Cannabis bei Polyneuropathie: Studienlage, Anwendung und Perspektiven

Etwa acht Millionen Menschen in Deutschland leiden unter chronischen Schmerzen, wobei bei zwei Millionen Betroffenen herkömmliche Therapien nicht ausreichend wirken. Hierzu zählen Patienten mit fortgeschrittenen Krebserkrankungen, Multipler Sklerose (MS) und Aids. Cannabinoide und Opioide, wie beispielsweise Dronabinol, können in solchen Fällen eine therapeutische Option darstellen.

Was ist Polyneuropathie?

Polyneuropathie ist eine Erkrankung, die durch Schädigungen oder Fehlfunktionen des peripheren Nervensystems gekennzeichnet ist. Die Symptome können vielfältig sein und das tägliche Leben erheblich beeinträchtigen. Zu den typischen Symptomen gehören:

  • Brennende, stechende oder kribbelnde Schmerzen, insbesondere in Händen und Füßen
  • Taubheitsgefühle oder Kribbeln (Ameisenlaufen)
  • Muskelschwäche und in schweren Fällen Muskelatrophie
  • Erhöhte oder reduzierte Empfindlichkeit gegenüber Berührungen, Schmerzen oder Temperaturunterschieden
  • Koordinationsprobleme und Gleichgewichtsstörungen in fortgeschrittenen Fällen

Die Diagnose erfolgt in der Regel durch eine Anamnese, körperliche Untersuchung sowie elektrophysiologische Tests wie Elektromyographie (EMG) und Nervenleitgeschwindigkeitstests (ENG). Die Klassifizierung erfolgt häufig anhand der zugrunde liegenden Ursache, wie beispielsweise diabetische oder alkoholbedingte Polyneuropathie.

Die Rolle des Endocannabinoid-Systems bei Nervenschmerzen

Das Endocannabinoid-System (ECS) ist ein komplexes Netzwerk von Rezeptoren, Enzymen und körpereigenen Cannabinoiden, das eine zentrale Rolle bei der Regulation verschiedener Körperfunktionen spielt, einschließlich der Schmerzwahrnehmung. Die wichtigsten Rezeptoren des ECS sind die CB1- und CB2-Rezeptoren.

  • CB1-Rezeptoren: Befinden sich hauptsächlich im zentralen Nervensystem und sind direkt an der Schmerzverarbeitung beteiligt. Die Bindung von THC oder anderen Cannabinoiden an diese Rezeptoren kann zu einer Schmerzreduktion führen.
  • CB2-Rezeptoren: Sind vorwiegend im Immunsystem und in peripheren Geweben zu finden. Sie spielen eine wichtige Rolle bei der entzündungshemmenden Wirkung von Cannabis und CBD.

Cannabinoide interagieren auch mit anderen Rezeptorsystemen wie den TRPV1-Vanilloid-Rezeptoren (Schmerz- und Temperaturwahrnehmung) und den NMDA-Glutamatrezeptoren (Entstehung chronischer Schmerzen).

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Medizinische Cannabis-Präparate und Dronabinol bei Nervenschmerzen

Für die Behandlung von Nervenschmerzen stehen verschiedene medizinische Cannabis-Präparate zur Verfügung, die von Ärzten bei therapieresistenten neuropathischen Schmerzen eingesetzt werden, wenn herkömmliche Behandlungen nicht ausreichend wirken.

  • Dronabinol: Ist ein synthetisch hergestelltes THC, das in Kapselform erhältlich ist. Es wird häufig bei chronischen Schmerzen eingesetzt und zeigt gute Erfolge bei Neuropathie-Patienten. Die Dosierung wird individuell angepasst und schrittweise erhöht. Dronabinol wirkt antiphlogistisch, analgetisch, anxiolytisch, antiemetisch, muskelrelaxierend, sedierend und appetitanregend.
  • Vollspektrum-Cannabis-Extrakte: Enthalten sowohl THC als auch CBD in verschiedenen Verhältnissen. Diese Präparate nutzen den sogenannten Entourage-Effekt, bei dem die verschiedenen Cannabinoide synergistisch wirken.
  • Nabiximols: Ein Mundspray mit THC und CBD, das sich besonders bei Multipler Sklerose-bedingten neuropathischen Schmerzen bewährt hat.

Die Deutsche Schmerzgesellschaft empfiehlt Cannabis als Drittlinientherapie bei therapieresistenten neuropathischen Schmerzen.

