Epilepsie-Diagnostik-Leitlinien: Ein umfassender Überblick

Die Diagnose und Behandlung von Epilepsie hat sich in den letzten Jahren stetig weiterentwickelt. Um Ärzten und anderen medizinischen Fachkräften eine praxisorientierte Hilfestellung zu bieten, wurden Leitlinien entwickelt, die den aktuellen Wissensstand und die besten Vorgehensweisen zusammenfassen. Eine dieser Leitlinien ist die S2k-Leitlinie "Erster epileptischer Anfall und Epilepsien im Erwachsenenalter", die im September 2023 von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Epileptologie (DGfE) herausgegeben wurde.

Was sind Leitlinien?

Leitlinien dienen der Verbesserung der medizinischen Versorgung, indem sie aktuelles Wissen vermitteln, das systematisch recherchiert und kritisch bewertet wurde. Sie sollen als Orientierungshilfe dienen und das Patientenwohl in den Mittelpunkt stellen. Die AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften) spielt in Deutschland eine zentrale Rolle bei der Erstellung und Publikation von Leitlinien. Ihr "AWMF-Regelwerk Leitlinien" basiert auf international akzeptierten Qualitätskriterien und methodischen Standards.

Die S2k-Leitlinie: Merkmale und Entwicklungsprozess

Die aktuelle Leitlinie ist eine S2k-Leitlinie, die sich von der bisherigen S1-Leitlinie (Handlungsempfehlung) durch folgende Merkmale unterscheidet:

  • Eine repräsentative Gruppe von Autoren aus verschiedenen Fachbereichen
  • Die Beteiligung anderer Fachgesellschaften und von Patienten
  • Eine Graduierung der Stärke der Empfehlungen
  • Eine strukturierte Konsensusfindung

An der Erstellung der Leitlinie waren insgesamt 66 Personen beteiligt, darunter Neurologinnen, Neurochirurginnen, Psychologinnen und Sozialarbeiterinnen. Nach Fertigstellung wurden weitere Fachgesellschaften um Kommentierung gebeten. Auch die Perspektive der Betroffenen wurde durch die Beteiligung der Deutschen Epilepsievereinigung e. V. berücksichtigt.

Der Entwicklungsprozess umfasste strukturierte Konsensuskonferenzen und Online-Abstimmungen im Delphi-Verfahren. Die Stärke der Empfehlungen wurde nach AWMF-Regeln in drei Empfehlungsgrade unterteilt: Soll, Sollte und Kann. Die Konsensstärke wurde klassifiziert und durch die Angabe der prozentualen Zustimmung ergänzt.

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Inhalte und Schwerpunkte der S2k-Leitlinie

Die S2k-Leitlinie deckt ein breites Spektrum an Themen im Bereich der Epilepsie ab, darunter:

