Sigmund Freuds Fallgeschichte "Aus der Geschichte einer infantilen Neurose" (1918), auch bekannt als "Der Wolfsmann", ist eine der bekanntesten und meistdiskutierten seiner Schriften. Sie bietet einen detaillierten Einblick in die frühe Entwicklung eines jungen Mannes und die Entstehung seiner Neurose.
Einleitung
Die Fallgeschichte des "Wolfsmannes" ist ein faszinierendes Beispiel für die Anwendung der psychoanalytischen Theorie auf eine infantile Neurose. Freud rekonstruiert die frühen Kindheitserlebnisse seines Patienten und zeigt, wie diese zur Entwicklung seiner späteren psychischen Probleme beigetragen haben. Der Fall zeichnet sich durch eine Reihe von Besonderheiten aus, die es wert machen, hervorgehoben zu werden.
Hintergrund des Patienten
Der Patient, Sergej K. Pankejeff, stammte aus Russland und litt unter Depressionen und Entscheidungsschwäche. Er war achtzehn Jahre alt, als er nach einer Gonorrhö-Infektion zusammenbrach und gänzlich abhängig und existenzunfähig wurde. Mehrere Jahre später begab er sich in psychoanalytische Behandlung. Seine Jugend hatte er annähernd normal verbracht und seine Mittelschulstudien ohne viel Störung erledigt. Seine früheren Jahre waren jedoch von einer schweren neurotischen Störung beherrscht gewesen, die kurz vor seinem vierten Geburtstag als Angsthysterie (Tierphobie) begann, sich dann in eine Zwangsneurose mit religiösem Inhalt umsetzte und mit ihren Ausläufern bis in sein zehntes Jahr hineinreichte.
Die Analyse bei Freud
Die Analyse bei Freud begann, weil er dem Patienten auf seine Frage, ob er zu seiner Geliebten zurückkehren solle oder nicht, spontan mit einem klaren Ja antwortete. Für den Patienten bedeutete die klare Aussage Freuds einen Ausweg aus seinem quälenden Schwanken. Freud relativierte seine Direktivität jedoch realitätsgerecht und fügte hinzu, dass die Rückkehr zu Therese erst nach einiger Zeit Psychoanalyse möglich wäre. Pankejeff unterstrich in seinen Erinnerungen, wie groß die Bedeutung von Freuds Reaktion im Erstgespräch für ihn war.
Pankejeff, der viel Zeit in Kliniken verbracht hatte, kam mit der Vordiagnose "manisch-depressives Irresein" zu Freud. Freud lehnte die Diagnose jedoch ab, da er in vielen Jahren bei dem Patienten keine Stimmungswechsel erlebt hatte, wie sie bei dieser Diagnose zu erwarten gewesen wären. Pankejeff lag vier Jahre lang sechs Tage pro Woche auf Freuds Couch und wurde nach circa 1200 Behandlungsstunden für geheilt gehalten und entlassen.
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Freuds Interventionen und das Therapieende
Auch am Ende der Therapie des Wolfsmanns griff Freud aktiv ein, indem er einen Termin für die letzte Sitzung festsetzte. Damit baute er einen deutlichen Druck auf und den Widerstand gegen die Therapie ab, wodurch die Arbeit wesentlich besser vorangehen konnte.
Kritik am Therapieerfolg
Geheilt war Pankejeff allerdings nicht - hier lag Freud mal wieder falsch. Später wurde er nach einer weiteren Behandlung durch Ruth Mack Brunswick sogar für unheilbar erklärt.
Die infantile Neurose im Fokus
Freud konzentrierte sich in seiner Analyse auf die infantile Neurose des Patienten, die er als Schlüssel zum Verständnis seiner späteren Erkrankung ansah. Er betonte, dass er es abgelehnt habe, die vollständige Geschichte seiner Erkrankung, Behandlung und Herstellung zu schreiben, da er diese Aufgabe als technisch undurchführbar und sozial unzulässig erkannte. Damit fiel auch die Möglichkeit weg, den Zusammenhang zwischen seiner infantilen und seiner späteren definitiven Erkrankung aufzuzeigen. Freud konnte von dieser letzteren nur angeben, dass der Kranke ihretwegen lange Zeit in deutschen Sanatorien zugebracht hat und damals von der zuständigsten Stelle als ein Fall von "manisch-depressivem Irresein" klassifiziert worden ist.
