Chronisch idiopathische Polyneuropathie: Ursachen, Diagnose und Therapie

Die chronisch idiopathische Polyneuropathie (CIP) ist eine Erkrankung des peripheren Nervensystems, bei der die Ursache der Nervenschädigung unbekannt ist. Polyneuropathien sind Erkrankungen des „peripheren Nervensystems“, zu dem alle außerhalb des Zentralnervensystems liegenden Anteile der motorischen, sensiblen und autonomen Nerven mit den sie versorgenden Blut- und Lymphgefäßen gehören. Rund fünf bis acht Prozent der erwachsenen Bevölkerung sind von Neuropathien betroffen. Dabei steigt die Rate mit zunehmendem Alter.

Was ist eine Polyneuropathie?

Unter dem Begriff „Polyneuropathien“ wird eine Gruppe von Erkrankungen zusammengefasst, bei denen es zu Schädigungen des peripheren Nervensystems kommt. Infolge dieser Schädigungen ist die Funktion der betroffenen Nerven gestört. Weil mehrere Nerven beziehungsweise ganze Nervenstrukturen betroffen sind, spricht man von Polyneuropathie (griechisch poly = viel, mehrere).

Zum peripheren Nervensystem gehören alle Nerven, die außerhalb des Gehirns und des Wirbelkanals liegen, also nicht Teil des zentralen Nervensystems sind. Periphere Nerven steuern Muskelbewegungen und Empfindungen wie Kribbeln oder Schmerz. Auch das vegetative Nervensystem ist Teil des peripheren Nervensystems. Seine Nervenstränge koordinieren automatisch ablaufende Körperfunktionen wie Atmen, Verdauen oder Schwitzen.

Abhängig von der Ausprägung der Nervenschäden und der Körperstelle unterscheiden Fachleute vier Formen:

  • Symmetrische Polyneuropathie: Die Schäden an den Nervenbahnen betreffen beide Körperhälften.
  • Asymmetrische Polyneuropathie: Die Erkrankung beeinträchtigt eine Seite des Körpers.
  • Distale Polyneuropathie: Die Nervenschädigung zeigt sich in Körperteilen, die von der Körpermitte entfernt sind. Dazu gehören unter anderem die Hände, die Beine und die Füße.
  • Proximale Polyneuropathie: Bei dieser seltenen Form der Polyneuropathie konzentrieren sich die Nervenschäden auf rumpfnahe Körperbereiche.

Neben der Einteilung nach Ausfallerscheinungen gibt es noch weitere Möglichkeiten Polyneuropathien einzuteilen, z. B. nach Nervenfasertyp oder Innervationsgebiet. Ist eine Neuropathie nicht klassifizierbar, so handelt es sich um eine idiopathische Polyneuropathie.

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Ursachen der chronisch idiopathischen Polyneuropathie

Wenn eine Erkrankung idiopathisch ist, bedeutet das in aller Regel, dass die ihr zugrunde liegende Ursache nicht klar ersichtlich ist. Trotz aller diagnostischen Fortschritte bleibt die Ursache in vielen Fällen unklar ("idiopathische Neuropathie"). Bei etwa jeder fünften erkrankten Person bleibt die Ursache der Polyneuropathie trotz umfassender Diagnostik unklar. In diesem Fall spricht die Medizin von einer idiopathischen Polyneuropathie.

Nicht nur, dass die Symptome sehr unterschiedlich ausfallen können, so sind die Ursachen ebenso vielfältig.

Dennoch gibt es eine Reihe von Faktoren, die mit der Entstehung einer Polyneuropathie in Verbindung gebracht werden:

