Einleitung
Epilepsie ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen, von der mehr als 3 % der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens betroffen sind. Ein Viertel der Neuerkrankten sind Kinder. Bei optimaler Therapie können circa 70 % der Patienten in Remission gebracht werden, wobei die meisten Patienten mit Epilepsie kognitiv normal entwickelt sind. Dieser Artikel bietet einen umfassenden Überblick über idiopathische generalisierte Epilepsie (IGE), einschließlich Ursachen, Symptome, Diagnose und Therapie.
Definition und Epidemiologie
Epilepsie bezeichnet das rezidivierende Auftreten unprovozierter epileptischer Anfälle. Die Prävalenz der Epilepsie im Kindesalter beträgt etwa 0,5 Prozent. In den Industrieländern erkranken im Mittel etwa 50 von 100 000 Kindern jedes Jahr neu an einer Epilepsie. Insgesamt macht der Anteil von Kindern 25 Prozent aller Epilepsie-Neuerkrankungen aus. Die häufigste Form epileptischer Anfälle im Kindesalter sind aber Fieberkrämpfe. Hierbei handelt es sich um durch erhöhte Körpertemperatur provozierte Gelegenheitsanfälle, die auch bei mehrmaligem Auftreten von einer Epilepsie abgegrenzt werden müssen.
Klassifikation der Epilepsien
Die Klassifikation der verschiedenen Anfallsformen und Epilepsiesyndrome erfolgt nach den Maßgaben der „International League Against Epilepsy“ (ILAE). Unterschieden werden hauptsächlich symptomatische Epilepsien mit erkennbarer Ursache und idiopathische Epilepsien mit genetischem Hintergrund, bei denen der Patient - mit Ausnahme der Epilepsie selbst - keine Symptome aufweist. Die Zuordnung der Epilepsiesyndrome erfolgt nach der vermuteten Ätiologie und der Anfallssymptomatik.
Als idiopathisch werden Epilepsiesyndrome bezeichnet, die einen genetischen Ursprung haben und bei denen die Betroffenen sonst neurologisch unauffällig sind. Als symptomatisch bezeichnet man Epilepsien mit belegbarer Ursache und als vermutlich symptomatisch (früher kryptogen) solche, bei denen ein Auslöser wahrscheinlich ist, aber nicht bewiesen werden kann. Symptomatische Epilepsien können entweder läsionell (zum Beispiel Trauma, Tumor, Entzündung, Fehlbildung) oder durch genetische Systemerkrankungen verursacht sein.
Ursachen der idiopathischen generalisierten Epilepsie (IGE)
Bei den meisten sogenannten idiopathischen Epilepsien konnte eine genetische Ursache festgestellt werden. In einigen Fällen bleibt die Ursache jedoch ungeklärt. Im klinischen Alltag relevante, das heißt häufige, idiopathische Epilepsiesyndrome sind durch das komplexe Zusammenspiel mehrerer genetischer Faktoren und die modifizierenden Einflüsse von Umweltfaktoren bedingt. In den letzten Jahren konnten bei einer Vielzahl von Epilepsiesyndromen - oft in exemplarischen Großfamilien - Defekte verschiedener spannungsabhängiger und ligandenmediierter Ionenkanäle nachgewiesen werden. Dies stellt die meisten idiopathischen Epilepsien in eine Reihe mit paroxysmalen neuromuskulären Erkrankungen, den sogenannten Ionenkanalerkrankungen.
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Die Mehrzahl der Fälle der idiopathischen generalisierten Epilepsien (IGE) sind polygenetische Erkrankungen. Das Erkrankungsrisiko hängt von verschiedenen genetischen Suszeptibilitätsfaktoren und Umwelteinflüssen ab. Zu den IGE gehören die kindliche und die juvenile Absence-Epilepsie (CAE und JAE), die juvenile myoklonische Epilepsie und die Epilepsieformen mit ausschließlich generalisierten tonisch-klonischen Anfällen.
Ein Ungleichgewicht von Erregung und Hemmung im Gehirn unterschiedlichster Ursache liegt epileptischen Anfällen zugrunde. Hierbei kommt es im Anfall zu nicht normalen synchronen rhythmischen Entladungen von Nervenzellverbänden. Nach der Art des Beginns der elektrischen Aktivität im Oberflächen-EEG werden Anfälle und auch die resultierende Epilepsie als fokal oder generalisiert bezeichnet. Eine örtlich begrenzte (fokale) Aktivität kann sich im Verlauf eines Anfalls auf das gesamte Gehirn ausbreiten und wird dann "sekundär generalisiert" genannt. Die fokale oder generalisierte Aktivität spiegelt sich auch in den klinischen Anfallssymptomen wider.