Vorteile der retrospektiven Analyse
Freud argumentierte, dass die Analyse einer infantilen Neurose, die erst Jahre nach ihrem Abklingen durchgeführt wird, sowohl Vor- als auch Nachteile hat. Eine Analyse am neurotischen Kind selbst mag vertrauenswürdiger erscheinen, ist aber möglicherweise nicht sehr inhaltsreich. Die Analyse der Kindheitserkrankung durch das Medium der Erinnerung bei dem Erwachsenen und geistig Gereiften ist von diesen Einschränkungen frei, aber man muss die Verzerrung und Zurichtung in Rechnung bringen, welcher die eigene Vergangenheit beim Rückblick aus späterer Zeit unterworfen ist.
Die Bedeutung kindlicher Neurosen für das Verständnis von Neurosen
Freud betonte, dass Analysen von kindlichen Neurosen ein besonders hohes theoretisches Interesse beanspruchen können. Sie leisten für das richtige Verständnis der Neurosen Erwachsener ungefähr soviel wie die Kinderträume für die Träume der Erwachsenen.
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Widerstand gegen die Psychoanalyse und die Bedeutung kindlicher Neurosen
Freud argumentierte, dass das Studium der kindlichen Neurosen die volle Unzulänglichkeit von seichten oder gewaltsamen Umdeutungsversuchen der Psychoanalyse erweist.
Schwierigkeiten und Besonderheiten der Analyse
Freud hob hervor, dass die Analyse des Wolfsmannes aufgrund der Schwere der Erkrankung und der Dauer ihrer Behandlung besondere Schwierigkeiten bot. Die ersten Jahre der Behandlung erzielten kaum eine Änderung. Freud konnte sich nur aussagen, dass er sich in solchem Falle ebenso "zeitlos" verhalten muss wie das Unbewusste selbst, wenn er etwas erfahren und erzielen will. Er musste auf kurzsichtigen therapeutischen Ehrgeiz verzichten.
Die Rolle des Widerstands und die Bedeutung der Terminfestsetzung
Der Patient blieb lange Zeit hinter einer Einstellung von gefügiger Teilnahmslosigkeit unangreifbar verschanzt. Es bedurfte einer langen Erziehung, um ihn zu bewegen, einen selbständigen Anteil an der Arbeit zu nehmen. Seine Scheu vor einer selbständigen Existenz war so groß, dass sie alle Beschwerden des Krankseins aufwog. Freud musste warten, bis die Bindung an seine Person stark genug geworden war, um ihr das Gleichgewicht zu halten, dann spielte er diesen einen Faktor gegen den anderen aus. Er bestimmte, dass die Behandlung zu einem gewissen Termin abgeschlossen werden müsse, gleichgültig, wie weit sie vorgeschritten sei. Unter dem unerbittlichen Druck dieser Terminsetzung gab sein Widerstand, seine Fixierung ans Kranksein nach, und die Analyse lieferte nun in unverhältnismäßig kurzer Zeit all das Material, welches die Lösung seiner Hemmungen und die Aufhebung seiner Symptome ermöglichte.
Die Rekonstruktion der Urszene
Ein zentraler Punkt in Freuds Analyse ist die Rekonstruktion einer "Urszene", in der der Patient als Kind Zeuge des elterlichen Geschlechtsverkehrs geworden sein soll. Diese Szene soll einen tiefgreifenden Einfluss auf seine psychische Entwicklung gehabt haben.
Die Rolle der Erinnerung und Konstruktion
Freud diskutiert die Frage, ob solche frühen Szenen als Erinnerungen reproduziert werden oder ob sie Ergebnisse der Konstruktion sind. Er betont, dass diese Infantilszenen in der Kur nicht als Erinnerungen reproduziert werden, sie sind Ergebnisse der Konstruktion. Sie müssen schrittweise und mühselig aus einer Summe von Andeutungen erraten - konstruiert - werden. Freud argumentiert jedoch, dass Träume, die regelmäßig zu derselben Szene zurückführen, der Erinnerung gleichwertig sind.
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Die Bedeutung der Urszene für die Symptombildung
Freud argumentiert, dass die Urszene, wenn sie technisch richtig entwickelt wurde und unerlässlich ist zur zusammenfassenden Lösung aller Rätsel, welche uns die Symptomatik der Kindheitserkrankung aufgibt, mit Rücksicht auf ihren Inhalt unmöglich etwas anderes sein kann als die Reproduktion einer vom Kinde erlebten Realität.
