Polyneuropathie ist ein Sammelbegriff für verschiedene Erkrankungen des peripheren Nervensystems, also der Nerven, die außerhalb des Gehirns und des Rückenmarks liegen. Diese Nerven sind für die Steuerung von Muskelbewegungen, die Übertragung von Sinneswahrnehmungen wie Berührung, Temperatur und Schmerz sowie die Funktion der inneren Organe verantwortlich. Bei einer Polyneuropathie ist die Reizweiterleitung der Nerven gestört, was zu vielfältigen Beschwerden führen kann.
Was ist Polyneuropathie?
Unter einer Polyneuropathie versteht man eine Gruppe von Erkrankungen, bei denen das periphere Nervensystem außerhalb des Gehirns und des Rückenmarks geschädigt ist. Die Nerven stellen den Kontakt zwischen dem Gehirn und den Muskeln, der Haut und allen inneren Organen her. Sie leiten wichtige Befehle aus der "Schaltzentrale" an die ausführenden Organe weiter. Werden diese Nerven beschädigt oder zerstört, ist dieser Informationsfluss empfindlich gestört.
Die Nerven steuern die Muskeltätigkeit, tragen das Körpergefühl und die Wahrnehmung auf der Haut und beeinflussen die Funktion der inneren Organe. Bei einer Polyneuropathie ist die Reizweiterleitung der Nerven gestört. Reize werden nicht, zu stark oder abgeschwächt an das Gehirn geleitet. Kommandos vom Gehirn werden nicht mehr zuverlässig an die Muskeln und die inneren Organe weitergeleitet.
Es gibt zwei Möglichkeiten der Schädigung:
- Demyelinisierende Polyneuropathie: Die Isolation um die Nervenfasern (Myelin) zerfällt, sodass die elektrischen Impulse in der Nervenfaser nicht mehr richtig weitergeleitet werden.
- Axonale Polyneuropathie: Die Nervenfaser selbst geht kaputt.
Beide Formen können auch in Kombination auftreten.
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Ursachen von Polyneuropathie
Insgesamt gibt es mehr als 2.000 Auslöser für eine Polyneuropathie. In den meisten Fällen liegt einer Polyneuropathie eine Stoffwechsel-Erkrankung zugrunde. Sie tritt nur selten allein, z.B. als Erbkrankheit auf. Nicht immer lässt sich eine eindeutige Ursache feststellen. Rund 20 Prozent aller Fälle bleiben ungeklärt. Die häufigsten Ursachen sind:
- Diabetes mellitus: Ein dauerhaft erhöhter Blutzuckerspiegel schädigt die Nerven. Experten vermuten, dass der ständig erhöhte Blutzucker feinste Blutgefäße schädigt, welche die Nerven umspinnen und versorgen. Die diabetische Polyneuropathie zählt zu den Spätkomplikationen der Diabetes-Stoffwechselstörung. Das heißt, je länger die Krankheit besteht, desto wahrscheinlicher ist die Entstehung einer Neuropathie.
- Alkoholmissbrauch: Neben der akuten Giftwirkung des Alkohols spielt eine langfristige Unterversorgung mit B-Vitaminen eine Rolle. Alkoholabhängige Menschen ernähren sich häufig einseitig und ungesund. Diese Mangelernährung kann unter anderem zu einer Unterversorgung mit B-Vitaminen führen, was wiederum die Schädigung von Nervenstrukturen begünstigt.
- Weitere häufigere Ursachen:
- Schilddrüsenerkrankungen
- Nierenerkrankungen
- Lebererkrankungen
- Krebserkrankungen
- Medikamente gegen Krebs (Chemotherapeutika)
- Vitaminmangel (Vitamin B12) nach Magen-Operationen o.ä.
- Infektionen (z.B. HIV, Borreliose, Diphtherie, Pfeiffersches Drüsenfieber)
- Entzündungen der Nerven (Polyneuritis), z.B. Guillain-Barré-Syndrom (GBS)
- Autoimmunerkrankungen wie das Guillain-Barré-Syndrom oder rheumatoide Arthritis
- Einnahme bestimmter Medikamente wie zum Beispiel die Antibiotika Nitrofurantoin oder Metronidazol
- Kontakt mit giftigen Substanzen, etwa Schwermetalle
- HIV-Infektionen
- Erkrankungen, die auf Infektionen beruhen: Borreliose oder Syphilis
- Krebserkrankungen, beispielsweise Brustkrebs oder Blutkrebs
- hormonelles Ungleichgewicht, zum Beispiel ausgelöst durch eine Schilddrüsenunterfunktion
- erbliche Veranlagung (hereditäre Neuropathien)
Symptome von Polyneuropathie
Die Symptome einer Polyneuropathie können vielfältig sein, je nachdem, welche Nerven betroffen sind und welche Art von Schädigung vorliegt. Im Allgemeinen beginnen die Symptome meist an den Füßen und steigen dann langsam auf, Richtung Körpermitte. Später können auch die Hände betroffen sein.
