Wernicke-Enzephalopathie und Korsakow-Syndrom: Ursachen, Symptome und Therapie

Die Wernicke-Enzephalopathie (WE) und das Korsakow-Syndrom (KS) sind neurologische Erkrankungen, die eng miteinander verbunden sind und durch einen Mangel an Thiamin (Vitamin B1) verursacht werden. Oftmals treten sie gemeinsam auf und werden dann als Wernicke-Korsakow-Syndrom (WKS) bezeichnet. Während die Wernicke-Enzephalopathie eine akute und potenziell reversible Erkrankung darstellt, ist das Korsakow-Syndrom eine chronische und meist irreversible Folgezustand einer nicht oder unzureichend behandelten WE. Beide Zustände können erhebliche Auswirkungen auf die kognitiven Fähigkeiten und die Lebensqualität der Betroffenen haben.

Ursachen und Risikofaktoren

Thiaminmangel

Sowohl die WE als auch das KS werden primär durch einen schweren Thiaminmangel verursacht. Thiamin ist ein essenzielles Vitamin, das der Körper nicht selbst herstellen kann und daher über die Nahrung aufnehmen muss. Es spielt eine entscheidende Rolle im Energiestoffwechsel des Gehirns, insbesondere bei der Verwertung von Glukose, dem Hauptenergielieferanten für Nervenzellen. Ein Mangel an Thiamin führt zu einer gestörten Energieversorgung des Gehirns und kann zu Schädigungen der Nervenzellen führen.

Ein Thiaminmangel kann verschiedene Ursachen haben:

  • Alkoholabusus: Chronischer Alkoholmissbrauch ist die häufigste Ursache für einen Thiaminmangel. Alkohol beeinträchtigt die Aufnahme und Verwertung von Thiamin im Gastrointestinaltrakt, dessen Speicherung in der Leber und die Nutzung innerhalb der Nervenzellen. Zudem führt Alkohol oft zu einer Mangelernährung, was den Thiaminmangel weiter verstärkt.
  • Mangelernährung: Eine unzureichende Aufnahme von Thiamin über die Nahrung, z. B. bei Mangelernährung, Essstörungen (insbesondere Anorexia nervosa), Zustand nach Gastrektomie, chronischem Erbrechen (einschließlich Hyperemesis gravidarum), Chemotherapie, kann ebenfalls zu einem Thiaminmangel führen.
  • Andere Erkrankungen: Seltenere Ursachen für einen Thiaminmangel sind chronische Nierenerkrankungen mit Dialyse, chronische Magen-Darm-Beschwerden, Ösophagus- oder Magenkarzinom und andere schwere Grunderkrankungen.

Alkoholabusus im Detail

Alkohol beeinträchtigt die Aufnahme und Verwertung von Thiamin im Körper auf vielfältige Weise:

  • Verminderte Absorption: Alkohol stört die Aufnahme von Thiamin im Magen-Darm-Trakt.
  • Beeinträchtigte Speicherung: Alkohol schädigt die Leberzellen, was die Speicherung von Thiamin in der Leber verringert.
  • Gestörte Nutzung: Alkohol beeinträchtigt die Umwandlung von Thiamin in seine aktive Form, Thiaminpyrophosphat (TPP), die für den Kohlenhydratstoffwechsel unerlässlich ist.
  • Erhöhte Ausscheidung: Alkohol kann die Ausscheidung von Thiamin über die Nieren erhöhen.
  • Mangelernährung: Alkoholismus geht oft mit einer unzureichenden und unausgewogenen Ernährung einher, was den Thiaminmangel weiter verstärkt.

Genetische Faktoren

Eine genetische Komponente wird bei der Entstehung des KS diskutiert. Es gibt Hinweise darauf, dass die Transketolase, ein Enzym, das für den Kohlenhydratstoffwechsel wichtig ist, bei KS-Patienten schlechter an Thiamindiphosphat bindet als bei gesunden Personen. Ob ein genetisch bedingter Polymorphismus der Transketolase die Entstehung des KS begünstigt, ist jedoch noch unklar.

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Symptome

Wernicke-Enzephalopathie

Die WE ist eine akute neurologische Erkrankung, die sich durch eine klassische Trias von Symptomen äußert:

  • Desorientiertheit und Bewusstseinsstörungen: Verwirrtheit, Desorientierung bezüglich Zeit, Ort und Person sowie Bewusstseinseintrübungen bis hin zum Koma.
  • Okulomotorische Störungen: Augenmuskelstörungen, die zu Doppelbildern, Nystagmus (unwillkürliche rhythmische Augenbewegungen) und Blicklähmungen führen können.
  • Gangataxie: Koordinationsstörungen, die sich in einem unsicheren, breitbeinigen Gang äußern.

Allerdings sind nicht bei allen Betroffenen alle drei Merkmale vorhanden.

