Das Nervensystem spielt eine zentrale Rolle in unserem Körper. Es ist für die Übertragung von Signalen zwischen verschiedenen Körperteilen und dem Gehirn verantwortlich. Um das Nervensystem besser zu verstehen, ist es wichtig, sich mit seinen Bestandteilen, Funktionen und den verschiedenen Techniken zur Arbeit mit ihm auseinanderzusetzen.
Nerven: Definition und Überblick
Nerven sind für die Signalübertragung im Körper unerlässlich. Sie bestehen aus Nervenfasern, die wiederum aus Axonen und Myelinscheiden bestehen. Diese Fasern übertragen elektrische Impulse und ermöglichen eine schnelle und effiziente Nachrichtenübermittlung.
Nervenfaser Definition
Nervenfasern sind spezielle Strukturen im Nervensystem, die hauptsächlich aus Axonen und den umgebenden Myelinscheiden bestehen. Diese Fasern sind verantwortlich für die Übertragung von elektrischen Impulsen, die Nachrichten schnell und effizient durch den Körper senden.
Es gibt zwei Haupttypen von Nervenfasern:
- Myelinisierte Nervenfasern: Diese sind von einer Myelinscheide umgeben, die die elektrische Leitung verbessert.
- Unmyelinisierte Nervenfasern: Diese besitzen keine Myelinscheide und übertragen Signale langsamer.
Die Rolle der Myelinscheide
Eine Myelinscheide ist eine fettige Schicht, die bestimmte Nervenfasern im Nervensystem umgibt. Ihre Hauptfunktion besteht darin, elektrische Impulse zu isolieren und zu beschleunigen, was die Signalübertragung an Synapsen effizienter macht. Diese Isolierung ist entscheidend für die schnelle Kommunikation zwischen Neuronen, insbesondere in den Kranialnerven und im parasympathischen Nervensystem.
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Stell dir vor, du berührst eine heiße Oberfläche. Diese Berührung erzeugt einen Schmerzimpuls, der durch die Nervenfasern in deiner Hand zu deinem Gehirn gesendet wird. Dies erfolgt sehr schnell dank der myelinisierten Nervenfasern.
Die Myelinisierung ist ein lebenslanger Prozess, der in der Kindheit beginnt und bis ins Erwachsenenalter andauern kann. Sie spielt eine wesentliche Rolle in der kognitiven Entwicklung und der Reaktionsfähigkeit. Die Geschwindigkeit der Nervenfasern hängt von der Dicke der Myelinschicht und dem Durchmesser der Faser ab.
Nervensystem Anatomie
Das Nervensystem ist entscheidend für die Funktionsweise des Körpers und teilt sich in zwei Hauptbereiche: das zentrale und das periphere Nervensystem. Diese Struktur ermöglicht es dem Körper, Informationen zu verarbeiten und auf äußere Reize zu reagieren.
Zentrales und peripheres Nervensystem
Das zentrale Nervensystem (ZNS) umfasst das Gehirn und das Rückenmark und ist das Hauptsteuerungszentrum des Körpers. Das periphere Nervensystem (PNS) besteht aus allen Nerven außerhalb des ZNS und verbindet das zentrale Nervensystem mit den Gliedmaßen und Organen.
- Gehirn: Steuert die meisten Aktivitäten des Körpers und verarbeitet Informationen.
- Rückenmark: Leitet Nachrichten vom Gehirn zu verschiedenen Körperteilen und umgekehrt.
- Sensorische Nerven: Übertragen Informationen von den Sinnen an das ZNS.
- Motorische Nerven: Senden Signale vom ZNS zu den Muskeln, um Bewegungen zu steuern.
Das PNS wird weiter in das somatische und das autonome Nervensystem unterteilt. Das somatische Nervensystem steuert bewusstes Verhalten und willkürliche Bewegungen, während das autonome Nervensystem unbewusste Funktionen wie Herzschlag und Verdauung reguliert. Beide Systeme sind wichtig für das reibungslose Funktionieren des Körpers.
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Nervenphysiologie einfach erklärt
Die Nervenphysiologie befasst sich mit der Funktionsweise der Nerven. Nerven leiten elektrische Signale durch den Körper, um Informationen zu übermitteln. Dieser Prozess ist entscheidend für das tägliche Leben.
