Medikamente gegen Multiple Sklerose: Ein umfassender Überblick

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), die durch Entmarkungsherde und neuronale Zerstörung gekennzeichnet ist. Der Verlauf der MS ist sehr variabel und äußert sich meist in Schüben. Trotz intensiver Forschung sind die genauen Ursachen der MS noch nicht vollständig geklärt. Die vorliegende Übersichtsarbeit bietet einen umfassenden Überblick über die aktuellen medikamentösen Behandlungsstrategien bei MS, einschließlich Immuntherapien, Schubtherapien und symptomatischer Behandlungsansätze.

Epidemiologie der Multiplen Sklerose

Die Prävalenz der MS steigt weltweit, insbesondere in den nördlichen Industrieländern. Schätzungen zufolge sind weltweit etwa 2,8 Millionen Menschen betroffen. In Deutschland wird die Zahl der MS-Erkrankten auf etwa 252.000 geschätzt, wobei jährlich etwa 14.600 Neuerkrankungen diagnostiziert werden. Frauen sind häufiger betroffen als Männer, insbesondere bei der schubförmig-remittierenden MS (RRMS), bei der das Verhältnis etwa 3:1 beträgt. Das Durchschnittsalter bei der Erstdiagnose liegt bei etwa 33 Jahren.

Pathogenese der Multiplen Sklerose

Die Pathogenese der MS ist multifaktoriell und umfasst genetische Faktoren (ca. 30 %) sowie Umwelteinflüsse (ca. 70 %). Genetische Prädispositionen, wie bestimmte HLA-Allele (z.B. HLA-DRB1*15:01) und Varianten der TNF/TNFR-Familie, tragen zu einem erhöhten Risiko bei. Umwelteinflüsse, wie Vitamin-D-Mangel, Infektionen (z.B. mit dem Epstein-Barr-Virus) und Rauchen, werden ebenfalls als Risikofaktoren diskutiert.

Bei der MS kommt es zu fokalen, chronisch-entzündlichen Entmarkungsläsionen im ZNS, die von axonalen Schädigungen, Gliose und Hirnatrophie begleitet werden. Die Demyelinisierung wird wahrscheinlich durch zelluläre und humorale Faktoren des Immunsystems initiiert. Histologisch lassen sich in aktiven MS-Herden vier unterschiedliche Muster differenzieren, die auf verschiedene Pathomechanismen hinweisen.

Klinische Manifestationen und Diagnose

Die klinische Symptomatik der MS ist vielfältig und hängt von der Lokalisation und dem Ausmaß der Läsionen ab. Häufige Symptome sind Optikusneuritis, motorische Störungen (Paresen, Spastik), Sensibilitätsstörungen, Ataxie, kognitive Veränderungen und Fatigue. Zu Beginn der Erkrankung manifestiert sich oft ein klinisch isoliertes Syndrom (CIS) mit neurologischen Funktionsstörungen, die mindestens 24 Stunden anhalten.

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Ein MS-Schub ist definiert als das Auftreten neuer oder reaktivierter neurologischer Defizite, die mindestens 24 Stunden anhalten und nicht auf andere Ursachen wie Infektionen oder Hitzeexposition zurückzuführen sind.

Die Diagnose der MS basiert auf der Anamnese, der klinischen Untersuchung und dem Nachweis einer zeitlichen und räumlichen Dissemination von Läsionen im ZNS mittels Magnetresonanztomographie (MRT). Die Liquordiagnostik spielt ebenfalls eine wichtige Rolle, insbesondere bei der primär progredienten MS (PPMS). Die Diagnose wird üblicherweise nach den McDonald-Kriterien gestellt.

Therapie der Multiplen Sklerose

Obwohl die MS bis heute nicht heilbar ist, können moderne Behandlungsstrategien das Risiko für Schübe reduzieren und das Fortschreiten der Erkrankung eindämmen. Die Behandlung basiert auf drei Säulen:

  1. Therapie des akuten Schubes
  2. Immuntherapie (verlaufsmodifizierende Therapie)
  3. Symptomatische Therapie

Therapie des akuten Schubes

Die hochdosierte Cortison-Pulstherapie ist das Mittel der Wahl bei akuten MS-Schüben. Dabei werden über drei bis fünf Tage Glukokortikoide (Cortison) intravenös verabreicht, um den Entzündungsprozess zu hemmen. Bei sehr schweren, nicht auf Cortison ansprechenden Schüben kann eine Immunadsorption (Blutwäsche) in Betracht gezogen werden.

Immuntherapie

Die Immuntherapie zielt darauf ab, die Entzündungsaktivität im ZNS zu reduzieren, weitere Schübe zu verhindern und das Fortschreiten der Erkrankung aufzuhalten. Die verfügbaren Medikamente wirken, indem sie die Aktivität des Immunsystems unterdrücken oder modulieren.