  • Diagnostik: Die Leitlinie betont die Bedeutung der bildgebenden Diagnostik (MRT bevorzugt gegenüber CT) und des EEGs. Bei Verdacht auf eine symptomatische Anfallsgenese können zusätzliche Untersuchungen wie Lumbalpunktion und laborchemische Analysen erforderlich sein. Auch der mögliche Einsatz genetischer Diagnostik hinsichtlich der syndromalen Zuordnung der Epilepsie wird näher erläutert. Weitere wichtige Themen sind Screenings hinsichtlich neuropsychologischer Defizite und psychiatrischer Komorbiditäten.
  • Therapie: Die Pharmakotherapie ist die wichtigste Säule in der Behandlung der Epilepsie, für die zahlreiche erprobte Wirkstoffe zur Verfügung stehen. Die Leitlinie enthält klare Empfehlungen für die Mittel der Wahl in Monotherapie bei fokalen und generalisierten Epilepsien. Ein weiteres Augenmerk liegt auf den Herausforderungen der Polytherapie - gerade hinsichtlich Nebenwirkungen und Interaktionen. In einer Übersichtstabelle finden die Leser:innen relevanten Informationen zu den anfallssuppressiven Medikamenten, z. B. hinsichtlich Dosierung, Titration und Zulassungsbereich.
  • Epilepsiechirurgie: Durch die operative Entfernung des Anfallsursprungs kann bei vielen Patient:innen mit pharmakoresistenter Epilepsie Anfallsfreiheit bzw. eine erhebliche Reduktion der Anfallshäufigkeit und -schwere erreicht werden. Die Informationen in dieser Leitlinie zu den verschiedenen Verfahren und die klaren Empfehlungen zur prächirurgischen Diagnostik und Epilepsiechirurgie, die nur von spezialisierten Zentren durchgeführt werden, sollen diesen Behandlungsansatz als effektive Therapieoption für Patient:innen mit schwer behandelbarer Epilepsie mehr in den Vordergrund rücken.
  • Komplementäre und supportive Therapieverfahren: Neben der Pharmakotherapie spielen bei der Epilepsie auch andere ergänzende und unterstützende Verfahren, wie z. B. ketogene Diäten, eine große Rolle. Vor allem die oft bestehenden psychiatrischen Komorbiditäten bedürfen ihrerseits einer spezifischen Therapie. Psychopharmaka und Anfallssuppressiva sollten gut aufeinander abgestimmt werden, um Interaktionen zu vermeiden. Darüber hinaus wird auch auf den Stellenwert psychotherapeutischer Verfahren bei Angststörungen und Depression sowie auf den von neuropsychologischen Therapien bei kognitiven Störungen hingewiesen. Das Ziel dieser Therapieansätze besteht letztendlich darin, die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern. Yoga und Entspannungsübungen können hier ebenso wie Biofeedback-Verfahren oder Musiktherapie unterstützend helfen.
  • Psychosoziale Aspekte: Bei der Epilepsie handelt es sich um eine chronische neurologische Erkrankung, die in der Öffentlichkeit immer noch mit Unkenntnis und Tabus behaftet ist. Umso größer ist die Rolle, die psychosoziale Aspekte im Versorgungsmanagement spielen. Neurolog:innen, Sozialarbeiter:innen, Psycholog:innen und Mitarbeitende anderer Disziplinen sind wichtige Ansprechpartner:innen, die die multi- und interdisziplinäre Beratung der Patient:innen gewährleisten. Sie fungieren als Berater und Lotsen, wenn es um Themen wie Kraftfahreignung, Ausbildung und Beruf, aber auch Partnerschaft, Familie, Sport und Reisen geht.

Diagnostische Verfahren im Detail

Die Diagnostik von Epilepsie umfasst verschiedene Verfahren, die dazu dienen, die Ursache der Anfälle zu identifizieren und die Art der Epilepsie zu bestimmen.

Bildgebende Verfahren

  • Kernspintomographie (MRT): Die MRT ist das bevorzugte bildgebende Verfahren, da sie eine detailliertere Darstellung von Gehirnstrukturen ermöglicht als die Computertomographie (CT). Sie ist besonders wichtig für die Erkennung von kortikalen Malformationen und Veränderungen im Hippocampus. Bei der Durchführung der MRT ist auf eine enge Schichtführung im Bereich des vermuteten epileptogenen Fokus zu achten.
  • Computertomographie (CT): Die CT kann in bestimmten Fällen als Alternative zur MRT eingesetzt werden, insbesondere wenn eine schnelle Bildgebung erforderlich ist oder Kontraindikationen für eine MRT vorliegen.

Elektroenzephalographie (EEG)

  • Oberflächen-EEG: Ein Oberflächen-EEG nach dem 10/20-System sollte angefertigt werden, um nach fokalen oder generalisierten epilepsietypischen Entladungen beziehungsweise dem Auftreten von epileptischen Anfallsmustern zu suchen.
  • Schlafentzugs-EEG und 24-Stunden-EEG: Diese Verfahren können die Wahrscheinlichkeit erhöhen, epilepsietypische Aktivität im EEG zu erfassen, insbesondere wenn das Standard-EEG unauffällig ist.
  • Video-EEG-Monitoring: Das Video-EEG-Monitoring ermöglicht die gleichzeitige Aufzeichnung von EEG und Video, was bei der Differenzierung zwischen epileptischen und nicht-epileptischen Anfällen hilfreich sein kann.