Genetische Grundlagen
In den letzten Jahren wurden mehrere Hundert Gene und Gen-Veränderungen identifiziert, die vermutlich oder sicher eine Epilepsie (mit)verursachen. Sehr viel seltener ist nur ein Gen betroffen (zum Beispiel Ionenkanal-Gene oder Neurotransmitter assoziierte Gene). Die Mutation kann vererbt werden oder de novo auftreten. Monogenetische Epilepsien weisen eine beachtliche phänotypische und genotypische Heterogenität auf. Beispielhaft sind das im ersten Lebensjahr beginnende Dravet-Syndrom, bei dem mehr als 80 Prozent der Patienten Mutationen im SCN1A-Gen aufweisen, und das sich in den ersten Lebenstagen manifestierende Ohtahara-Syndrom mit möglichen Mutationen im Gen STXBP1, seltener auch ARX.
Rolle der Neurotransmitter
Die dem epileptischen Anfall zugrunde liegenden paroxysmalen Depolarisationsstörungen sind meist auf ein Ungleichgewicht bzw. einer fehlerhaften Verteilung von exzitatorischen und inhibitorischen Neurotransmitterwirkungen zurückzuführen. Dabei spielen die Aminosäuren Glutamat und Aspartat als erregende Neurotransmitter sowie Gamma-Aminobuttersäure (GABA) als hemmende Signalsubstanz eine entscheidende Rolle. Zudem können Neurotransmitter-Synthesestörungen und ein gesteigerter Abbau oder eine Rezeptor-Blockade von GABA-Rezeptoren anfallsauslösend wirken.
Symptome der idiopathischen generalisierten Epilepsie (IGE)
Die Epilepsien sind durch das unvorhersehbare Auftreten epileptischer Anfälle charakterisiert. Die Symptomatik stellt sich beim Einzelnen stabil dar, hat zwischen den Betroffen aber große Unterschiede. Diese erklären sich bei den fokalen Epilepsien durch das vom Anfallsursprung betroffene Hirnareal. Die dort kodierte Funktion bestimmt den klinischen Anfall. Ist zum Beispiel die rechte motorische Hirnrinde betroffen, kommt es z. B. zu einem motorischen Anfall im Bereich der linken Körperhälfte. Im Falle der Sehrinde käme es zu visuellen Phänomenen.
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Typische Anfallsphänomene bei genetischen generalisierten Epilepsien sind "kleinere" generalisierte Anfälle (petit Mal) wie Absencen und bilaterale zumeist morgendlichen Muskelzuckungen (Myoklonien) und primäre "große" generalisierte tonisch-klonische Anfälle (grand Mal). Letztere können auch bei fokalem Anfallsursprung im Rahmen der Ausbreitung der elektrischen Anfallsaktivität auf das gesamte Gehirn auftreten.
Die Symptome der unterschiedlichen Epilepsieformen variieren stark. Das klinische Bild richtet sich nach der Lokalisation und dem Ausmaß der neuronalen Fehlerregung sowie nach der Art des Anfallgeschehens. Möglich sind Parästhesien auf der Haut (Parietallappenanfälle), orale Automatismen wie Schmatzen und Kauen (Temporallappenanfälle), visuelle Halluzinationen (Okzipitallappenanfälle) oder komplexe Anfallsbewegungen (frontale Anfälle) und Mischbilder.
Häufige Anfallsformen bei IGE
- Absencen: Kurze Abwesenheitszustände, die oft unbemerkt bleiben. Bei der Pyknolepsie können manchmal über 100 Anfälle pro Tag auftreten. Je länger eine Absence dauert, umso wahrscheinlicher geht sie mit motorischer (zum Beispiel Blinzeln) oder vegetativer Symptomatik (zum Beispiel Blässe) einher. Bei einem geringen Prozentsatz manifestiert sich die Absenceepilepsie als nicht-konvulsiver Status (früher Petit-Mal-Status genannt). Die Patienten sind oft über Stunden extrem verlangsamt, wirken desorientiert und reagieren nur eingeschränkt auf Ansprache.
- Myoklonien: Plötzliche, kurze Muskelzuckungen, die vor allem morgens auftreten. Kardinalsymptom sind morgendliche, oft kurz nach dem Erwachen auftretende, kurze Muskelzuckungen.