  • Diabetes mellitus: Schätzungsweise entfallen 46 % aller Polyneuropathie-Erkrankungen auf Diabetes und Alkoholmissbrauch. Die diabetische Polyneuropathie zählt zu den Spätkomplikationen der Diabetes-Stoffwechselstörung. Das heißt, je länger die Krankheit besteht, desto wahrscheinlicher ist die Entstehung einer Neuropathie.
  • Alkoholmissbrauch: Alkoholabhängige Menschen ernähren sich häufig einseitig und ungesund. Diese Mangelernährung kann unter anderem zu einer Unterversorgung mit B-Vitaminen führen, was wiederum die Schädigung von Nervenstrukturen begünstigt.
  • Medikamente: Eine Vielzahl von Medikamenten und weiteren Substanzen kann eine „exotoxische“ Polyneuropathie verursachen. Dazu gehören u.a. verschiedene Chemotherapeutika, Antibiotika, Immun-Checkpoint-Inhibitoren. Antibiotika sollen Bakterien abtöten, doch sie sind ebenso in der Lage das körpereigene Gewebe zu schädigen.
  • Schwermetalle: Wer beruflich häufiger mit Schwermetallen wie Blei oder Quecksilber in Berührung kommt und Symptome einer Polyneuropathie entwickelt, sollte seinem Arzt dies umgehend mitteilen. Gleiches gilt für Menschen, die in Kontakt mit Cadmium, Thalium oder Arsen gekommen sind. Diese Stoffe haben gemeinsam, dass sie die Nerven stark schädigen können.
  • Erkrankungen der Leber und Nieren: Erkrankungen der Leber und Nieren können ebenso wie eine Störung der Schilddrüse für eine Polyneuropathie verantwortlich sein. Kommt es zu einer Leberzirrhose oder einem Funktionsverlust der Nieren, treten überdurchschnittlich oft Symptome der Polyneuropathie auf.
  • Infektionen: Prinzipiell ist jede Infektion in der Lage, Nerven zu schädigen. Selbst harmlose Erkältungen können Auslöser sein. Die seltenen genetisch bedingten Polyneuropathien führen häufig schon im Kindesalter zu schweren Ausfallerscheinungen. Neuropathien bei Kindern entstehen jedoch zu zwei Dritteln nach oder in Zusammenhang mit einer Infektionskrankheit.
  • Entzündungen: Die entzündlichen Neuropathien sind meist autoimmun-inflammatorisch bedingt.

Symptome der chronisch idiopathischen Polyneuropathie

Die Symptome einer Polyneuropathie können sehr vielfältig sein und hängen davon ab, welche Nerven betroffen sind. Typische Symptome einer Polyneuropathie sind sensible Reizerscheinungen wie Kribbeln, Ameisenlaufen, Stechen, Elektrisieren und sensible Ausfallerscheinungen wie Pelzigkeitsgefühl, Taubheitsgefühl, Gefühl des Eingeschnürtseins, Schwellungsgefühle sowie das Gefühl, wie auf Watte zu gehen.

Die Beschwerden reichen von Empfindungsstörungen über Schmerzen bis zu Lähmungen. Auf einen BlickSymptome: Zu den Symptomen einer Polyneuropathie (PNP) gehören Empfindungsstörungen, Missempfindungen wie Kribbeln, Brennen und „Ameisenlaufen“ sowie Schmerzen in den betroffenen Körperbereichen, häufig in den Beinen. Auch Störungen des Berührungs-, Schmerz- oder Temperaturempfindens können auftreten.

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Am häufigsten beginnen die Symptome und Ausfälle an den unteren Extremitäten, meist an den Füßen oder Fußspitzen. In einer klinischen Untersuchung stellt man häufig abgeschwächte oder ausgefallene Muskelreflexe (insbesondere Achillessehnenreflex) und schlaffe Lähmungen fest. An den Extremitäten können sich Sensibilitätsstörungen socken-, strumpf- oder handschuhförmig ausbreiten. Zu den weiteren Symptomen gehört einerseits eine gesteigerte Schmerzempfindlichkeit, z. B. auf Berührung, Wärme oder Kälte. Je nach Schädigung der Nerven kann aber auch das Berührungs- und Schmerzempfinden abgeschwächt sein.

Weitere mögliche Symptome sind:

  • Gangunsicherheit, insbesondere im Dunkeln
  • Fehlendes Temperaturempfinden mit schmerzlosen Wunden
  • Muskelschwäche
  • Muskelkrämpfe
  • Schmerzen
  • Störungen der Blasen- und Darmfunktion
  • Potenzstörungen
  • Herzrhythmusstörungen
  • Verdauungsbeschwerden
  • Probleme beim Wasserlassen

Die alkoholische Polyneuropathie entwickelt sich in der Regel langsam. Die meisten Erkrankten beschreiben Nervenstörungen in den Beinen. Sie leiden unter Schmerzen, Missempfindungen und Sensibilitätsstörungen. Auch Muskelschwund und schwere Muskelerschlaffungen (Paresen) können auftreten. Möglicherweise führen die durch die Polyneuropathie bedingten Schmerzen in den Beinen zu Schwierigkeiten, richtig zu stehen und zu Gangunsicherheit.

Diagnose der chronisch idiopathischen Polyneuropathie

Die klinische Diagnose einer Polyneuropathie wird anhand von Anamnese und dem klinisch-neurologischen Befund gestellt. Eine sensomotorische Polyneuropathie beginnt meistens in den Zehen, Füßen und Beinen. Hände und Arme sind seltener beziehungsweise später betroffen.