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Die Auswahl des geeigneten Medikaments hängt von der Verlaufsform der MS, der Krankheitsaktivität, den individuellen Risikofaktoren und den Wünschen des Patienten ab. Die aktuellen Leitlinien zur Diagnose und Therapie der MS der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) gliedern die MS in fünf Verlaufsformen und teilen die Medikamente in drei Wirksamkeitskategorien ein:

  • Schubförmig-remittierende MS (RRMS): Hierbei treten Schübe auf, die sich vollständig oder teilweise zurückbilden.
  • Sekundär progrediente MS (SPMS): Diese entwickelt sich aus der RRMS, wobei die Behinderungsprogression im Vordergrund steht.
  • Primär progrediente MS (PPMS): Hierbei kommt es von Beginn an zu einer kontinuierlichen Zunahme der Symptome.
  • Klinisch isoliertes Syndrom (CIS): Dies ist das erste Symptom, das auf eine MS hindeuten kann.
  • Relapsing Multiple Sclerosis (RMS): Hierbei handelt es sich um schubförmige Verläufe wie CIS, RRMS und aktive SPMS.

Medikamente der Wirksamkeitskategorie I

Diese Medikamente haben eine relative Verringerung der Schubrate im Vergleich zu Plazebo von 30-50%.

  • Beta-Interferon 1a und 1b (Avonex®, Betaferon®, Extavia®, Plegidry®, Rebif®)
  • Dimethylfumarat (Tecfidera®)
  • Diroximelfumarat (Vumerity®)
  • Glatiramerazetat (Copaxone®, Clift®)
  • Teriflunomid (Aubagio®)

Medikamente der Wirksamkeitskategorie II

Diese Medikamente haben eine relative Verringerung der Schubrate im Vergleich zu Plazebo von 50-60%.

  • Cladribin (Mavenclad®)
  • Fingolimod (Gilenya®)
  • Ozanimod (Zeposia®)
  • Ponesimod (Ponvory®)
  • Siponimod (Mayzent®)

Medikamente der Wirksamkeitskategorie III

Diese Medikamente haben eine Verringerung der Schubrate um mehr als 60% im Vergleich zu Plazebo oder mehr als 40% im Vergleich zu Substanzen der Kategorie 1.

  • Alemtuzumab (Lemtrada®)
  • Natalizumab (Tysabri®)
  • Ocrelizumab (Ocrevus®)
  • Ofatumumab (Kesimpta®)
  • Ublituximab (Briumvi®)

Die Wahl des passenden Medikaments hängt von der Verlaufsform, der Krankheitsaktivität und individuellen Faktoren ab. Einige Medikamente sind nur für bestimmte Verlaufsformen zugelassen.

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Spezifische Medikamente und ihre Anwendung

Beta-Interferone (IFN-ß)

Beta-Interferone sind Zytokine, die Immunreaktionen modulieren können. Sie werden als Spritzentherapie verabreicht und können die Aktivität von Entzündungszellen einschränken und den Durchtritt von Entzündungszellen durch die Blut-Hirn-Schranke hemmen. Häufige Nebenwirkungen sind grippeähnliche Symptome und Reaktionen an der Einstichstelle.

Glatirameracetat

Glatirameracetat ist ein Immunmodulator, dessen Wirkweise nicht genau bekannt ist. Es wird als Spritze verabreicht und beeinflusst die Funktion von Entzündungszellen. Häufige Nebenwirkungen sind Reaktionen an der Einstichstelle und systemische Reaktionen mit Gefäßerweiterung und Brustschmerz.

Dimethylfumarat

Dimethylfumarat ist ein als Tablette eingenommenes Präparat, das die Funktion von Entzündungszellen beeinflusst und möglicherweise einen gewebeschützenden Effekt auf Nervenzellen hat. Häufige Nebenwirkungen sind Juckreiz, Hitzewallungen und Magen-Darm-Beschwerden.

Teriflunomid

Teriflunomid ist ein Arzneimittel in Tablettenform, das die Teilung und Vermehrung aktivierter weißer Blutkörperchen reduziert. Häufige Nebenwirkungen sind erhöhte Leberwerte, Kopfschmerzen und dünneres Haar.

Fingolimod

Fingolimod ist ein S1P-Rezeptor-Modulator, der einen Großteil der Lymphozyten im Lymphknoten zurückhält. Es wird in Kapselform eingenommen. Häufige Nebenwirkungen sind Infektionen und ein Mangel an Lymphozyten.

Siponimod

Siponimod ist ebenfalls ein S1P-Rezeptor-Modulator, der für die Behandlung der aktiven sekundär progredienten MS zugelassen ist. Es wird täglich in Tablettenform eingenommen. Vor Therapiebeginn ist eine genetische Untersuchung erforderlich.

