Wernicke-Sprachzentrum: Funktion, Anatomie und Bedeutung für das Sprachverständnis

Das Wernicke-Sprachzentrum, benannt nach dem deutschen Neurologen Carl Wernicke (1848-1905), ist ein entscheidender Bereich im Gehirn, der für das Sprachverständnis und die Sprachverarbeitung eine zentrale Rolle spielt. Gemeinsam mit dem Broca-Areal bildet es das Hauptzentrum der Sprache. Schädigungen dieses Areals, beispielsweise durch einen Schlaganfall, können zu erheblichen Sprachstörungen führen.

Lokalisation und Anatomie

Das Wernicke-Areal befindet sich im hinteren, oberen Bereich des Temporallappens der dominanten Hemisphäre. Bei Rechtshändern ist dies in der Regel die linke Hemisphäre, bei Linkshändern kann es sowohl links als auch rechts liegen. Genauer gesagt, liegt es im hinteren Teil des Gyrus temporalis superior und erstreckt sich bis zu den Gyri angularis et supramarginalis des Parietallappens. Es grenzt direkt an die primäre Hörrinde an, die sich im Bereich der Heschl-Querwindungen befindet.

Neuere Forschungen deuten darauf hin, dass die traditionelle Lehrmeinung zur genauen Lokalisation des Wernicke-Areals möglicherweise überholt ist. US-amerikanische Forscher haben Hinweise darauf gefunden, dass es sich nicht hinter, sondern vor dem Areal der Gehirnrinde befindet, in dem Gehörtes verarbeitet wird. Diese neue Position weicht um etwa drei Zentimeter von der bisherigen ab, was in Bezug auf die Gehirnarchitektur und -funktion einen erheblichen Unterschied darstellt.

Funktion des Wernicke-Areals

Die Hauptfunktion des Wernicke-Areals ist die Integration von Sprach- und Textinhalten, also das Sprachverständnis. Es ermöglicht uns, gehörte und gelesene Wörter zu verstehen und ihnen eine Bedeutung zuzuordnen. Das Wernicke-Areal arbeitet eng mit anderen Sprachzentren zusammen, insbesondere mit dem Broca-Areal, das für die Sprachproduktion zuständig ist. Es empfängt auditive Signale von der primären Hörrinde und visuelle Informationen vom Gyrus angularis. Diese Informationen werden dann an kortikale Assoziationsfelder zur weiteren Verarbeitung und an das Broca-Areal weitergeleitet.

Das Wernicke-Areal ist nicht nur für die Sprachperzeption notwendig, sondern auch für die Sprachproduktion in Zusammenarbeit mit dem Broca-Areal. Sprache erzeugen und verstehen zu können, macht den Menschen zu etwas Einzigartigem in der Evolution. Einzelne Gruppen von Neuronen reagieren sensibel auf die Phoneme der menschlichen Sprache. In der Großhirnrinde sind Teile des Frontal- und Temporallappens für das Sprachverstehen und die Sprachproduktion wichtig. Sprache kann das Gehirn unter anderem anhand charakteristischer Frequenzen von anderen Geräuschen unterscheiden.

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Zusammenspiel mit anderen Hirnregionen

Die Sprachverarbeitung ist ein komplexer Prozess, an dem verschiedene Hirnregionen beteiligt sind. Neben dem Broca- und Wernicke-Areal spielen auch die sekundäre Hörrinde, der Thalamus und der Corpus callosum eine wichtige Rolle.

  • Broca-Areal: Verantwortlich für die Sprachproduktion und die Verarbeitung von Satzbau und Grammatik.
  • Sekundäre Hörrinde: In der nicht-dominanten Hemisphäre zuständig für andere Aufgaben, wie z.B. das Musikgedächtnis.
  • Thalamus: Eine Studie der Berliner Charité aus dem Jahr 2008 deutet darauf hin, dass für das Erkennen von Satzstrukturen und -inhalten eine Kooperation von Gehirnrinde und Thalamus notwendig ist.
  • Corpus callosum: Verbindet die beiden Hirnhälften und ermöglicht die Verarbeitung von lautübergreifenden akustischen Merkmalen wie Akzent oder Intonation in der rechten Hemisphäre.

