Digitale Demenz: Mythos oder Realität? Eine umfassende Analyse

Die Frage, ob das Internet uns dümmer macht, ist ein viel diskutiertes Thema. Die ständige Verfügbarkeit von Informationen durch Smartphones, Tablets und Laptops hat unser Leben zweifellos verändert. Aber führt diese Bequemlichkeit wirklich zu einem Abbau unserer geistigen Fähigkeiten? Der Begriff "digitale Demenz" wurde von Manfred Spitzer geprägt und beschreibt die Vermutung, dass die Nutzung digitaler Medien negative Auswirkungen auf unser Gehirn hat. Dieser Artikel untersucht die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu diesem Thema und beleuchtet verschiedene Perspektiven.

Was ist digitale Demenz?

Der Begriff "digitale Demenz" wurde erstmals 2007 in der Korea Times erwähnt, als berichtet wurde, dass junge Menschen mit hoher Mediennutzung vermehrt unter Konzentrationsschwäche, Antriebslosigkeit und Vergesslichkeit litten. Manfred Spitzer griff diesen Gedanken auf und warnte in seinem Buch "Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen" vor den negativen Folgen digitaler Medien wie Vereinsamung, Verfettung und Verblödung. Er argumentiert, dass die ständige Nutzung von Computern, Smartphones und dem Internet zu einem Abbau unserer geistigen Fähigkeiten führt, da wir uns immer weniger merken müssen und unsere kognitiven Fähigkeiten verkümmern.

Spitzer kritisiert Navigationssysteme, Smartboards, E-Books und Kassiergeräte und vergleicht die Medien sogar mit der Tabak- und Waffenindustrie. Er fordert eine absolute Medienabstinenz für Kinder und bezeichnet Computer als "Lernverhinderungsmaschinen".

Die Gegenposition: Optimierung statt Abbau

Die Vorstellung, dass digitale Technologien unser Gehirn schädigen, wird jedoch von vielen Experten in Frage gestellt. Sie argumentieren, dass wir unser Gedächtnis entlasten, indem wir Faktenwissen in digitale Medien auslagern und so mehr Speicherkapazität für wichtigere Dinge schaffen.

Emrah Düzel vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) hält den Begriff "digitale Demenz" für unpassend. Er betont, dass der Umgang mit digitalen Medien keine Demenz verursachen kann. Vielmehr seien wir durch die schnelle und unkomplizierte Verfügbarkeit von Informationen weniger motiviert, uns diese selbst einzuprägen.

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Studien und Forschungsergebnisse

Eine Studie von Ben Storm und Sean Stone von der University of California in Santa Cruz untersuchte, ob digital induzierte Vergesslichkeit den Kopf für neue Informationen freimacht. Die Ergebnisse zeigten, dass das digitale Abspeichern von Informationen das Lernen neuer Informationen sogar erleichtert.

In den Experimenten lasen Psychologiestudenten zwei Wörterlisten (Liste A und Liste B). Nachdem sie Liste A gelesen und gespeichert hatten, konnten sie sich nicht nur mehr Wörter aus Liste A merken, sondern auch aus Liste B. Die Forscher schlussfolgerten, dass das Abspeichern von Daten, die man sich sonst merken müsste, das Lernen neuer Informationen erleichtert. Der digitale Speichervorgang schafft also Raum für neuen Stoff im Gehirn.

Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Furcht vor digitaler Demenz unbegründet sein könnte. Gary W. Small von der University of California in Los Angeles sieht die digitalen Stützen als eine Optimierung der natürlichen Tendenz des Gehirns zur Arbeitsteilung. Er argumentiert, dass wir uns Dinge nicht selbst merken müssen, wenn wir wissen, dass andere Personen oder Technologien diese Informationen bereithalten. Die neue Technologie mache diesen Prozess effizienter und schaffe größere Kapazitäten, neue Informationen zu lernen.

Vertrauen ist entscheidend

Storm und Stone wiesen jedoch auch darauf hin, dass der Auslagerungseffekt nur dann funktioniert, wenn das Gehirn sich auf den externen Speicher verlassen kann. Wenn es häufiger zu Datenverlusten beim Speichern kommt, wird auch der Kopf für neue Informationen nicht frei. Das Fazit lautet also: Ohne Vertrauen geht es nicht, auch nicht bei digitalen Gedächtnisstützen.

Medienkompetenz statt Abstinenz

Anstatt eine totale Medienabstinenz zu fordern, plädieren viele Experten für Medienpädagogik. Sie argumentieren, dass wir in einer Welt leben, in der Medien einen Großteil unseres Privat- und Arbeitslebens bestimmen. Daher ist es wichtiger, einen sinnvollen Umgang mit Medien zu lernen, als sie zu verteufeln.

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Medienkompetente Kinder und Jugendliche verstehen die Wirkungsweisen von Medien besser, können sie einordnen und einschätzen, ob sie ihnen guttun. Sie sind in der Lage, Inhalte produktiv und ihren individuellen Fähigkeiten entsprechend zu gestalten, selbstbestimmt vorzugehen und sich auch Fragen, Ziele und Antworten selbst zu stellen.

Die Herausforderungen der Digitalisierung

Die Digitalisierung bringt jedoch auch Herausforderungen für unser Gehirn mit sich. Die große Datenflut des Internets kann uns überfordern und es schwierig machen, wichtige von unwichtigen Informationen zu unterscheiden.

Simon Hanslmayr von der University of Birmingham betont, dass die Menge an digitalen Tools immer größere Anforderungen an unsere Aufmerksamkeit stellt. Wir benötigen neuronale Mechanismen der Hemmung, um der Versuchung zu widerstehen, ständig auf unser Handy zu schauen. Diese Fähigkeit muss trainiert werden.

Die Rolle der Schule

Die Schule spielt eine wichtige Rolle bei der Vermittlung von Medienkompetenz. Die deutschen Lehrpläne fordern ab der Grundschule die altersgemäße Einbeziehung der neuen Medien in den Unterricht. Dabei geht es nicht nur um die Bedienung von Computern und Software, sondern auch um die kritische Auseinandersetzung mit Medieninhalten und die Entwicklung von Strategien für eine verantwortungsvolle Mediennutzung.

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