Ocrelizumab

Ocrelizumab ist ein monoklonaler Antikörper, der spezifisch die Zahl der B-Lymphozyten verringert. Es ist für die Behandlung der schubförmigen MS und der primär progredienten MS zugelassen und wird als Infusion verabreicht.

Natalizumab

Natalizumab ist ein monoklonaler Antikörper, der das Einwandern von Entzündungszellen in das Gehirn hemmt. Es wird als Infusion verabreicht. Ein wichtiges Risiko ist die progressive multifokale Leukoenzephalopathie (PML), eine seltene, aber schwere Gehirninfektion.

Alemtuzumab

Alemtuzumab ist ein monoklonaler Antikörper mit langandauernden immunsuppressiven Eigenschaften. Ziel ist, die Anzahl reifer Lymphozyten im Blut zu verringern. Die Behandlung erfolgt in zwei kurzen Behandlungsphasen.

Therapie nach Verlaufsform

Die Auswahl der Medikamente richtet sich nach der Verlaufsform der MS:

  • CIS: Beta-Interferone, Glatirameracetat, Dimethylfumarat, Diroximelfumarat, Teriflunomid
  • RRMS (milde oder moderate Form): Beta-Interferone, Glatirameracetat, Dimethylfumarat, Diroximelfumarat, Teriflunomid
  • RRMS (hochaktive Form): Alemtuzumab, Cladribin, Fingolimod, Natalizumab, Ocrelizumab, Ofatumumab, Ozanimod, Ponesimod, Ublituximab
  • SPMS (mit Schüben): Beta-Interferon 1b, Cladribin, Ocrelizumab, Ofatumumab, Ponesimod, Siponimod
  • SPMS (ohne Schübe, aber mit Aktivität im MRT): Siponimod
  • PPMS: Ocrelizumab

Immunsuppressive Therapie

Die immunsuppressive Therapie (verlaufsmodifizierende Therapie, Basis-Therapie) besteht in der langfristigen Gabe von sogenannten Immuntherapeutika. Dazu zählen Wirkstoffe, welche die Aktivität des Immunsystems unterdrücken (Immunsuppressiva) bzw. Immunreaktionen gezielt verändern (Immunmodulatoren).

Die immunsuppressive Therapie bei Multipler Sklerose ist zwar nicht in der Lage, eine MS zu heilen, sie kann aber ihren Verlauf günstig beeinflussen. Den größten Effekt zeigt sie bei schubförmig verlaufender MS, also bei schubförmig remittierender MS, sowie aktiver sekundär progredienter MS (SPMS).

Mit „aktiv“ bezeichnet man das Auftreten von Schüben und/oder neuen oder sich vergrößernden entzündungsbedingten Schäden im ZNS. In diesen Fällen ist es durch die Therapie mit MS-Immuntherapeutika möglich, die Schubrate zu reduzieren sowie den fortschreitenden Behinderungen entgegenzuwirken, die durch die Schübe verursacht werden.

Bei nicht aktiver SPMS sowie bei primär progredienter MS ist die Wirksamkeit der immunsuppressiven Therapie geringer. Die Anwendung bestimmter Immuntherapeutika ist manchmal aber dennoch hilfreich.

Symptomatische Therapie

Neben der Immuntherapie spielt die symptomatische Therapie eine wichtige Rolle, um die Beschwerden der Patienten zu lindern und die Lebensqualität zu verbessern. Zu den häufig eingesetzten Medikamenten gehören:

  • Schmerzmittel: zur Behandlung von neuropathischen Schmerzen und muskuloskelettalen Schmerzen
  • Muskelrelaxantien: zur Linderung von Spastik
  • Antidepressiva: zur Behandlung von Depressionen und Fatigue
  • Medikamente zur Behandlung von Blasenfunktionsstörungen: zur Linderung von Inkontinenz oder Harnverhalt

MS-Forschung und neue Medikamente

Die MS-Forschung konzentriert sich weiterhin auf die Entwicklung von Medikamenten, die wirksamer sind und besser vertragen werden. Ein wichtiger Schwerpunkt liegt auf der Weiterentwicklung von immunmodulatorischen Substanzen, die das Voranschreiten der Behinderung effektiver unterbinden sollen. Auch die Erforschung der Rolle von T-Zellen und B-Zellen steht im Fokus, um die Mechanismen der Autoimmunreaktion besser zu verstehen.

L-Selektin als Biomarker

Deutsche Wissenschaftler haben einen im Blut vorkommenden Faktor gefunden, der helfen kann, das Risiko einer Gehirnentzündung (PML) bei mit Natalizumab behandelten MS-Patienten besser einzuschätzen. Es handelt sich um L-Selektin, ein Molekül, das eine wichtige Rolle spielt, wenn Erreger auf unser Abwehrsystem treffen. Patienten, denen das Molekül fehlt und die Natalizumab einnehmen, haben eine erhöhte Gefahr, an einer Gehirnentzündung zu erkranken.

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