- Generalisierte tonisch-klonische Anfälle (Grand Mal): Anfälle mit Bewusstseinsverlust, Versteifung des Körpers (tonische Phase) und anschließenden Zuckungen (klonische Phase). Die Anfälle treten meist innerhalb der ersten zwei Stunden nach dem Erwachen auf. Der Manifestationsgipfel liegt um das 16. Lebensjahr. Die Anfallsfrequenz ist meist gering. Schlafentzug, Alkoholkonsum oder starke seelische Belastung sind häufig Auslöser für einen Anfall.
Diagnose der idiopathischen generalisierten Epilepsie (IGE)
Nach einer anfallsartigen Episode sind drei wichtige Fragen zu klären:
- Handelt es sich um einen epileptischen Anfall?
- Gibt es eine akut zu behandelnde Ursache?
- Besteht ein erhöhtes Risiko auf weitere Anfälle?
Ob es sich um einen epileptischen Anfall handelt, wird überwiegend anhand des Anfallhergangs beurteilt. Dabei sind die Angaben des Betroffenen wichtig, wobei insbesondere bei eingeschränktem Bewusstsein auf Angaben von Augenzeugen angewiesen ist. Akut zu behandelnde Ursachen werden mittels akuter Bildgebung (zumeist Computertomographie), Blut- und gegebenenfalls Nervenwasserentnahmen abgeklärt und eine gegebenenfalls notwendige weiterführende Diagnostik und Therapie stationär eingeleitet.
Nach einem ersten Anfall muss anhand durchgeführter Bildgebung (bevorzugt Magnetresonanztomographie) und den Ergebnissen des EEGs festgestellt werden, ob ein erhöhtes Risiko auf weitere epileptische Anfälle besteht. Entscheidend für eine erfolgreiche Behandlung ist die richtige Diagnose. Anhand der Anfallsbeschreibung und der Ergebnisse der Diagnostik wird die Zuordnung des Epilepsiesyndroms durchgeführt. Hieraus wird auf weitere Empfehlungen bezüglich Therapie und z. B. Fahreignung geschlossen.
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Diagnostische Verfahren
- Anamnese: Detaillierte Erhebung der Krankengeschichte, einschließlich Anfallsbeschreibung und möglicher Auslöser. Da häufig Teile des Anfalls oder der ganze Anfall nicht bewusst miterlebt werden, ist eine möglichst gute Fremdbeschreibung - z.B. durch Angehörige, Freunde, Arbeitskollegen - unverzichtbar. Hilfreich kann auch die Aufzeichnung einer kurzen Videosequenz mit dem Handy sein.
- EEG (Elektroenzephalographie): Messung der Hirnströme, um epileptiforme Entladungen festzustellen. Langzeit-Video-EEG-Ableitung: Hierbei handelt es sich um eine videoüberwachte EEG-Überwachung, welche in speziell ausgerüsteten Patientenzimmern erfolgt. Die Dauer der Ableitung beträgt mind.
- MRT (Magnetresonanztomographie): Bildgebung des Gehirns, um strukturelle Veränderungen auszuschließen. Mit Hilfe der MRT-Untersuchung (auch Kernspintomogramm genannt) können hirnorganische Veränderungen sichtbar gemacht werden. Diese können Hinweise auf die Ursache der Epilepsie bzw. der epileptischen Anfälle geben.
- Blutuntersuchungen: Zum Ausschluss von Stoffwechselstörungen oder anderen Erkrankungen.
- Gentests: In bestimmten Fällen zur Identifizierung genetischer Ursachen. Mittels genetischer Diagnostik (in Blutzellen) können selten Abweichungen der Chromosomenzahl (z. B. Trisomie 21) festgestellt werden. Größere Verluste von genetischem Material oder ein abnormer Zugewinn (copy number variations) können mit der sogenannten Array-CGH festgestellt werden.
Therapie der idiopathischen generalisierten Epilepsie (IGE)
Als erste Therapieoption steht eine große Auswahl an Medikamenten zur Verfügung, die über Beeinflussung der Erregbarkeit des Gehirns das Auftreten von Anfällen unterdrücken können. Die Wahl des Medikaments richtet sich zum einen nach dem vorliegenden Epilepsiesyndrom sowie nach den persönlichen Merkmalen, die ein Patient mit sich bringt.