Mediziner unterscheiden sensible, motorische und vegetative Polyneuropathien. Manche Menschen sind auch von mehreren Formen der Polyneuropathie gleichzeitig betroffen. Eine Polyneuropathie kann akut, sich schnell verschlechternd oder chronisch verlaufen.
Sensible Symptome:
Die sensiblen Nerven beeinflussen die Wahrnehmung von Empfindungen wie Berührung, Temperatur, Schmerz und Vibration. Zu den Symptomen gehören:
- Kribbeln
- Stechen
- Taubheitsgefühle
- Schwellungsgefühle
- Druckgefühle
- Gangunsicherheit
- Fehlerhaftes Temperaturempfinden
- Fehlendes Vibrationsempfinden
- Brennende Missempfindungen auf der Fußsohle ("burning feet")
- Schmerzende Muskelkrämpfe im Oberschenkel oder in der Wade
- Dumpfe oder stechende Schmerzen in der Leiste oder am vorderen Oberschenkel
- Überempfindlichkeit, bei der selbst leichte Berührungen (Allodynie) schmerzhaft sein können.
- Die Haut fühlt sich pelzig und fremd an.
- Erhöhte Verletzungsgefahr durch fehlendes Schmerzempfinden
Motorische Symptome:
Die motorischen Nerven beeinflussen die Muskulatur. Zu den Symptomen gehören:
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- Muskelzucken
- Muskelkrämpfe
- Muskelschwäche
- Muskelschwund
- Lähmungen, insbesondere in den Beinen und Füßen
- Schnellere Ermüdbarkeit
Autonome Symptome:
Die autonomen Nerven beeinflussen die Funktion unserer Organe. Dazu gehören Herz, Lunge, Magen, Darm, Blase und Geschlechtsorgane. Mögliche Symptome für eine Polyneuropathie sind:
- Herzrhythmusstörungen
- Blähgefühl und Appetitlosigkeit, Aufstoßen
- Durchfall und Verstopfung im Wechsel
- Urininkontinenz, Stuhlinkontinenz
- Impotenz
- Gestörtes Schwitzen
- Schlechte Kreislaufregulation mit Schwindel beim (raschen) Aufstehen (Orthostase)
- Schwellung von Füßen und Händen (Wassereinlagerungen)
- Verdauungsbeschwerden
- Probleme beim Wasserlassen
- Kreislaufprobleme wie Schwindel oder Ohnmacht beim Aufstehen
- Übermäßiges oder ausbleibendes Schwitzen
- Verzögerte Anpassung der Pupille an wechselnde Lichtverhältnisse
Diabetische Polyneuropathie:
Bei den meisten Diabetikern besteht in Folge des Diabetes eine Polyneuropathie. Die Symptome zeigen sich zuerst und vor allem im Fuß. Es beginnt meistens mit einem Kribbeln oder Brennen im Fuß. Im späteren Verlauf treten wegen fehlendem Gefühl im Fuß schmerzlose und schlecht heilende Wunden auf, die zu einer Nekrose (schwarzer Verfärbung und Absterben von Zehen, Fuß usw.) führen können (Diabetischer Fuß).
Diagnose von Polyneuropathie
Die Diagnose einer Polyneuropathie umfasst in der Regel folgende Schritte:
- Anamnese (Krankengeschichte): Der Arzt erfragt die genaue Art und Entwicklungsgeschichte der Beschwerden, wann und in welchem Zusammenhang diese begonnen haben und wie sie sich auswirken. Dabei werden auch Vorerkrankungen, Medikamente und der Alkoholkonsum erfragt.
- Körperliche Untersuchung: Der Arzt untersucht die Muskelkraft, Reflexe sowie die Wahrnehmung von Berührungen, Temperatur und Vibration.
- Neurologische Untersuchung: Hier werden Muskelkraft, Sensibilität und Muskeleigenreflexe geprüft. Am häufigsten beginnen die Symptome und Ausfälle an den unteren Extremitäten, meist an den Füßen oder Fußspitzen. In einer klinischen Untersuchung stellt man häufig abgeschwächte oder ausgefallene Muskelreflexe (insbesondere Achillessehnenreflex) und schlaffe Lähmungen fest. An den Extremitäten können sich Sensibilitätsstörungen socken-, strumpf- oder handschuhförmig ausbreiten. Zu den weiteren Symptomen gehört einerseits eine gesteigerte Schmerzempfindlichkeit, z. B. auf Berührung, Wärme oder Kälte. Je nach Schädigung der Nerven kann aber auch das Berührungs- und Schmerzempfinden abgeschwächt sein.