Wichtige physiologische Punkte
Einige wichtige Punkte umfassen:
- Ruhepotential: Der Zustand einer Nervenzelle, wenn sie nicht aktiv ist. Es gibt eine negative Ladung innerhalb der Zelle im Vergleich zur Außenseite.
- Aktionspotential: Ein kurzes elektrisches Signal, das entlang eines Axons reist, um eine Nachricht zu übermitteln.
- Synapse: Ein kleiner Spalt zwischen zwei Nervenzellen, über den Nachrichten durch chemische Botenstoffe übertragen werden.
Die Synapse als Kommunikationszentrum
Eine Synapse ist der Bereich im Nervensystem, an dem zwei Nervenzellen aufeinandertreffen. In dieser Region erfolgt die Signalübertragung durch die Freisetzung chemischer Botenstoffe, die es ermöglichen, Informationen von einer Zelle zur anderen zu übertragen. Diese Prozesse sind entscheidend für die Kommunikation im Nervensystem, einschließlich der Funktionen der Kranialnerven und des parasympathischen Nervensystems. Die Myelinscheide spielt ebenfalls eine wichtige Rolle, indem sie die Geschwindigkeit der Signalübertragung an den Synapsen erhöht.
Wenn du einen Ball fängst, senden deine Augen Informationen über den Ball an dein Gehirn (sensorische Nerven). Das Gehirn verarbeitet diese Informationen und sendet Nachrichten an die Muskeln deiner Hand, damit du den Ball fangen kannst (motorische Nerven).
Synaptische Verbindungen können gestärkt oder geschwächt werden, basierend auf der Nutzung. Dies ist ein grundlegender Mechanismus des Lernens und Gedächtnisses.
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Neuroplastizität: Die Anpassungsfähigkeit des Nervensystems
Die Neuroplastizität ist die Fähigkeit des Nervensystems, sich anzupassen und neue Synapsen zu bilden. Dies geschieht durch Erfahrungen und Lernen und zeigt, wie flexibel und anpassungsfähig das Gehirn ist. Neuroplastizität ist besonders wichtig für die Erholung nach Verletzungen und für die kontinuierliche kognitive Entwicklung.
Nervenbahnen und deren Funktion
Nervenbahnen sind entscheidend für die Reizweiterleitung im Körper. Sie ermöglichen die Kommunikation zwischen Gehirn, Rückenmark und den übrigen Körperteilen. Diese Bahnen sind in verschiedene Typen unterteilt, je nachdem, ob sie Informationen zum Gehirn oder zu den Muskeln transportieren.
Sensorische und motorische Nervenbahnen
Sensorische und motorische Nervenbahnen haben unterschiedliche Aufgaben. Sensorische Nervenbahnen transportieren Informationen von den Sinnesorganen zum Gehirn. Motorische Nervenbahnen hingegen leiten Signale vom Gehirn zu den Muskeln, um Bewegungen zu steuern.
- Sensorische Nervenbahnen: Leiten empfindliche Reize aus der Umwelt und dem Körperinneren ans Gehirn.
- Motorische Nervenbahnen: Übertragen Befehle des Gehirns an die Muskulatur.
Wenn du eine heiße Oberfläche berührst, registrieren sensorische Nerven in deiner Haut den Schmerz. Diese Information wird schnell ans Gehirn gesendet. Dein Gehirn entscheidet sofort, dass du deine Hand zurückziehen solltest. Diese Nachricht wird über motorische Nerven an die Muskeln deiner Hand gesendet, die dann die Bewegung ausführen.
Sensorische Nervenbahnen werden auch als afferente Nervenbahnen bezeichnet, während motorische Nervenbahnen als efferente Nervenbahnen bekannt sind.
Neurogenese: Die Neubildung von Nervenzellen
Ein interessantes Phänomen in der Nervenbahnforschung ist die sogenannte Neurogenese, also die Bildung neuer Nervenzellen. Lange Zeit glaubte man, dass dies nach der Geburt nicht mehr möglich wäre. Doch Studien haben gezeigt, dass neue Nervenzellen auch im Erwachsenenalter gebildet werden können, insbesondere im Hippocampus, einem Bereich des Gehirns, der für Lernen und Gedächtnis wichtig ist.
Vagus Nerv: Funktion und Bedeutung
Der Vagus Nerv ist einer der wichtigsten Nerven im Körper. Er gehört zum parasympathischen Nervensystem und spielt eine zentrale Rolle bei der Regulation von Körperfunktionen. Er ist der längste Nerv des autonomen Nervensystems und verläuft vom Gehirn durch den Hals und den Brustkorb bis zum Bauch.