Medikamentöse Therapie
Die medikamentöse Therapie wird in der Regel nach zwei unprovozierten epileptischen Anfällen eingeleitet. Die Behandlung erfolgt mit sogenannten Antiepileptika. Diese werden zur Vorbeugung von epileptischen Anfällen, aber auch zur Unterbrechung akuter Anfälle eingesetzt. Antiepileptika wirken direkt auf das Nervensystem und die Nervenzellen. Sie sorgen dafür, dass die Reizweiterleitung der Nerven gehemmt und die Erregbarkeit der Nervenzellen im Gehirn vermindert wird. Im Wesentlichen werden zwei Wirkmechanismen unterschieden: Die Blockierung epileptischer Impulse sowie das Verhindern der Ausbreitung epileptischer Aktivität.
Nicht-medikamentöse Therapien
Parallel zur medikamentösen Epilepsietherapie kann auch der verhaltenstherapeutische Ansatz der Anfallsselbstkontrolle in die Behandlung integriert werden.
Epilepsiechirurgie: Bei therapierefraktären fokalen Epilepsien kann eine operative Entfernung des Anfallsursprungs in Erwägung gezogen werden. Im Rahmen einer stationären prächirurgischen Abklärung sollte die Möglichkeit einer epilepsiechirurgischen Behandlung überprüft werden. Dabei untersucht man, ob die epileptischen Anfälle von einer bestimmten Stelle des Gehirns ausgehen und ob es möglich ist, diese operativ zu entfernen, ohne dass der Patienten Störungen im Bereich von Gedächtnis, Kraft oder Sprache erleidet. Nach der Operation und dem anschließenden stationären Aufenthalt wird in der Regel ein weiterer stationärer Aufenthalt in einer Rehabilitationsklinik mit Epilepsie-Schwerpunkt (Medizinische Rehabilitation) empfohlen. Innerhalb der ersten Jahre nach der Operation finden in unterschiedlichen Abständen Nachsorgeuntersuchungen statt, in die alle an der prächirurgischen Diagnostik und operativen Epilepsietherapie beteiligten Berufsgruppen (Ärzte, Neuropsychologie, Psychologie, Sozialdienst) mit eingebunden sind. Ebenso müssen die Medikamente zur Epilepsiebehandlung nach der Operation noch mehrere Jahre eingenommen werden. Sind dann keine weiteren Anfälle aufgetreten, kann nach Absprache mit dem behandelnden Arzt versucht werden, die Medikamente abzusetzen.
Neurostimulation: Bei einigen Patienten kann eine Neurostimulation die Anfallshäufigkeit reduzieren. Im Gegensatz zur Epilepsiechirurgie kann mit der Neurostimulation keine Anfallsfreiheit erreicht werden. Allerdings bewirkt sie, je nach Art der Epilepsie und des eingesetzten Verfahrens, eine deutliche Minderung der Anfallsfrequenz bzw. Unter Neurostimulation versteht man zusammengefasst, dass Strukturen im Gehirn oder solche, die dort hinführen (wie der Vagus-Nerv), mit niedriger Stromstärke stimuliert werden. Verschiedene Verfahren der Stimulation sind möglich. Am häufigsten wird die Vagusnervstimulation (VNS) angewandt.
- Vagusnervstimulation (VNS): Hierbei wird der 10. Dafür muss ein Pulsgenerator in eine Hauttasche unter dem linken Schlüsselbein eingesetzt und mittels eines Elektrodenkabels eine Verbindung zum 10. Hirnnerv im linken Halsbereich hergestellt werden. Dies erfolgt im Rahmen einer (minimalinvasiven) 1,5-stündigen OP unter Vollnarkose. In der Regel können die Patienten bereits am Folgetag nach Aktivierung des Systems entlassen werden.
- Transkutane Vagusnervstimulation (tVNS): Dies ist die Weiterentwicklung der VNS, bei der keine Operation und kein Klinikaufenthalt erforderlich sind. Allerdings liegt die Effektivität deutlich unter der der konventionellen Methode. Spezielle Nervenfasern werden hier über eine Ohrelektrode am Ohr durch sanfte elektrische Impulse aktiviert (Neurostimulation).
- Transkranielle Magnetstimulation (TMS): Bei der Transkraniellen Magnetstimulation erfolgt die Stimulation durch die Schädeldecke und erreicht so die übererregten Hirnstrukturen.
