist eine rasche und konsequente Schubtherapie bei der NMOSD sehr wichtig. Als erstes wird meist eine hochdosierte Kortisongabe über drei bis fünf Tage eingesetzt. Wenn sich darunter keine Besserung einstellt, wird zeitnah, also möglichst ohne Unterbrechung, eine „Blutwäsche“ (Immunadsorption oder Plasmapherese) durchgeführt.

Die Immuntherapie der NMOSD hat wie bei der MS das Ziel, weitere Schübe zu verhindern. Es ist wichtig, dass klar zwischen MS und NMOSD unterschieden wird, da einige für MS verwendete Immuntherapien bei der NMOSD nicht wirksam sind oder sogar Erkrankungsschübe auslösen können. Erst seit 2019 gibt es eine für die Behandlung der NMOSD zugelassene Immuntherapie mit dem Wirkstoff Eculizumab. Im Sommer 2021 wurde ein zweites Medikament mit dem Wirkstoff Sartralizumab zur Therapie der NMOSD zugelassen. Mit Inebilizumab wird für 2022 die Zulassung eines dritten Medikaments in Europa erwartet. Bisher konnten nur Präparate auf Grundlage von kleineren klinischen Studien im sogenannten „off-label use“ eingesetzt werden. „Off-label use“ ist eine Anwendung eines Arzneimittels im Rahmen einer medizinischen Behandlung außerhalb des zugelassenen Erkrankungsspektrums.

In Fällen in denen keine klare Unterscheidung zwischen MS und NMOSD möglich ist, wird häufig eine B-Zell-depletierende Immuntherapie eingesetzt, da dieses Wirkprinzip bei beiden Erkrankungen funktioniert.

Leben mit ALS und MS

Sowohl ALS als auch MS sind chronische Erkrankungen, die das Leben der Betroffenen und ihrer Familien stark beeinflussen können. Es ist wichtig, sich über die Erkrankung zu informieren, sich professionelle Hilfe zu suchen und sich mit anderen Betroffenen auszutauschen. Es gibt zahlreiche Selbsthilfegruppen und Organisationen, die Unterstützung und Informationen anbieten.

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