Hauptfunktionen des Vagus Nervs
- Regulation der Herzfrequenz
- Steuerung der Verdauung
- Kontrolle der Atmung
- Einfluss auf die Immunantwort
Der parasympathische Bereich des autonomen Nervensystems spielt eine entscheidende Rolle bei der Regulierung des Körpers in Ruhephasen und unterstützt Erholungsprozesse. Im Gegensatz dazu ist der sympathische Bereich für die 'Kampf-oder-Flucht'-Reaktion verantwortlich. Das parasympathische Nervensystem fördert die Entspannung, senkt die Herzfrequenz und verbessert die Verdauung, was für die Aufrechterhaltung der Homöostase im Körper unerlässlich ist.
Nach einer Mahlzeit aktiviert der Vagus Nerv die Verdauungsorgane, um die Nahrungsaufnahme zu verarbeiten. Dies umfasst die Freisetzung von Verdauungssäften und die Förderung der Darmbewegungen, um die Nahrung zu verdauen und Nährstoffe aufzunehmen.
Der Name 'Vagus' stammt aus dem Lateinischen und bedeutet 'umherschweifend', was auf den weitreichenden Verlauf des Nervs im Körper hinweist.
Vagusnerv-Stimulation in der Medizin
Die Stimulation des Vagus Nervs wird in der Medizin zur Therapie verschiedener Erkrankungen eingesetzt, darunter Depressionen und Epilepsie. Durch elektrische Impulse, die an den Nerv gesendet werden, kann die Aktivität des Nervs beeinflusst werden. Diese Methode zeigt, wie tiefgreifend und vielseitig die Funktion des Vagus Nervs ist.
Peripheres Nervensystem: Grundlagen
Das periphere Nervensystem (PNS) ist ein wesentlicher Teil des Nervensystems. Es verbindet das zentrale Nervensystem (ZNS) mit den verschiedenen Teilen des Körpers und ermöglicht die Kommunikation zwischen Gehirn und Muskeln, Organen und Haut.
Aufbau des peripheren Nervensystems
Das PNS besteht aus verschiedenen Komponenten, die zusammenarbeiten, um Signale und Reize im ganzen Körper zu leiten.
- Spinalnerven: Diese Nerven treten aus dem Rückenmark aus und verlaufen zu verschiedenen Teilen des Körpers.
- Kranialnerven: Diese Nerven gehen direkt vom Gehirn aus und sind hauptsächlich für die Steuerung der Sinne und Muskeln im Kopf- und Halsbereich zuständig.
- Autonomes Nervensystem: Dieses System reguliert unwillkürliche Körperfunktionen wie Herzschlag, Verdauung und Atmung und wird weiter in das sympathische und parasympathische System unterteilt.
Die Rolle der Kranialnerven
Die Kranialnerven sind zwölf Paare von Nerven, die direkt aus dem Gehirn entspringen und eine Vielzahl von Funktionen im Kopf- und Halsbereich steuern. Dazu gehören essentielle Sinne wie Geruch, Sehen, Hören sowie das Gleichgewicht. Diese Nerven sind entscheidend für die Signalübertragung im Nervensystem und spielen eine Rolle im parasympathischen Nervensystem, das viele unwillkürliche Körperfunktionen reguliert. Die Myelinscheide Funktion dieser Nerven unterstützt die schnelle Signalübertragung an den Synapsen, was für die effiziente Kommunikation zwischen Nervenzellen unerlässlich ist.
Ein Beispiel für einen Kranialnerv ist der Sehnerv (Nervus opticus), der visuelle Informationen von deinen Augen an dein Gehirn weiterleitet.
Autonomes Nervensystem: Sympathikus und Parasympathikus
Das autonome Nervensystem spielt eine grundlegende Rolle bei der Regulierung der inneren Organe. Es wird in zwei Teile unterteilt: das sympathische Nervensystem, das den Körper auf 'Kampf oder Flucht' vorbereitet, und das parasympathische Nervensystem, das den Körper in eine 'Ruhe- und Erholungsphase' versetzt. Diese Systeme arbeiten häufig antagonistisch, um die Homöostase des Körpers aufrechtzuerhalten.