- Tiefe Hirnstimulation (THS): Bei diesem Verfahren werden Elektroden in bestimmte Strukturen meist auf beiden Seiten des Gehirns implantiert. Die Tiefe Hirnstimulation ist bei Menschen mit Bewegungsstörungen etabliert und zur Therapie des M. In einer Studie konnte gezeigt werden, dass die Tiefe Hirnstimulation zu einer Reduzierung der Anfallshäufigkeit führt, wenn eine bestimmte Hirnregion - der anteriore Thalamus - stimuliert wird; besonders profitiert haben Menschen mit komplex-fokalen (bzw. automotorischen) Anfällen und Menschen mit Temporallappenepilepsien.
Erste Hilfe bei einem epileptischen Anfall
- Ruhe bewahren.
- Auch den Betroffenen beruhigen und möglichst vor Verletzungen schützen.
- Den Patienten während des Anfalls nicht festhalten.
- Meistens ist ein Krampfanfall nicht gefährlich und dauert nur wenige Minuten an. Tritt jedoch ein sogenannter Status epilepticus ein, muss unverzüglich ein Notarzt gerufen werden. Ein Status epilepticus dauert in der Regel länger als fünf Minuten oder tritt als Serie mehrerer Anfälle kurz hintereinander auf. Der Patient kommt während des Krampfanfalls nicht wieder vollständig zu Bewusstsein.
Altersgebundene Epilepsiesyndrome bei Kindern und Jugendlichen
Mit Beginn im ersten Lebensjahr
Die häufigsten Ursachen symptomatischer Epilepsien im Neugeborenenalter sind die hypoxisch-ischämische Enzephalopathie, konnatale und neonatale Infektionen, akute Stoffwechselentgleisungen (Glucose, Elektrolyte) und kortikale Affektionen (Infarkte, Blutungen, Fehlbildungen). Idiopathische Epilepsiesyndrome sind selten.
- Pyridoxin-, Pyridoxalphosphat- oder Folinsäure-abhängige Anfälle: Beginnen zumeist im Neugeborenenalter und gehen im EEG oft mit einem sogenannten „Suppression-burst-Muster“ einher. Diese Stoffwechselerkrankungen sind selten, müssen aber wegen ihrer hohen prognostischen Relevanz immer bedacht werden. Die Behandlung mit dem jeweiligen Vitamin führt zu Anfallsfreiheit oder deutlicher Besserung der Anfälle.
- Benigne infantile Partialepilepsie (Ätiologie: idiopathisch): Die Anfälle beginnen zwischen dem 3. und 20. Lebensmonat. Während der Anfälle kommt es zumeist zum Innehalten bei Bewegungen, Augenverdrehen und fokalen Kloni evtuell mit sekundärer Generalisation. Die Anfälle sind gelegentlich von Weinen oder Schreien begleitet. Die Kinder bleiben normal entwickelt. Das interiktale EEG ist unauffällig.
- Dravet-Syndrom: Die schwere myoklonische Epilepsie des Säuglingsalters, manifestiert sich im ersten Lebensjahr bei bis dahin normal entwickelten Säuglingen mit febrilen oder afebrilen generalisierten tonisch-klonischen Anfällen und meist alternierenden Halbseitenanfällen. Die Prognose ist im Hinblick auf Anfallsfreiheit und kognitive Entwicklung sehr ungünstig. Bei etwa 60 Prozent der Kinder kann ein Defekt im SCN1A-Gen (einem Natriumkanalgen) nachgewiesen werden.
- West-Syndrom (Ätiologie: symptomatisch oder kryptogen): Es erkranken meist Säuglinge zwischen dem zweiten und achten Lebensmonat. Perinatale Asphyxie, ZNS-Fehlbildungen und die tuberöse Sklerose sind die häufigsten Ursachen. Das West-Syndrom ist charakterisiert durch die Trias Blitz-Nick-Salaam-Anfälle, Hypsarrhythmie im EEG und Entwicklungsregression. Die häufigste Anfallsform stellen symmetrische Beuge- oder Streckkrämpfe der Extremitäten dar. Vor allem die Prognose eines symptomatischen West-Syndroms ist im Hinblick auf Anfallsfreiheit und kognitive Entwicklung ungünstig.
Mit Beginn im frühen Kindesalter (etwa bis sechstes Lebensjahr)
- Frühkindliche Absenceepilepsie (Ätiologie: idiopathisch): Im deutschen Sprachraum wird zwischen der frühkindlichen Absenceepilepsie mit Manifestation in den ersten vier Lebensjahren, der Absenceepilepsie des Kindesalters, sowie der juvenilen Absenceepilepsie unterschieden. Die internationale Klassifikation hingegen fasst die frühkindliche Absenceepilepsie und die Absenceepilepsie des Kindesalters zu einer Entität zusammen.