Auswirkungen von Schädigungen des Wernicke-Areals

Schäden am Wernicke-Areal können zu einer Wernicke-Aphasie führen, einer sensorischen Aphasie, die durch Störungen des Sprachverständnisses gekennzeichnet ist. Betroffene können zwar flüssig sprechen, aber die produzierten Sätze sind oft sinnlos und zusammenhanglos ("Wortsalat"). Da sie nicht verstehen, was sie selbst sagen oder was andere ihnen sagen, ist die Kommunikation stark beeinträchtigt.

Symptome der Wernicke-Aphasie

  • Störungen des Sprachverständnisses: Schwierigkeiten, gesprochene oder geschriebene Wörter zu verstehen.
  • Flüssige, aber sinnlose Sprache: Die Sprache ist grammatikalisch korrekt, aber die Sätze ergeben keinen Sinn.
  • Paraphasien: Falsche Verwendung von Wörtern, entweder durch Ersetzen durch ähnliche Wörter (semantische Paraphasien) oder durch Erfinden neuer Wörter (phonematische Paraphasien oder Neologismen).
  • Logorrhö: Ein unkontrollierter Redefluss.
  • Mangelndes Bewusstsein für die Sprachstörung: Betroffene bemerken oft nicht, dass ihre Sprache fehlerhaft ist.

Ein weiteres Symptom kann sein, dass Geräusche zwar wahrgenommen werden, aber das Gehirn nicht erkennen kann, was diese verursacht. Zum Beispiel hört der Betroffene einen Hubschrauber, kann aber das Rattern nicht dessen Rotoren zuordnen.

Die Symptome korrelieren mit dem Grad der Schädigung. Das Gehirn erkennt zwar die Laute, kann diese aber nicht oder nicht richtig den passenden Wörtern zuordnen. Dies betrifft das eigene Sprechen, das Verstehen von Gehörtem und auch die Schriftsprache. Da das Gehirn nicht versteht, was selbst gesagt wurde, kann daraus ein „Kauderwelsch“ entstehen, bei dem weder der Sagende noch der Zuhörer in der Lage ist, den Sinn der Laute oder Wörter zu verstehen. Zudem werden auch Satzbau und Grammatik stark beeinflusst.

Ursachen der Wernicke-Aphasie

Die häufigste Ursache für eine Wernicke-Aphasie ist ein Schlaganfall, bei dem die Blutversorgung des Gehirns unterbrochen wird und es zu einer Schädigung des Gewebes kommt. Andere mögliche Ursachen sind Hirnverletzungen, Tumore oder Entzündungen. Pathophysiologisch liegt eine Läsion im Versorgungsgebiet der Arteria temporalis posterior vor, welche zu einer Schädigung des hinteren Temporallappens führt, wo das Wernicke Areal liegt.

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Diagnose und Therapie

Die Diagnose einer Wernicke-Aphasie wird in der Regel durch eine neurologische Untersuchung undSprachdiagnostik gestellt. Bildgebende Verfahren wie MRT oder CT können helfen, die Lokalisation und das Ausmaß der Schädigung zu bestimmen.

Die Therapie der Wernicke-Aphasie zielt darauf ab, die sprachlichen Fähigkeiten zu reaktivieren und Kompensationsstrategien zu entwickeln, um eine Teilhabe am sozialen Leben zu ermöglichen. Ein wichtiger Bestandteil der Therapie ist die Sprachtherapie, die durch transkranielle Gleichstromstimulation ergänzt werden kann. Übungen im Gedächtnistraining, um diesen Bereich des Gehirns zu unterstützen, werden unter dem Übungsschwerpunkt Wortfindung, Formulieren und Wahrnehmung eingeordnet.