Das periphere Nervensystem umfasst sensorische und motorische Nervenbahnen.
Nervensystem im Alltag: Stress und Regulation
In unserem Körper gibt es Prozesse, die zwar mit Bewegungen des Körpers zusammenhängen und somit eine Reaktion auf die Umwelt sind, die aber nicht bewusst gesteuert werden. Das Herz rast, weil man nur im letzten Augenblick einem herannahenden Auto ausweichen kann. Angespannte Muskeln an einem stressigen Arbeitstag, an dem ein Termin den nächsten jagt und kaum Zeit zum Durchatmen bleibt. Ein plötzliches Erstarren und der Fluchtreflex, wenn unerwartet ein bellender Hund auf uns zurennt. Diese Reaktionen sind Zeichen dafür, dass unser Nervensystem in Alarmbereitschaft ist.
Das vegetative Nervensystem: Sympathikus, Parasympathikus und Vagusnerv
Wenn wir darüber sprechen, dass unser Nervensystem in Aufruhr ist und wir das Nervensystem regulieren wollen, dann geht es dabei aber vor allem um das vegetative bzw. autonome Nervensystem. Das vegetative Nervensystem können wir zum Großteil nicht direkt steuern (daher auch „autonom”). Es funktioniert ohne dein willentliches Zutun - und das ist auch gut so. Stell dir vor, du müsstest bewusst daran denken, dein Herz schlagen zu lassen - das wäre ziemlich anstrengend! Das vegetative Nervensystem ist nämlich ständig aktiv und reguliert alle unsere Körperfunktionen, die immer ablaufen müssen, egal ob wir gerade daran denken oder nicht.
- Der Sympathikus ist wie dein innerer Turbo-Modus: Er aktiviert unseren Körper und bereitet uns auf körperliche oder geistige Leistungen vor (oft als „Kampf-oder-Flucht-Reaktion” bezeichnet).
- Der Parasympathikus ist dein innerer Entspannungsmodus: Er sorgt für Erholung, aktiviert die Verdauung und kurbelt verschiedene Stoffwechselvorgänge an.
Ein Teil des parasympathischen Nervensystems ist der Vagusnerv („Nervus vagus”) - der längste Hirnnerv deines Körpers. Er ist wie eine „Bremse” für dein vegetatives Nervensystem. Wenn er aktiviert wird, sendet er Signale an Herz, Lunge und andere Organe, um deinen Körper zu beruhigen. Das Besondere: Den Vagusnerv kannst du durch gezielte Übungen wie Atemtechniken, Kältereize oder Summen bewusst aktivieren.
Die Polyvagal-Theorie
Die Polyvagal-Theorie (Porges, 2009) hat unser Verständnis des vegetativen Nervensystems stark erweitert. Sie beschreibt drei hierarchische Ebenen:
- Soziales Engagement (ventraler Vagus): Sicherheit, Verbindung, Ruhe - der Zustand, in dem man sich wohlfühlt.
- Kampf-oder-Flucht (Sympathikus): Alarmbereitschaft und Mobilisierung bei Gefahr.
- Erstarrung/Kollaps (dorsaler Vagus): Totaler Shutdown als Schutz.
Das Nervensystem entscheidet, je nach wahrgenommener Sicherheit oder Bedrohung, in welchem Bereich man sich befindet. Besonders interessant: 80 % der Vagusnerv-Fasern sind afferent, das bedeutet, sie senden Informationen vom Körper zum Gehirn statt andersherum.
Stressreaktionen und ihre Auswirkungen
In Gefahrensituationen und bei Stress wird vom Sympathikus eine Kaskade neurologischer und hormoneller Reaktionen ausgelöst, die uns helfen sollen, die Situation zu bewältigen: Adrenalin sorgt dafür, dass die Muskeln besser durchblutet werden, Cortisol hält uns auf Trab und Endorphine helfen uns, nicht in Panik zu verfallen. Der Herzschlag beschleunigt sich, der Blutdruck steigt und die Atmung wird schneller. Die Muskeln sind angespannt, die Schmerzempfindlichkeit nimmt ab und die Sinne sind geschärft.
Aktuelle Forschungen zeigen, dass chronischer Stress zu einer dauerhaften sympathischen Dominanz führen kann (Goldstein, 2023).