Weitere mögliche Symptome der WE sind:

  • Abgeschlagenheit
  • Kopfschmerzen
  • Reizbarkeit
  • Niedriger Blutdruck
  • Beschleunigter Herzschlag
  • Niedrige Körpertemperatur
  • Epileptische Anfälle
  • Halluzinationen

Korsakow-Syndrom

Das KS ist eine chronische neuropsychiatrische Erkrankung, die sich als Folge einer nicht oder unzureichend behandelten WE entwickelt. Es ist durch ein amnestisches Syndrom gekennzeichnet, das sich in folgenden Symptomen äußert:

  • Amnesie: Schwere Gedächtnisstörungen, insbesondere anterograde Amnesie (Unfähigkeit, neue Informationen zu speichern) und retrograde Amnesie (Verlust von Erinnerungen an vergangene Ereignisse). Das Kurzzeitgedächtnis ist stark beeinträchtigt, während das Langzeitgedächtnis weniger betroffen ist.
  • Konfabulationen: Unwillkürliches Erfinden von Geschichten oder Erinnerungen, um Gedächtnislücken zu füllen. Die Betroffenen sind sich dabei nicht bewusst, dass sie falsche Informationen geben.
  • Orientierungsstörungen: Schwierigkeiten, sich in Zeit und Raum zu orientieren.
  • Persönlichkeitsveränderungen: Antriebsverminderung, Affektverflachung, mangelnde Einsicht, verminderte Kritikfähigkeit, Selbstvernachlässigung und euphorische Züge.
  • Zeitgitterstörung: Ein beeinträchtigtes Zeitgefühl oder der vollständige Verlust der zeitlichen Orientierung.

Zusätzlich zu den Gedächtnisstörungen können auch andere kognitive Beeinträchtigungen auftreten, wie z. B.:

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  • Konzentrations- und Aufmerksamkeitsdefizite
  • Beeinträchtigte exekutive Funktionen (Planung, Problemlösung, Entscheidungsfindung)
  • Störungen der affektiven Verarbeitung
  • Defizite im Entscheidungsverhalten

Diagnose

Klinische Diagnose

Die Diagnose von WE und KS wird primär klinisch gestellt. Dabei stützt sich der Arzt auf die Anamnese (Krankengeschichte), die Symptomatik und die Risikofaktoren des Patienten.

Wernicke-Enzephalopathie:

Die sogenannten Caine-Kriterien haben sich in der Praxis bewährt, um insbesondere bei alkoholkranken Personen eine WE frühzeitig zu erkennen. Für die Diagnose der WE bei chronischen Alkoholikern sind zwei der folgenden vier Anzeichen erforderlich:

  1. Mangelernährung
  2. Okulomotorische Anomalien
  3. Zerebelläre Dysfunktion
  4. Entweder Wesensveränderung oder leichte Gedächtnisstörung

Die Verwendung der Caine-Kriterien anstelle der klassischen Trias erhöht die Sensitivität der klinischen Diagnose.

Korsakow-Syndrom:

Die Diagnose des KS basiert auf den typischen Symptomen des amnestischen Syndroms, insbesondere der anterograden Amnesie und den Konfabulationen.

Bei der neurologischen Untersuchung werden vor allem die Gedächtnisleistung, Koordination sowie Gang- und Standsicherheit überprüft.

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Labordiagnostik

Die labordiagnostische Bestimmung der Thiamin-Konzentration im Blut oder in den Erythrozyten kann einen Hinweis auf einen Mangel liefern, ist jedoch nicht geeignet zur Akutdiagnostik. Das Warten auf das Ergebnis würde die empirische Behandlung verzögern, wodurch wertvolle Zeit verloren geht.

Bei Verdacht auf eine Überlappung beider Erkrankungen im Sinn des Wernicke-Korsakow-Syndroms sind umfassende Laboruntersuchungen (inklusive Liquorbefund) und eine Elektroenzephalografie (EEG) indiziert.

Bildgebende Verfahren

Bildgebende Verfahren wie Magnetresonanz- und Computertomografie (MRT, CT) des Gehirns haben für die Notfalldiagnose des KS keine Bedeutung. Die neurologische Bildgebung kann aber zum Ausschluss anderer Ursachen gerechtfertigt sein. Eine MRT kann spezifische Befunde des WKS zeigen, einschließlich Veränderungen in den Hirnstammkernen, Mamillarkörpern, Thalami und periaqueduktalen Arealen sowie der Tektalplatte. Die Sensitivität beträgt allerdings nur 53 Prozent.

Differenzialdiagnostik

Differenzialdiagnostisch kommen grundsätzlich alle mit Gedächtnisstörungen einhergehenden Erkrankungen infrage, wie z.B.:

  • Lewy-Body-Demenz: Zustand, der mit der Ablagerung von Lewy-Körperchen (Proteinaggregate) in der kortikalen Region des Gehirns verbunden ist und mit Demenz, kognitivem Abbau und visuellen Halluzinationen einhergeht. Der Zeitrahmen des Symptombeginns ist ein wichtiger Teil der Anamnese, da die Lewy-Body-Demenz langsamer verläuft als das Wernicke-Korsakow-Syndrom.
  • Hepatische Enzephalopathie: Bewusstseinsveränderung im Rahmen einer chronischen Lebererkrankung aufgrund eines erhöhten Ammoniakspiegels.
  • Kleinhirninfarkt: Zerebrovaskuläres Ereignis, das zu einer gestörten O2 -Perfusion des Kleinhirns führt.