Die Familie des Patienten
Der Patient wuchs in einer gutsituierten Familie auf, die ein Landgut besaß. Seine Eltern waren jung verheiratet und führten zunächst eine glückliche Ehe, auf welche bald ihre Erkrankungen die ersten Schatten warfen, die Unterleibskrankheiten der Mutter und die ersten Verstimmungsanfälle des Vaters, die seine Abwesenheit vom Hause zur Folge hatten.
Die Rolle der Kinderfrau und der englischen Gouvernante
Eine Kinderfrau betreute ihn, ein ungebildetes altes Weib aus dem Volke, von unermüdlicher Zärtlichkeit für ihn. In einem Sommer war eine englische Gouvernante anwesend, die sich als eine närrische, unverträgliche, übrigens dem Trunke ergebene Person erwies. Die Mutter war darum geneigt, die Charakterveränderung des Knaben mit der Einwirkung dieser Engländerin zusammenzubringen, und nahm an, sie habe ihn durch ihre Behandlung gereizt. Die scharfsichtige Großmutter, die den Sommer mit den Kindern geteilt hatte, vertrat die Ansicht, daß die Reizbarkeit des Knaben durch die Zwistigkeiten zwischen der Engländerin und der Kinderfrau hervorgerufen sei.
Die Kontroverse um die Deutung infantiler Szenen
Freud setzt sich mit der Frage auseinander, ob solche frühinfantile Szenen Reproduktionen realer Begebenheiten sind oder Phantasiebildungen, die der Zeit der Reife ihre Anregung entnehmen. Er argumentiert, dass eine neurotische Erkrankung im vierten oder fünften Jahr der Kindheit beweist, dass die infantilen Erlebnisse für sich allein imstande sind, eine Neurose zu produzieren, ohne dass es dazu der Flucht vor einer im Leben gestellten Aufgabe bedürfte.
Die Bedeutung der Analyse für das Verständnis der menschlichen Psyche
Die Fallgeschichte des "Wolfsmannes" ist ein wichtiger Beitrag zum Verständnis der menschlichen Psyche. Sie zeigt, wie frühe Kindheitserlebnisse die spätere Entwicklung beeinflussen können und wie die Psychoanalyse helfen kann, unbewusste Konflikte aufzudecken und zu bearbeiten.
Die Freud-Klein-Kontroverse
Die Freud-Klein-Kontroverse ist die bis heute größte Auseinandersetzung innerhalb der Psychoanalyse. Kleins Werk kann als eine bedeutende Weiterentwicklung der Psychoanalyse gesehen werden. Sie hatte eine Spieltechnik als Methode zur Psychoanalyse von Kindern entwickelt und die herausragende Entdeckung gemacht, dass im Spiel in symbolischer Form dargestellte psychische Inhalte der Deutung zugänglich waren. Sie deutete die unbewussten Ängste und Wünsche der Kinder auf Basis von Übertragungsprozessen und ging davon aus, dass Kinder schon früh eine starke positive und negative Übertragung zur Psychoanalytikerin herstellen.
Anna Freud vertrat die Auffassung, dass die Analyse des Ödipuskomplexes schädlich sei, weil das Ich des Kindes zu fragil sei. Um die Technik der Kinderanalyse entwickelte sich eine inhaltliche Kontroverse zwischen den beiden Frauen. Auch zu Sigmund Freuds Theoriegebäude entwickelte Klein einige Unterschiede, indem sie prägenitale Formen des Ödipuskomplexes annahm. Sie ging davon aus, dass beim Kind von Anfang an Objektbeziehungen existieren.
Alfred Adlers Bedeutung
Dreh- und Angelpunkt der Freud-Adler-Kontroverse ist die Behandlung von Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen. Für Freud wurden Adler und seine Patienten zunehmend zum Problem, und es kam zum Bruch mit Adler. Adler zeigt in seinen Büchern eine hochentwickelte Kompetenz, mit Patienten umzugehen, die feindselige Haltungen einnahmen. Es gelang ihm sehr häufig, einen produktiven therapeutischen Prozess einzuleiten, wie auch seine eigenen Fallbeschreibungen zeigen.
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