Stress in der Steinzeit vs. heute
In der Steinzeit war die Gefahr ein nahender Säbelzahntiger. Das Gehirn entschied in weniger als einer Sekunde, welche Reaktion die beste Chance zu überleben bietet. Entweder wurde Kampf (Fight) aktiviert oder aber das Gehirn entschied, dass Flucht (Flight) die beste Chance ist. Sobald die Gefahr vorbei war, fuhr der Körper alle Stressreaktionen wieder herunter: Herzschlag und Atmung beruhigten sich, die Muskeln entspannten sich.
In der heutigen modernen Zeit haben sich die Bedrohungen geändert. Dauernde Anspannung durch ständige Erreichbarkeit, Überstunden, Großstadtlärm, Mental Load und tausend To-dos lässt sich nicht so schnell abschütteln. Das führt dazu, dass wir manchmal gar nicht so richtig in die Parasympathikus-Reaktion kommen, weil der Sympathikus einfach dauerhaft aktiviert bleibt - wir also dauerhaft „unter Strom” stehen.
Dauer der Nervensystemregulation
- Akute Stressreaktionen: Bei normalen, kurzzeitigen Stressreaktionen kann sich das vegetative Nervensystem innerhalb von 20 - 30 Minuten wieder beruhigen.
- Chronischer Stress: Bei längerer Belastung kann es Wochen bis Monate dauern, bis sich das dysregulierte Nervensystem wieder stabilisiert.
- Traumabedingte Dysregulation: Die Regulation ist ein individueller Prozess, der unterschiedlich lange dauern kann und bei dem sich professionelle Unterstützung empfiehlt.
Techniken zur Beruhigung und Regulierung des Nervensystems
Es gibt verschiedene Techniken, um das Nervensystem zu beruhigen und zu regulieren. Diese können in akuten Stressmomenten oder langfristig angewendet werden, um die Resilienz des Nervensystems zu stärken.
Atemtechniken
- Die 4-7-8-Atemtechnik: 4 Sekunden einatmen, 7 Sekunden den Atem halten und 8 Sekunden ausatmen. Diese Technik kann schnell beruhigend wirken und eignet sich auch als Atemübung bei Panikattacken.
- Zwerchfellatmung: Studien zeigen, dass Zwerchfellatmung den Cortisol-Spiegel reduzieren kann, indem sie das parasympathische Nervensystem aktiviert und die Herzratenvariabilität verbessert.
Körperliche Aktivität
Körperliche Aktivität hilft, das ausgeschüttete Adrenalin und Cortisol abzubauen und signalisiert dem Gehirn, dass die Gefahr vorüber ist - so kann sich das Nervensystem wieder sicher und ausgeglichener anfühlen. Körperliche Aktivität wird auch als besonders hilfreich erlebt, um den Stressreaktionszyklus zu beenden und so langfristig auch einem Burnout - einer der häufigsten Folgen von chronischem Stress - vorzubeugen.
Vagusnerv-Stimulation
Da der Vagusnerv so zentral für die Entspannung ist, gibt es spezielle Übungen, um ihn zu stimulieren und entspannter zu werden:
- Singen oder Summen: Aktiviert auf sanfte Weise den ventralen Vagus, besonders über die Schwingung im Kehlbereich.
- Kältereize: Kaltes Wasser im Gesicht oder eine kalte Dusche können den Vagusnerv stimulieren.
Weitere Techniken
- Achtsamkeitsübungen und Meditation: Regelmäßige Meditation und Achtsamkeitsübungen können den Geist und das Nervensystem beruhigen und bei regelmäßiger, täglicher Übung helfen, die Stressresilienz zu stärken.
- Yoga: Yoga gegen Stress und Yoga gegen Angst verbinden körperorientierte Ansätze mit Atemarbeit und können besonders effektiv sein, um das Nervensystem zu beruhigen.
- Ausreichend Schlaf: Guter Schlaf ist essenziell, um das Nervensystem beruhigen zu können. Sorge deswegen dafür, dass du genug Ruhezeit in der Nacht hast und nutze die 10 Regeln der Schlafhygiene, um deinen Schlaf zu verbessern.
- Emotionen zulassen: Manchmal kann es richtig guttun, einfach mal die angestauten Emotionen herauszulassen.
- Soziale Interaktionen: Lockere, freundliche und liebevolle soziale Interaktionen sind ein gutes äußeres Zeichen, dass die Welt ein sicherer Ort ist.