Weitere diagnostische Maßnahmen

  • Lumbalpunktion und Liquoranalyse: Bei Verdacht auf eine symptomatische Anfallsgenese kann eine Lumbalpunktion zur Liquoranalyse erforderlich sein, um Entzündungen oder andere Erkrankungen des zentralen Nervensystems auszuschließen.
  • Laborchemische Untersuchungen: Blutbild, harnpflichtige Substanzen, Lebertransaminasen, metabolische Untersuchungen, immunologische Untersuchungen sowie Drogen- und Medikamenten-Screening können Hinweise auf mögliche Ursachen der Epilepsie liefern.
  • Neuropsychologische Testverfahren: Neuropsychologische Tests können eingesetzt werden, um kognitive Defizite zu identifizieren, die mit der Epilepsie in Zusammenhang stehen könnten.
  • Psychiatrische Untersuchung: Eine psychiatrische Untersuchung kann erforderlich sein, um psychiatrische Komorbiditäten wie Depressionen oder Angststörungen zu erkennen und zu behandeln.
  • ECD-SPECT-Untersuchung der Gehirnperfusion: Dieses Verfahren kann dazu beitragen, den epileptogenen Fokus im Gehirn zu lokalisieren.

Therapie der Epilepsie: Medikamentöse Behandlung

Die medikamentöse Behandlung ist die wichtigste Säule der Epilepsietherapie. Ziel ist es, Anfallsfreiheit zu erreichen und gleichzeitig Nebenwirkungen zu minimieren.

Antikonvulsiva

Es stehen eine Reihe von älteren und neueren Antikonvulsiva zur Verfügung, die nach individuellen Gesichtspunkten auszuwählen sind. Bei der Erstbehandlung wird in der Regel eine Monotherapie bis zum Sistieren der Anfälle oder Auftreten von Nebenwirkungen durchgeführt.

  • Monotherapie: Für die Monotherapie stehen unter anderem Carbamazepin, Gabapentin, Lamotrigin, Levetiracetam, Oxcarbazepin, Phenobarbital, Phenytoin, Primidon, Topiramat und Valproinsäure zur Verfügung.
  • Kombinationstherapie: Beim Versagen der ersten Monotherapie kann eine alternative Monotherapie und schließlich Kombinationsbehandlungen erwogen werden. Bei der Kombinationstherapie können zusätzlich Levetiracetam, Pregabalin, Tiagabin und Zonisamid eingesetzt werden.

Die Behandlung mit Levetiracetam-Monotherapie und Zonisamid-Kombinationstherapie ist in den bisherigen Leitlinien noch nicht aufgeführt, da die Zulassung erst zwischenzeitlich erfolgte.

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Weitere Medikamente

Ergänzend zu den bereits aufgeführten Antikonvulsiva können Benzodiazepine in der Therapie chronischer Epilepsien gelegentlich eingesetzt werden (z.B. Clobazam), außerdem kann Sultiam angewandt werden. Selten kommen Acetazolamid, Diazepam, Clonazepam, Kaliumbromid, Felbamat, Mesuximid, Vigabatrin in Betracht, falls andere Antikonvulsiva eine unzureichende Wirkung entfalten.

Individuelle Therapieplanung

Das individuell vorliegende Syndrom, besondere Bedürfnisse des Patienten und Komorbiditätsfaktoren werden dann für die Auswahl des Antikonvulsivums herangezogen. Bezüglich der Dosierungsempfehlungen im Hinblick auf die Eindosierung und die Enddosis sowie die Vor- und Nachteile der einzelnen Antikonvulsiva wird auf die Einsicht der Leitlinien im Web und dgn.leitlinien.org verwiesen. Neben der Festlegung des individuellen Therapieziels wird außerdem angeraten, eine Behandlungsstrategie schriftlich zu fixieren.