Die Diagnostik kann sehr umfangreich sein. Es kann sich auch lohnen bei zunächst ungeklärter Ursache diese in bestimmten Zeitabständen zu wiederholen.

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Bei der Polyneuropathie unterscheiden Medizinerinnen und Mediziner nach der Betrachtung der Nervenfasertypen mindestens zwei Hauptformen:

  • die sensomotorische Polyneuropathie mit Empfindungs- und Bewegungsstörungen sowie Schmerzen
  • die autonome Neuropathie, bei der das vegetative Nervensystem betroffen ist

Folgende Untersuchungen können zur Diagnose einer Polyneuropathie durchgeführt werden:

  • Anamnese: In der Krankengeschichte wird nach typischen Symptomen, dem Erkrankungsverlauf, nach Vorerkrankungen und Begleiterkrankungen sowie nach der Familienanamnese gefragt. Die Anamnese liefert die wichtigsten Informationen über Verteilung, Art und Dynamik der Schädigung. Es können Ursachen erfragt werden wie ein erblicher Hintergrund, eine Stoffwechselerkrankung, ein Vitaminmangel (bei Vegetariern oder Magenerkrankungen), eine Schädigung durch Medikamente oder eine bestimmte Ernährungs- und Lebensweise sowie ein Kontakt mit bestimmten Gefahrenstoffen (Toxinen) im Berufsleben.
  • Klinisch-neurologische Untersuchung: In einer neurologischen Untersuchung werden Muskelkraft, Sensibilität und Muskeleigenreflexe geprüft. Mithilfe der klinischen Untersuchung wird die Diagnose gestellt. Sie hilft auch das Schädigungsmuster festzustellen und dadurch Rückschlüsse auf die Schädigungsursache zu ziehen. Manchmal gelingt es auch klinisch nicht ersichtliche Nervenschäden bereits frühzeitig durch die Nervenmessung aufzudecken.
  • Elektrophysiologische Untersuchung: Bei der neurophysiologischen Untersuchung mit Elektroneurographie (ENG) werden mit Stromimpulsen periphere Nerven stimuliert und Antworten von Muskeln oder sensiblen Fasern abgeleitet. Damit lässt sich die Art der Nervenschädigung feststellen. Die Elektromyographie (EMG) untersucht Muskeln mit Nadeln und stellt so das Ausmaß der Schädigung fest. Elektrophysiologische Untersuchungen ergänzen den neurologischen Untersuchungsbefund. Sie decken die Verteilung und das Ausmaß der Nervenschädigung auf: Die Elektroneurografie (ENG) misst, wie schnell Nerven eine Erregung weiterleiten. Die Elektromyografie (EMG) zeichnet die Aktivität eines Muskels in Ruhe und bei Anspannung auf. Zur Messung der Nervenleitgeschwindigkeit wird Strom durch die Nervenbahnen geschickt. Mit einer Stimmgabel prüft der Neurologe das Vibrationsempfinden.
  • Laboruntersuchungen: Bluttests können behandelbare Ursachen der Polyneuropathie aufdecken, beispielsweise einen Vitamin-B12-Mangel oder einen bis dahin unbekannten Diabetes mellitus. Es wird eine ganze Palette an Werten bestimmt. Ein Basislabor beinhaltet: Blutzucker (mit HbA1C), Differential-Blutbild, Nieren-Leberwerte, Elektrolyte, Schilddrüsenwerte, differenzierte Eiweißbestimmung (Eiweißelektrophorese), Vitamine, Folsäure und ggf. bestimmte Rheumafaktoren und Antikörper.
  • Nervenwasseruntersuchung (Liquor): Die Lumbalpunktion ist immer dann angemessen, wenn eine entzündliche Ursache vermutet wird. Zum Beispiel bei der Neuroborreliose oder der Vaskulitis. Eine Analyse des Nervenwassers (Liquoruntersuchung) hilft beispielsweise, entzündlich bedingte Polyneuropathien festzustellen.
  • Haut-Nerven-Muskelbiopsie: Diese kommt heute nurmehr als ultima ratio in Betracht und ist vor allem dann sinnvoll, wenn eine (autoimmun vermittelte) entzündliche Erkrankung, eine Erkrankung der kleinsten Nervenendigungen (small fiber Polyneuropathie) oder eine bestimmte Stoffwechselerkrankung (Amyloidose) vermutet wird. Bei Anhaltspunkten für eine genetische Polyneuropathie ist eine Erbgutanalyse möglich. Der Verdacht auf seltene, aber behandelbare Polyneuropathien kann in besonders schweren Krankheitsfällen eine Probenentnahme aus dem Nervengewebe (Nervenbiopsie) rechtfertigen. Die Untersuchung einer Gewebeprobe kann helfen, die Ursache einer Polyneuropathie zu finden. Dazu wird eine sogenannte Nerv-Muskel-Biopsie aus dem Schienbein entnommen und feingeweblich untersucht. Hierbei wird festgestellt, ob der Schaden an der Hüllsubstanz des Nerven (Myelin) oder am Nerven selbst entstanden ist. Bei bestimmten Ursachen finden sich zum Beispiel Entzündungszellen oder Amyloid-Ablagerungen.