Therapie

Die Behandlung von WE und KS zielt darauf ab, den Thiaminmangel zu beheben, die Symptome zu lindern und weitere Hirnschäden zu verhindern.

Akuttherapie

  • Thiaminsubstitution: Die wichtigste Maßnahme ist die sofortige Gabe von hochdosiertem Thiamin (Vitamin B1), typischerweise 500 mg bis 1500 mg dreimal täglich, intravenös (i.v.) oder intramuskulär (i.m.) über mindestens drei Tage. Über die genaue Menge des zu ersetzenden Thiamins gibt es keine internationalen Standardangaben.
  • Korrektur von Elektrolytanomalien: Ferner müssen ein Flüssigkeitsmangel und Elektrolytanomalien korrigiert werden. Besonderes Augenmerk sollte auf einer ausreichenden Magnesiumzufuhr liegen, da thiaminabhängige Enzyme für ihre Funktion auf Magnesium angewiesen sind.
  • Behandlung einer Hypoglykämie: Bei vielen Patienten besteht zudem eine Hypoglykämie, die korrigiert werden sollte. Es gibt Hinweise darauf, dass eine verlängerte und nicht akute Substitution von Glukose ohne Thiaminergänzung das Risiko einer WE erhöht.

Langzeittherapie

  • Alkoholabstinenz: Ein dauerhafter Alkoholentzug ist zentral, um das Fortschreiten des KS zu stoppen und weitere Hirnschäden zu verhindern. Da Alkohol langfristig die Aufnahme und Verwertung von Thiamin stört, ist Abstinenz eine grundlegende Voraussetzung jeder Behandlung.
  • Ernährungsumstellung: Eine ausgewogene und vitaminreiche Ernährung ist wichtig, um den Thiaminspiegel langfristig zu stabilisieren.
  • Rehabilitationsmaßnahmen: Rehabilitationsprogramme gelten derzeit als wichtigste therapeutische Maßnahme zur Verbesserung der Alltagskompetenz beim KS. Besonders effektiv sind Maßnahmen, die auf das prozedurale Lernen abzielen, also auf das Erlernen von Handlungsabläufen durch wiederholte Ausführung. Dieses Lernsystem ist bei Betroffenen häufig weniger stark beeinträchtigt als das deklarative Gedächtnis.
  • Soziale und therapeutische Betreuung: Viele Patienten mit KS benötigen dauerhafte soziale und therapeutische Betreuung, um ihre kognitiven Beeinträchtigungen zu bewältigen und ein möglichst selbstständiges Leben zu führen.

Medikamentöse Therapie

Überzeugende medikamentöse Behandlungsansätze für das KS gibt es bislang nicht.

Prognose

Die Prognose von WE und KS hängt von verschiedenen Faktoren ab, insbesondere von der Schnelligkeit der Diagnose und Behandlung sowie vom Ausmaß der bereits eingetretenen Hirnschäden.

Bei rechtzeitiger Behandlung der WE können sich viele Symptome wie Sehstörungen und Bewusstseinstrübungen meist innerhalb kurzer Zeit wieder zurückbilden. Bewegungsstörungen brauchen in der Regel mehrere Wochen, bis sie verschwinden. In rund vier von zehn Fällen bleiben dauerhaft motorische Einschränkungen bestehen, drei Viertel der Patienten behalten psychische Beeinträchtigungen zurück.

Das KS gilt als chronisch und in der Regel irreversibel. Eine vollständige Heilung ist mit den derzeit verfügbaren Mitteln nicht möglich. Mit einer entsprechenden fachtherapeutischen Unterstützung sind allerdings leichte Besserungen der Gedächtnisleistung möglich, einschließlich des Erlernens von Techniken zur Gedächtniskompensation und Strategien zum fehlerfreien Lernen.

Die Lebenserwartung von Patienten mit KS kann durch Folgeerkrankungen wie Leberzirrhose, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Infektionen verkürzt sein.

Prävention

Die wirksamste Maßnahme zur Vorbeugung von WE und KS ist der Verzicht auf Alkohol. Denn chronischer Alkoholkonsum ist die Hauptursache für den ausgeprägten Thiaminmangel, der diesen Erkrankungen zugrunde liegt. Wer unter einer Alkoholkrankheit leidet und den Konsum nicht allein unter Kontrolle bekommt, sollte sich an eine professionelle Entzugsklinik wenden.

Eine rechtzeitige Behandlung kann verhindern, dass sich die WE ausbildet und damit auch das KS. Auch eine ausgewogene Ernährung mit ausreichend Thiamin kann dazu beitragen, einem Mangel vorzubeugen.

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