- Elektrophysiologische Untersuchungen:
- Elektroneurographie (ENG): Misst, wie schnell Nerven eine Erregung weiterleiten. Dabei wird ein Elektrodenset im Gebiet des Nervenverlaufs auf die Haut geklebt - so lassen sich die elektrischen Impulse der Nerven messen. Die Untersuchung hilft dabei, herauszufinden, wie die Nervensignale transportiert und im Körper verteilt werden - Nervenschädigungen führen zu einem auffälligen Ergebnis und geben Hinweise zur Abgrenzung der Nervenausfälle.
- Elektromyographie (EMG): Zeichnet die Aktivität eines Muskels in Ruhe und bei Anspannung auf. Macht deutlich, ob und wie stark die Muskeln auf die Nervensignale ansprechen. Bei dieser Untersuchung werden dünne Nadelelektroden durch die Haut in den entsprechenden Muskel eingeführt.
- Laboruntersuchungen (Bluttests): Können behandelbare Ursachen der Polyneuropathie aufdecken, beispielsweise einen Vitamin-B12-Mangel oder einen bis dahin unbekannten Diabetes mellitus.
- Weitere Untersuchungsmethoden:
- Analyse des Nervenwassers (Liquoruntersuchung)
- Erbgutanalyse (bei Verdacht auf genetische Polyneuropathie)
- Nervenbiopsie (Probenentnahme aus dem Nervengewebe)
- Bildgebende Verfahren (Magnetresonanztomografie oder Ultraschall)
Behandlung von Polyneuropathie
Am besten lässt sich eine Polyneuropathie therapieren, wenn die Ursache herausgefunden wurde und behandelt werden kann. Aber auch dann braucht es viele Wochen bis Monate, bis sich die Nerven erholen. Die Therapie der Polyneuropathie richtet sich nach ihrer Ursache. Sind die Nervenschäden wegen einer anderen Grunderkrankung entstanden, gilt es zuerst, diese zu behandeln.
Behandlung der Ursachen:
- Diabetische Polyneuropathie: Eine konsequente Blutzuckereinstellung ist entscheidend. Je besser die Werte langfristig eingestellt sind, desto eher lässt sich die Nervenschädigung stoppen. Bei Altersdiabetes empfehlen Ärzte eine Umstellung des Lebensstils mit Gewichtsreduktion und viel Bewegung. Als optimal gilt eine sanfte Senkung des HbA1c-Wertes um weniger als zwei Prozentpunkte über einen Zeitraum von drei Monaten.
- Alkoholbedingte Polyneuropathie: Für eine erfolgreiche Therapie ist eine absolute Alkoholabstinenz notwendig.
- Entzündungsbedingte Nervenschädigung: Je nach Erreger kann eine Antibiotika-Therapie oder eine antivirale Medikation helfen.
- Autoimmunentzündung: Entzündungshemmende Medikamente wie Kortison oder Immunglobuline kommen zum Einsatz.
- Vitaminmangel: Gezielte Ernährungsumstellung oder die Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln. Wichtig ist das Vermeiden einer Überdosierung, etwa von Vitamin B6.
Symptomatische Behandlung:
Auch wenn die Ursache der Erkrankung nicht eindeutig sein sollte, kann man Polyneuropathie symptomatisch behandeln. Dazu nutzen wir vor allem physikalische Therapie und Medikamente:
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- Medikamentöse Therapie:
- Schmerzmittel: Herkömmliche Schmerzmittel zeigen bei Nervenschmerzen kaum Wirkung. Besser wirken Medikamente, die ursprünglich gegen Epilepsie (Antikonvulsiva) und gegen Depression entwickelt wurden (Antidepressiva). Capsaicin ist für die Schärfe der Chilischoten verantwortlich und hat sich in Form von Capsaicin-Pflastern auf der Haut in Studien als erfolgversprechendes Mittel gegen Polyneuropathie erwiesen. Es betäubt nicht nur den schmerzenden Bereich und steigert die Durchblutung, sondern scheint sogar die Neubildung kleiner Nervenfasern anzuregen.