Therapie der chronisch idiopathischen Polyneuropathie

Da die Ursache der chronisch idiopathischen Polyneuropathie unbekannt ist, richtet sich die Therapie in erster Linie nach den Symptomen. Entscheidend ist stets die Behandlung der Grunderkrankung, z. B. bei Diabetes mellitus eine Verbesserung der Blutzuckereinstellung, das strikte Vermeiden von Alkohol oder die Behandlung einer Tumorerkrankung.

Die Therapie der Polyneuropathie richtet sich nach ihrer Ursache. Sind die Nervenschäden wegen einer anderen Grunderkrankung entstanden, gilt es zuerst, diese zu behandeln. Bei der diabetischen Polyneuropathie ist beispielsweise eine konsequente Blutzuckereinstellung entscheidend. Je besser die Werte langfristig eingestellt sind, desto eher lässt sich die Nervenschädigung stoppen.

Bei autoimmunvermittelten, entzündlichen Polyneuropathien gibt es verschiedene gegen die Entzündung wirkende Medikamente (Immunglobuline, Kortikoide, Immunsuppressiva). Bei schweren Verläufen kann auch eine Blutwäsche durchgeführt werden. Bei erblichen Neuropathien gibt es bisher keine Therapie.

Folgende Behandlungsmöglichkeiten stehen zur Verfügung:

  • Schmerzmittel: Reizerscheinungen und Muskelkrämpfe lassen sich mit verschiedenen Medikamenten dämpfen. Nervenschmerzen sind individuell mit Medikamenten behandelbar. Neben Schmerzmitteln kommen Antidepressiva oder Mittel ge… Hier werden neben üblicher Schmerzmittel meist Medikamente gegen neuropathische Schmerzen verwandt, die in andere Dosierungen eingesetzt werden, um Epilepsien oder Depressionen zu behandeln.
  • Physiotherapie: Gangtraining im Rahmen einer intensivierten Physiotherapie und durch Eigenübungen ist ebenfalls sinnvoll, um Stürzen und der en Folgen vorzubeugen. Gegen die fortschreitende Gangunsicherheit wirkt Gleichgewichtstraining in der Physiotherapie.
  • Ergotherapie: Hilfsmittelversorgung und -optimierung sind fester Bestandteil in der Versorgung von Patienten mit Neuropathien, um die Mobilität, Selbstständigkeit in Alltag und Beruf zu unterstützen und zu erhalten.
  • Weitere Maßnahmen:
    • Regelmäßige Kontrolle der Füße auf Druckstellen
    • Tragen von bequemem Schuhwerk
    • Meidung von Druck
    • Nutzung professioneller Fußpflege
    • Verbesserung des Lebensstils mit regelmäßiger körperlicher Betätigung (150 min Ausdauersport/Woche z. B.)

Verlauf und Prognose der chronisch idiopathischen Polyneuropathie

Der Verlauf ist je nach Ursache der Polyneuropathie unterschiedlich. Es gibt akute Verläufe, bei denen sich die klinische Symptomatik auch wieder rasch bessert. Bei ca. einem Viertel der Polyneuropathien kann die Ursache nicht geklärt werden, meist haben diese Formen jedoch eine gute Prognose.

In Abhängigkeit von der Ursache besteht nur begrenzt die Aussicht auf Heilung. Zum Beispiel sind die weniger häufig vorkommenden entzündlichen Neuropathien mit Medikamenten meist sehr gut zu behandeln, akute Formen heilen oft komplett aus. Bei schweren Verläufen kann auch eine Blutwäsche durchgeführt werden.

Je nach Schwere der Ausfälle bestehen Einschränkungen beim Ausüben verschiedener beruflicher Tätigkeiten. Es sollten Tätigkeiten auf Leitern und Gerüsten gemieden werden, Vorsichtsmaßnahmen beim Laufen auf unebenem Untergrund (Baustellen) oder im Dunkeln müssen beachtet werden. Feinmotorische Tätigkeiten (z. B. Uhrmacher) sind oft nicht mehr möglich. Dennoch sollten Patienten mit einer Polyneuropathie so lange wie möglich am Berufsleben teilhaben.

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