Aktuelle Forschung zur Wirksamkeit von Cannabis und CBD bei Nervenschmerzen

Die wissenschaftliche Evidenz für die Wirksamkeit von Cannabis bei Nervenschmerzen wächst stetig. Aktuelle Studien zeigen vielversprechende Ergebnisse.

  • Eine umfassende Analyse zeigt, dass 60-70% der Patienten mit Polyneuropathie eine signifikante Schmerzreduktion durch Cannabis-Behandlung erfahren.
  • Bei Patienten mit Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung (CMT) konnte eine durchschnittliche Schmerzreduktion von 50% durch Cannabis-Behandlung erreicht werden, wobei 80% dieser Patienten ihren Opioid-Konsum reduzieren konnten.
  • Cannabinoide als Pharmakotherapien bei neuropathischen Schmerzen zeigen in klinischen Studien konsistent positive Ergebnisse.

Im Vergleich zu traditionellen Schmerzmedikamenten wie Opioiden oder Antikonvulsiva zeigt Cannabis ein günstigeres Nebenwirkungsprofil.

Anwendung und Dosierung von Cannabis und CBD bei Nervenschmerzen

Die richtige Dosierung von Cannabis und CBD bei Nervenschmerzen ist entscheidend für den Behandlungserfolg. Eine individuell angepasste Dosierung minimiert Nebenwirkungen und maximiert die therapeutische Wirkung.

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  • Orale Anwendung von CBD-Öl: Hanftropfen gegen Schmerzen bieten eine präzise Dosierung und lang anhaltende Wirkung. Für Einsteiger wird empfohlen, mit einer niedrigen Dosierung zu beginnen und diese schrittweise zu erhöhen.
  • Inhalation: Bietet eine schnelle Wirkung, die bereits nach wenigen Minuten eintritt. Diese Anwendungsform eignet sich besonders für akute Schmerzschübe.
  • Topische Anwendung: CBD-Öl zum Einreiben kann bei lokalisierten Nervenschmerzen eine zusätzliche Option darstellen.
  • Sublinguale Anwendung: CBD-Tropfen werden unter die Zunge gegeben und dort für 1-2 Minuten gehalten, was eine relativ schnelle Wirkung mit guter Dosierbarkeit kombiniert.

Wichtiger Hinweis: Die Dosierung sollte immer individuell angepasst werden und in Absprache mit einem Arzt erfolgen.

Nebenwirkungen und Risiken von Cannabis bei Nervenschmerzen

Obwohl Cannabis und CBD bei Nervenschmerzen gut verträglich sind, können Nebenwirkungen auftreten.

  • Häufige Nebenwirkungen von CBD sind Müdigkeit, Schwindel und gelegentlich Übelkeit.
  • THC-haltige Präparate können psychoaktive Effekte wie Euphorie oder Angstgefühle verursachen.
  • Mundtrockenheit ist eine weitere häufige Nebenwirkung.

Cannabis und CBD können mit anderen Medikamenten interagieren, insbesondere mit Antikonvulsiva oder Antidepressiva. Patienten, die Blutverdünner einnehmen, sollten besonders vorsichtig sein.

Alternative und ergänzende Therapiemöglichkeiten bei Nervenschmerzen

Neben Cannabis und CBD gibt es verschiedene alternative und ergänzende Therapieansätze, die bei Nervenschmerzen hilfreich sein können.

  • Physiotherapie: Gezielte Übungen können die Durchblutung verbessern, Muskelverspannungen lösen und die Nervenfunktion unterstützen.
  • Akupunktur: Die Stimulation spezifischer Akupunkturpunkte kann die körpereigene Schmerzregulation aktivieren und das Endocannabinoid-System beeinflussen.
  • Entspannungstechniken: Meditation und Entspannungstechniken können das Schmerzempfinden positiv beeinflussen.

Eine multimodale Behandlung, die verschiedene Therapieformen kombiniert, zeigt oft die besten Ergebnisse.

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Rechtliche Aspekte und Verschreibung

Seit März 2017 können Cannabis-Präparate in Deutschland verordnet und auf Antrag auch von den Krankenkassen erstattet werden. Allerdings obliegt es der Einschätzung des behandelnden Arztes, ob sich eine Cannabis-Therapie positiv auf Symptome oder Krankheitsverlauf auswirken würde. Die Cannabinoide können vom Arzt nur in speziellen Einzelfällen verschrieben werden, insbesondere bei nicht anders behandelbaren schwersten chronischen Nervenschmerzen. Der Antrag auf Kostenübernahme durch die Krankenkasse bedarf einer besonderen Begründung durch den behandelnden Arzt.

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