Die historische Entwicklung der Erforschung des Wernicke-Areals

Die Erforschung der Hirnstrukturen, die für die Sprachverarbeitung verantwortlich sind, reicht bis ins 17. Jahrhundert zurück. Im 18. Jahrhundert wurde die Vorstellung diskutiert, dass es im menschlichen Körper auch ein 'Sprachorgan' geben könnte. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann die wissenschaftliche Untersuchung dieser Frage mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden.

Der Läsion-Defizit-Ansatz

Die älteste und bis heute angewandte Methode ist der Läsion-Defizit-Ansatz. Dieser Ansatz basiert auf der Beobachtung, dass Schädigungen bestimmter Hirnregionen zu spezifischenDefiziten führen können. Pierre Paul Broca beschrieb in den 1860er Jahren einen Patienten mit 'Aphemie', einer schweren Störung der lautsprachlichen Produktion, und lokalisierte die verantwortliche Läsion imFrontallappen der linken Hirnhälfte. Dies führte zu der Erkenntnis, dass die linke Großhirnhemisphäre die sprachdominante Hemisphäre ist.

Carl Wernicke entdeckte 1874 ein weiteres wichtiges Sprachzentrum im Temporallappen am Übergang zum Parietallappen. Die Arbeiten von Broca, Wernicke und anderen mündeten Ende des 19. Jahrhunderts in einem ersten Modell der Sprachverarbeitung, welches die weitere Forschung auf diesem Gebiet bis weit in das 20. Jahrhundert hinein prägte.

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Die Jahre zwischen 1860 und 1890 gelten als die klassische Ära der Aphasiologie und legten das Fundament für alle neueren Ansätze zur Lokalisation der Sprache im Gehirn.

Herausforderungen des Läsion-Defizit-Ansatzes

Der Läsion-Defizit-Ansatz, wie er Ende des 19. Jahrhunderts angewendet wurde, hatte jedoch auch seine Grenzen. Zum Teil dauerte es über 100 Jahre, also bis Ende des 20. Jahrhunderts, bis einige dieser Probleme gelöst werden konnten.

  • Variabilität der Läsionen: Läsionen, z.B. nach einem Mediainfarkt, gleichen sich nie vollständig. Die genaue Lokalisation und Ausdehnung der Läsion kann von Patient zu Patient variieren.
  • Generalisierung: Es ist problematisch, von denDefiziten eines einzelnen Patienten auf die Funktion eines bestimmten Areals im Allgemeinen zu schließen.
  • Seltene Läsionen: Es ist schwierig, die Funktion eines Areals zu untersuchen, das selten von einer umschriebenen Läsion betroffen ist.
  • Kompensation: Das Gehirn kann Funktionen, die durch eine Läsion beeinträchtigt wurden, teilweise kompensieren.
  • Spezifität: Eine Läsion betrifft oft nicht nur eine spezifische Funktion, sondern auch andere, damit zusammenhängende Funktionen.

Funktionell bildgebende Verfahren

Um die Einschränkungen des Läsion-Defizit-Ansatzes zu umgehen, wurden im Laufe der Zeit funktionell bildgebende Verfahren entwickelt. Diese Verfahren ermöglichen es, die während einer bestimmten Aufgabe aktiven Areale im Gehirn zu identifizieren und z.B. mit einer strukturell-anatomischen Aufnahme zu überlagern.

Mit funktionell-bildgebenden Verfahren kann die Funktionsweise des gesunden Gehirns untersucht werden, wodurch unter anderem das Problem der sekundären Defizite wegfällt. Zudem ermöglichen sie es, Aktivierungen im gesamten Gehirn nachzuweisen und so ein umfassenderes Bild der neuronalen Netzwerke zu erhalten, die an einer bestimmten Funktion beteiligt sind.

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