Therapieresistenz

Bei Versagen jeglicher medikamentöser Behandlungsversuche sollte versucht werden, eine Polytherapie zur Zweifach- oder Monotherapie zu vereinfachen. Unter Umständen ist ein Vagusstimulator erfolgreich. Beim Versagen der zweiten Therapie sollte eine Zweitmeinung durch eine Spezialeinrichtung erfolgen, damit auch die Diagnose des Epilepsiesyndroms und gegebenenfalls die Indikation zum operativen Vorgehen überprüft werden kann.

Epilepsiechirurgie als Therapieoption

Die Epilepsiechirurgie kann eine effektive Therapieoption für Patienten mit pharmakoresistenter Epilepsie sein. Durch die operative Entfernung des Anfallsursprungs kann bei vielen Patienten Anfallsfreiheit oder eine erhebliche Reduktion der Anfallshäufigkeit und -schwere erreicht werden.

Prächirurgische Diagnostik

Vor einer Epilepsieoperation ist eine umfassende prächirurgische Diagnostik erforderlich, um den epileptogenen Fokus genau zu lokalisieren und die Eignung des Patienten für eine Operation zu beurteilen.

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Verschiedene Verfahren

Es gibt verschiedene epilepsiechirurgische Verfahren, die je nach Lage und Ausdehnung des epileptogenen Fokus eingesetzt werden können.

Spezialisierte Zentren

Epilepsiechirurgische Eingriffe sollten nur von spezialisierten Zentren durchgeführt werden, die über die erforderliche Expertise und Ausstattung verfügen.

Komplementäre und supportive Therapieverfahren

Neben der medikamentösen und chirurgischen Behandlung spielen komplementäre und supportive Therapieverfahren eine wichtige Rolle bei der Behandlung von Epilepsie.

Ketogene Diät

Die ketogene Diät ist eine spezielle Form der Ernährung, die bei einigen Patienten mit Epilepsie zu einer Reduktion der Anfallshäufigkeit führen kann.

Psychotherapie

Psychotherapeutische Verfahren können bei der Behandlung von psychiatrischen Komorbiditäten wie Depressionen oder Angststörungen hilfreich sein.

Neuropsychologische Therapie

Neuropsychologische Therapien können eingesetzt werden, um kognitive Störungen zu behandeln, die mit der Epilepsie in Zusammenhang stehen.

Entspannungsverfahren

Entspannungsverfahren wie Yoga, Biofeedback oder Musiktherapie können dazu beitragen, Stress abzubauen und die Lebensqualität zu verbessern.

Psychosoziale Aspekte der Epilepsie

Die Epilepsie ist eine chronische Erkrankung, die erhebliche Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen haben kann. Psychosoziale Aspekte spielen daher eine wichtige Rolle im Versorgungsmanagement.

Beratung und Unterstützung

Neurolog:innen, Sozialarbeiter:innen, Psycholog:innen und Mitarbeitende anderer Disziplinen sind wichtige Ansprechpartner:innen, die die multi- und interdisziplinäre Beratung der Patient:innen gewährleisten.

Themenbereiche

Die Beratung kann Themen wie Kraftfahreignung, Ausbildung und Beruf, Partnerschaft, Familie, Sport und Reisen umfassen.

Das Epilepsie-Zentrum Berlin-Brandenburg

Das Epilepsie-Zentrum Berlin-Brandenburg (EZBB) ist ein Netzwerk, das eine umfassende Diagnostik, Behandlung, Rehabilitation und Beratung in allen Aspekten der Epilepsie bietet.

Standorte

Das EZBB hat zwei Kernstandorte am Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge (KEH) in Berlin und die Epilepsieklinik Tabor in Bernau.

Leistungen

Das EZBB bietet eine umfassende Versorgung von Menschen mit Epilepsie, von der Diagnostik über die medikamentöse und chirurgische Behandlung bis hin zur Rehabilitation und Beratung.

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