Integration in den Alltag
Viele Klientinnen berichten, dass es für sie schwierig ist, die Nervensystem-Übungen in den Alltag einzubauen. Darum hier ein paar Ideen, wie es leichter gehen kann:
- Sanfte Berührung entlang des ventralen Vagusnervs: Massiere dafür deine Ohren und streiche mit den Händen langsam und achtsam an den Seiten deines Halses entlang nach unten Richtung Herz.
Es ist sinnvoll, die Übungen auch dann regelmäßig anzuwenden, wenn dein Nervensystem nicht akut dysreguliert ist. Dein Nervensystem lernt durch Wiederholung und wenn es die Übung schon kennt, funktioniert sie in der akuten Situation besser.
Die Polyvagal-Theorie in der Praxis
Die Polyvagal-Theorie hat sowohl die Trauma-Therapie als auch das Coaching revolutioniert. Besonders bei Entwicklungstrauma - jenen subtilen, aber prägenden Verletzungen aus der Kindheit - zeigt sich der Wert des polyvagalen Verständnisses. Im Coaching wird deutlich, dass viele emotionale Blockaden und wiederkehrende Muster ihre Wurzeln in frühen Prägungen des Nervensystems haben.
Ein Coach, der die Polyvagal-Theorie versteht, erkennt, wenn ein Klient im dorsalen Vagus-Zustand “eingefroren” ist oder durch sympathische Übererregung getrieben wird. Erfolgreiche Coaching-Arbeit bei Entwicklungstrauma beginnt daher mit der Regulation des Nervensystems. Coaches schaffen zunächst ein Gefühl von Sicherheit und helfen ihren Klienten, wieder Zugang zu ihrem ventralen Vagus zu finden.
Der zentrale Aspekt von Traumaheilung ist, dass sich der Körperzustand verändert - weniger Stress ist die Ursache, warum wir uns wohlfühlen. Doch die Regulation des Nervensystems hängt ursächlich von der Erfahrung von Sicherheit im Kontakt und der Zugehörigkeit zu einer Gruppe ab. Es gibt eine Lösung letztlich nur durch neue Beziehungsmuster. Im Coaching bedeutet dies: Du machst die Erfahrung von Sicherheit, während du im Kontakt mit einem Menschen bist, und das erlaubt es deinem Körper, jahrzehntelang festgehaltene Spannungen zu lösen. Dies führt dazu, dass dein Nervensystem die Entwicklung auf Beziehungsebene nachholt, die als Kind nicht möglich war.
Führungskräfte, die die Polyvagal-Theorie verstehen, verfügen über einen entscheidenden Vorteil im Umgang mit ihren Teams. Eine Führungskraft, die selbst im ventralen Vagus-Zustand ist, überträgt diese Regulation auf ihr Team. Ihre ruhige Stimme, offene Körpersprache und authentische Präsenz signalisieren Sicherheit. Moderne Führung bedeutet nicht mehr, Autorität durch Dominanz auszuüben. Stattdessen schaffen wirksame Führungskräfte psychologische Sicherheit, in der Innovation und Kreativität gedeihen können.
Polyvagal-Übungen für den Alltag
- Atemübungen: Die das Ausatmen verlängern, aktivieren den Vagus-Nerv.
- Summen, Singen oder Gähnen: Stimulieren ebenfalls die parasympathischen Anteile.
- Autonomes Zittern: Ein natürlicher Mechanismus, den auch Tiere nutzen, um Stress abzubauen.
- Bewusste Neuroception: Wir können lernen, Signale von Sicherheit bewusst wahrzunehmen - ein Vogel, der vor dem Fenster singt, die warme Sonne auf der Haut oder das Lächeln eines Freundes.
Kritik an der Polyvagal-Theorie
Die Polyvagal-Theorie Kritik konzentriert sich hauptsächlich auf anatomische Details von Porges’ ursprünglichen Annahmen. Einige Neurowissenschaftler argumentieren, dass bestimmte evolutionäre Zuordnungen zu vereinfachend dargestellt werden. Diese Kritik schmälert jedoch nicht den praktischen Wert der Polyvagal-Theorie. Selbst wenn nicht alle Details anatomisch exakt sind, bietet das Modell einen wertvollen Rahmen für das Verständnis menschlicher Reaktionen auf Stress und Trauma. Die klinischen Erfahrungen bestätigen immer wieder die Nützlichkeit des polyvagalen Denkens.
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