- Behandlung von Begleiterscheinungen: Bei Magen- und Darmproblemen helfen häufigere, aber kleinere Mahlzeiten. Übelkeit und Durchfall werden mit Medikamenten behandelt. Schwindel und körperliche Schwäche werden mit Stützstrümpfen und regelmäßigem Muskeltraining behandelt. Bestimmte Medikamente können Impotenz auslösen. Wirkstoffe wie Sildenafil können die Beschwerden lindern.
- Physikalische Therapie: In der physikalischen Therapie können vor allem sensible und motorische Symptome gelindert werden. Dazu nutzen wir Bäder, Elektrotherapie und Wärmeanwendungen. In der Krankengymnastik, der Sporttherapie und der medizinischen Trainingstherapie (spezielles Krafttraining) lernen Patienten spezielle Übungen und stärken ihre geschwächte Muskulatur. Gegen die fortschreitende Gangunsicherheit wirkt Gleichgewichtstraining in der Physiotherapie. Wie die gezielten Reize der Akupunktur die Nerven beleben, ist noch ungeklärt. Von außen lässt sich dieses durch ein TENS-Gerät erreichen.
Weitere Maßnahmen:
- Anpassung von Hilfsmitteln: Wenn Hilfsmittel (z.B. Gehhilfen, Rollstühle) erforderlich sind, werden diese an die Bedürfnisse und Lebensbedingungen angepasst.
- Optimale Pflege und möglichst Regenerierung der Haut und der chronischen Wunden
- Regelmäßige Kontrolle der Füße auf Druckstellen
- Tragen von bequemem Schuhwerk
- Meidung von Druck
- Nutzung professioneller Fußpflege
- Verbesserung des Lebensstils mit regelmäßiger körperlicher Betätigung (150 min Ausdauersport/Woche z. B. Schwimmen, Radfahren)
Alltag mit Polyneuropathie
Der Alltag mit einem eingeschränkten Temperatur- und Schmerzempfinden kann herausfordernd sein und erfordert besondere Vorsicht und Vorsorge, um Verletzungen zu vermeiden und frühzeitig zu erkennen sowie um Stürze zu vermeiden.
Tipps für den Alltag:
- Verletzungen frühzeitig erkennen: Kontrollieren Sie täglich sorgfältig Ihre Hände und Füße und achten Sie auf Rötungen, kleine Schnitte oder Druckstellen. Nutzen Sie für schwer einsehbare Stellen einen Handspiegel.
- Hautpflege: Regelmäßiges Eincremen beugt trockener, rissiger Haut vor, die anfällig für Erreger ist. Stellen Sie Wunden oder Entzündungen fest, sollten Sie frühzeitig ärztlichen Rat einholen. Auch medizinische Fußpflege kann eine sinnvolle Ergänzung sein.
- Schutz vor Verbrennungen oder Erfrierungen: Nutzen Sie ein Thermometer, um die Wassertemperatur zu überprüfen. Verzichten Sie zudem auf Wärmflaschen oder Heizdecken. Im Winter können warme Handschuhe und gut isolierte Schuhe vor Kälte schützen.
- Sicherheit zuhause und draußen: In den eigenen vier Wänden sind unter anderem rutschfeste Böden, ausreichende Beleuchtung und das Entfernen von Stolperfallen wie losen Teppichen, wichtig, um Stürzen vorzubeugen. Im Freien sollten Sie auf festes Schuhwerk, Gehhilfen, gut beleuchtete Wege und die Vermeidung glatter oder unebener Flächen achten.
Polyneuropathie und Sexualität
Die Nervenschädigung kann bei Männern und Frauen zu sexuellen Funktionsstörungen führen. Durch die Polyneuropathie sind die Nerven geschädigt, die für die Empfindungen und Steuerung von Körperfunktionen zuständig sind - darunter auch die Nerven, die an der sexuellen Reaktion beteiligt sind. Männer haben häufig Schwierigkeiten eine Erektion zu bekommen oder aufrechtzuerhalten. Frauen hingegen verspüren oft eine geringere Empfindlichkeit im Intimbereich, wodurch Erregung und Orgasmus erschwert sind. Zudem kann auch eine vaginale Trockenheit auftreten, was den Geschlechtsverkehr unangenehm macht. Auch Schmerzen oder Unsicherheiten können die Lust mindern und den Sexualtrieb negativ beeinflussen.
Was kann Betroffenen helfen? Sprechen Sie offen mit Ihrem behandelnden Arzt, am besten einem Neurologen oder Sexualmediziner.
Unterstützung für Betroffene
Für Erkrankte kann der Austausch mit anderen Betroffenen sehr hilfreich sein, zum Beispiel über Selbsthilfegruppen wie die Deutsche Polyneuropathie Selbsthilfe e.V.
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