- Doose-Syndrom (Ätiologie: idiopathisch): Bei der myoklonisch-astatischen Epilepsie treten erste Anfälle zwischen dem zweiten und fünften Lebensjahr auf. Meist beginnt die Epilepsie mit febrilen oder afebrilen generalisierten, tonisch-klonischen Anfällen. Oft setzen dann wenige Wochen später explosionsartig myoklonisch-astatische Anfälle ein. Ein nicht-konvulsiver Status, der wie ein Stupor imponieren kann, ist typisch. Kann die Epilepsie schnell und nachhaltig beherrscht werden, ist die Prognose in etwa 50 Prozent der Fälle relativ gut.
- Lennox-Gastaut-Syndrom (Ätiologie: symptomatisch oder kryptogen): Bei dieser Epilepsie ist in etwa zwei Drittel der Fälle eine ZNS-Fehlbildung oder kortikale Läsion nachweisbar. Zumeist manifestiert sich die Epilepsie zwischen dem zweiten und sechsten Lebensjahr. Typisch sind tonische Anfälle (Versteifung), atypische Absencen (Abwesenheitszustände mit diskreten motorischen oder autonomen Phänomenen) und Sturzanfälle. Die überwiegende Mehrzahl der Patienten (etwa 90 Prozent) ist intellektuell beeinträchtigt. Tonische Anfälle werden für die Diagnosestellung gefordert. Das Lennox-Gastaut-Syndrom ist nahezu immer therapieresistent.
Mit Beginn im Kindesalter (etwa bis 12. Lebensjahr)
- Absenceepilepsie des Kindesalters, sogenannte Pyknolepsie (Ätiologie: idiopathisch): Es erkranken zumeist normal intelligente Kinder im Alter zwischen fünf und acht Jahren. Die Absencen (Abwesenheitszustände) dauern zwischen 5 und 30 Sekunden. Bei der Pyknolepsie können manchmal über 100 Anfälle pro Tag auftreten.
- Rolando-Epilepsie (Ätiologie: idiopathisch): Die benigne idiopathische Partialepilepsie mit zentrotemporalen Spikes im EEG ist mit etwa einem Fall auf 12 000 Kinder neben der Absenceepilepsie die häufigste Epilepsie im Kindesalter. Die Mehrzahl der Patienten erleidet den ersten Anfall zwischen dem sechsten und neunten Lebensjahr. Charakteristisch sind sensomotorische Herdanfälle der Perioralregion. Diese bestehen aus seitenbetonten Parästhesien der Lippe, der Zunge und des Gaumens sowie aus perioralen myoklonischen, klonischen und tonischen Anfällen (Zucken und Verziehen der Lippen und Wangen). Die Kinder können im Anfall nicht schlucken und sprechen. Es kommt zu starkem Speichelfluss. Im Alter von 12 bis 14 Jahren sind praktisch alle Betroffenen mit und ohne Therapie anfallsfrei.
Mit Beginn im Jugendlichenalter (ab etwa 13. Lebensjahr)
- Juvenile Absenceepilepsie (Ätiologie: idiopathisch): Die Absencen unterscheiden sich nicht prinzipiell von denen der Absenceepilepsie des Kindesalters, treten aber in der Regel seltener auf. Im Verlauf, kommt es neben den Absencen in etwa 80 Prozent der Fälle auch zu einzelnen generalisierten tonisch-klonischen Anfällen.
- Epilepsie mit isolierten generalisierten tonisch-klonischen Anfällen (Ätiologie: idiopathisch): Im deutschen Sprachraum ist die Bezeichnung „Aufwach-Grand-Mal-Epilepsie“ gebräuchlich. Die Anfälle treten meist innerhalb der ersten zwei Stunden nach dem Erwachen auf. Der Manifestationsgipfel liegt um das 16. Lebensjahr. Die Anfallsfrequenz ist meist gering. Schlafentzug, Alkoholkonsum oder starke seelische Belastung sind häufig Auslöser für einen Anfall.
- Juvenile myoklonische Epilepsie oder Janz-Syndrom (Ätiologie: idiopathisch): Diese Epilepsie ist häufig (5 bis 10 Prozent aller Epilepsien) und betrifft normal intelligente Kinder und Jugendliche. Sie beginnt meist zwischen dem 13. und 18. Lebensjahr. Kardinalsymptom sind morgendliche, oft kurz nach dem Erwachen auftretende, kurze Muskelzuckungen.
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