Manfred Spitzer, ein bekannter deutscher Psychiater und Hirnforscher, hat mit seinem Buch "Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen" eine breite Debatte über die Auswirkungen digitaler Medien auf unsere Gesellschaft angestoßen. Spitzer warnt darin vor den negativen Folgen des übermäßigen Konsums digitaler Medien, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. Seine Thesen reichen von Verflachung, Vergesslichkeit und Vereinsamung bis hin zu konkreten gesundheitlichen Problemen wie Kurzsichtigkeit, Haltungsschäden und einem erhöhten Demenzrisiko im Alter. Obwohl Spitzers Anliegen, die Menschheit vor den vermeintlichen Gefahren der Digitalisierung zu bewahren, grundsätzlich ehrenwert ist, wird seine Argumentation in Fachkreisen kontrovers diskutiert und kritisiert.
Kern von Spitzers Kritik
Spitzer argumentiert, dass die Nutzung von Computern und anderen digitalen Medien das kindliche Gehirn nachhaltig schädigt. Da Inhalte am Computer oft nur oberflächlich konsumiert würden, bilde das Gehirn eine geringere Komplexität aus, was die "Verarbeitungstiefe" sinken lasse. Dies mache das Gehirn anfälliger für Demenz im Alter. Zudem sieht er Gefahren wie Internetsucht und ADHS.
Die wichtigsten Kritikpunkte an Spitzers Thesen lassen sich in fünf Kernbereiche gliedern:
1. Der kulturpessimistische und demagogische Stil: Spitzer wird vorgeworfen, einen alarmistischen und übertriebenen Stil zu pflegen, der eine sachliche Auseinandersetzung erschwert. Seine pauschalen Aussagen wie "Meiden Sie digitale Medien. Sie machen … tatsächlich dick, dumm, aggressiv, einsam, krank und unglücklich" werden als unhaltbare Verallgemeinerungen kritisiert. Eine differenzierte Betrachtung der Vor- und Nachteile digitaler Medien, sowie eine sinnvolle Integration in unser Leben, scheint in Spitzers Weltbild kaum vorstellbar.
2. Zweifelhafter Umgang mit Studien: Kritiker bemängeln, dass Spitzer Studien selektiv auswählt und interpretiert, um seine Thesen zu untermauern. Anstatt auf renommierte und breit angelegte Studien wie die JIM-Studie des MPFS zurückzugreifen, zitiert er oft umstrittene Quellen wie das KFN, um seine Argumentation zu stützen. Dies führt zu Pauschalisierungen und Zerrbildern, wie der Behauptung einer "verlorenen Generation junger Männer".
3. Fragwürdige Argumentationsweise: Spitzer wird vorgeworfen, Strohmann-Argumente zu konstruieren, die er dann lautstark widerlegt. Er greift Positionen an, die in der Realität kaum jemand vertritt, wie beispielsweise die Forderung nach "World of Warcraft" im Schulunterricht. Zudem blendet er die Ambivalenz sozialer Netzwerke aus und reduziert die Medienkompetenz auf die reine Fähigkeit zum Umgang mit digitalen Medien, ohne den Bezug zu umfassenderen Kompetenz- und Bildungsdiskursen herzustellen.
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4. Inszenierung von Konsequenzen ohne Beweisführung: Spitzer insinuiert oft negative Konsequenzen der digitalen Mediennutzung, ohne diese konkret zu belegen oder widerlegbare Behauptungen aufzustellen. So deutet er beispielsweise an, dass das Abspeichern von Daten im Gehirn dazu führe, dass wir uns weniger merken müssen, vermeidet aber eine klare Aussage darüber, was passieren würde, wenn die Cloud nicht verfügbar ist. Stattdessen begnügt er sich mit vagen Andeutungen und persönlichen Befürchtungen.
5. Zirkelschlüsse und Verschwörungstheorien: Spitzer wird vorgeworfen, Kritiker seiner Thesen von vornherein zu diskreditieren, indem er sie als "geschädigte Opfer" der digitalen Medien darstellt oder ihnen unterstellt, die Gefahren noch nicht erkannt zu haben. Seine pauschalen Angriffe auf "Ministerien, Kirchen, Wissenschaft, Amnesty International" und seine Andeutungen von Verschwörungen erinnern an Verfolgungswahn.
Beispiele für Spitzers Argumentation und deren Kritik
- Taxifahrer in London: Spitzer führt Taxifahrer in London als Beispiel an, um zu zeigen, dass die Nutzung von Navigationsgeräten die Fähigkeit zur räumlichen Orientierung verringert. Er verweist auf eine Studie, die angeblich zeigt, dass Taxifahrer mit mehr Berufserfahrung eine höhere Intensität der grauen Substanz im Hippocampus aufweisen. Kritiker bemängeln, dass Spitzer die Methodik der Studie nicht transparent macht und die Schlussfolgerungen überinterpretiert. Zudem blendet er aus, dass Stress durchaus positive Auswirkungen auf den Körper haben kann und dass Tierversuche (auf die er sich ebenfalls bezieht) oft nicht auf den Menschen übertragbar sind.
- Digitale Demenz bei Google: Spitzer argumentiert, dass der Begriff "Digitale Demenz" existieren müsse, weil man bei Google mehr als 50.000 Einträge dazu findet. Kritiker halten entgegen, dass die Anzahl der Google-Einträge kein valides Argument für die Richtigkeit einer These ist.
- Schule und Verarbeitungstiefe: In einem Kapitel über die Schule will Spitzer zeigen, dass "Verarbeitungstiefe" und "Behaltensleistung" einander bedingen. Um dies zu illustrieren, zeigt er eine Grafik, in der nicht einmal eine Dimension für die Behaltensleistung angegeben wird, sondern nur drei dunkle Balken in ansteigender Größe dargestellt werden. Kritiker bemängeln, dass dies keine Aufklärung oder gar Popularisierung von Wissenschaft, sondern Verdummung sei.
- Fernsehkonsum und Bildung: Spitzer zitiert eine neuseeländische Langzeitstudie, die angeblich einen direkten Zusammenhang zwischen Fernsehkonsum und Bildung zeigt. Kritiker weisen darauf hin, dass in diesem Fall möglicherweise keine Kausalität vorliegt, sondern dass sowohl Fernsehkonsum als auch schlechte Bildungskarriere Folgen von Armut sein können.
Alternativen zu Spitzers Ansatz: Medienpädagogik statt Abstinenz
Anstatt auf Verbote und Abstinenz zu setzen, plädieren viele Experten für einen stärkeren Fokus auf Medienpädagogik. Kinder und Jugendliche sollten lernen, wie sie digitale Medien verantwortungsvoll und kritisch nutzen können. Dazu gehört auch die Vermittlung von Wissen über die Risiken und Chancen der digitalen Welt.
Medienkompetenz sollte folgende Aspekte umfassen:
- Kritisches Denken: Fähigkeit, Informationen aus verschiedenen Quellen zu bewerten und einzuordnen.
- Verantwortungsbewusster Umgang: Wissen um die Auswirkungen des eigenen Handelns in der digitalen Welt (z.B. Cyber-Mobbing).
- Kreativität: Nutzung digitaler Medien zur eigenen Gestaltung und zum Ausdruck von Ideen.
- Kommunikationsfähigkeit: Fähigkeit, effektiv und respektvoll in digitalen Umgebungen zu kommunizieren.
- Technische Kompetenz: Grundlegendes Verständnis der Funktionsweise digitaler Medien.
Die Rolle der Politik und Bildungseinrichtungen
Die Politik und Bildungseinrichtungen tragen eine wichtige Verantwortung bei der Förderung von Medienkompetenz. Es ist wichtig, dass Schulen nicht nur mit Laptops und digitalen Tafeln ausgestattet werden, sondern auch Lehrkräfte ausgebildet werden, die in der Lage sind, Medienkompetenz zu vermitteln. Zudem sollten Eltern in die Medienerziehung ihrer Kinder einbezogen werden.
Einige Länder, wie beispielsweise Schweden, haben bereits begonnen, den Einsatz digitaler Medien im Unterricht zu überdenken und wieder stärker auf traditionelle Lernmethoden zu setzen. In Deutschland gibt es ebenfalls eine Diskussion über ein Handyverbot an Schulen.
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