Das Erwin-Böhm-Pflegemodell für Menschen mit Demenz: Eine umfassende Betrachtung

In Deutschland leben etwa 1,4 Millionen Menschen mit Demenz, wobei jährlich 250.000 Neuerkrankungen hinzukommen. Angesichts dieser Zahlen gewinnt die Qualität der Betreuung und Pflege von Demenzkranken zunehmend an Bedeutung. Das psychobiografische Pflegemodell nach Erwin Böhm stellt hierbei einen vielversprechenden Ansatz dar, der europaweit Anerkennung findet.

Erwin Böhm: Ein Pionier der psychobiografischen Pflege

Erwin Böhm, Jahrgang 1940, kann auf eine jahrzehntelange Tätigkeit in der psychiatrischen Pflege, insbesondere in der Gerontopsychiatrie, zurückblicken. 1990 gründete er die "Österreichische Gesellschaft für geriatrische und psychogeriatrische Fachkrankenpflege und angewandte Pflegeforschung" (AGPK). Im selben Jahr wurde ihm der Titel Professor honoris causa verliehen. Böhm gilt heute als bedeutender Pflegeforscher.

Böhms Pflegephilosophie: Mehr als nur "Warm-Satt-Sauber"

Böhms oberstes Ziel ist "die psychische Wiederbelebung des alten Menschen, die maximale Förderung seiner noch vorhandenen Ressourcen und die Anerkennung seiner psychobiografisch gewachsenen Identität". Damit wendet er sich entschieden gegen das in der Altenpflege immer noch weit verbreitete "Warm-Satt-Sauber-Prinzip", bei dem alte Menschen zwar somatisch gut versorgt sind, ihre seelischen Bedürfnisse jedoch oft vernachlässigt werden.

Kernprinzipien des Böhm-Modells

Das Böhm-Modell basiert auf mehreren Schlüsselprinzipien, die im Folgenden näher erläutert werden:

Schaffung einer vertrauten Umgebung

Ein zentraler Aspekt des Böhm-Konzepts ist die Gestaltung einer Umgebung, die den Bewohnern vertraut ist und Erinnerungen weckt. In vielen Einrichtungen, die nach Böhm arbeiten, werden Möbel und Alltagsgegenstände aus den 30er-, 40er- und 50er-Jahren verwendet.

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Der Hintergrundgedanke hierbei ist, dass der demenzkranke Mensch in die Lebenszeit zurückkehrt, die ihn stark geprägt hat, wenn der geistige Abbau beginnt. Dies sind in der Regel Kindheit und Jugend bis etwa zum 25. oder 30. Lebensjahr. Das Altersgedächtnis wird reaktiviert, und alles, was aus dieser Zeit bekannt ist, gewinnt an Bedeutung, während spätere Erlebnisse in den Hintergrund treten.

Zwischen den Möbeln und Frisierecken vergangener Jahrzehnte lässt sich die verloren gegangene Alltagsroutine leichter wiederherstellen. Der alte Mensch, vom Hier und Jetzt verwirrt, bekommt in der Umgebung seiner Kinder- und Jugendtage wieder Sicherheit und fühlt sich weniger "unvermögend".

Reaktivierung von Ressourcen und Kompetenzen

Ein weiterer wichtiger Aspekt des Böhm-Modells ist die Reaktivierung der noch vorhandenen Ressourcen und Kompetenzen der Bewohner. Dies kann beispielsweise durch die Einbeziehung in alltägliche Aufgaben geschehen.

Ein Beispiel hierfür ist Werner P. aus dem Pfarrer Münzenberger Haus, der tägliche Einkaufslisten für das gemeinsame Kochen erstellt. Bevor er diese Aufgabe übernahm, gehörte der frühere Chefkoch einer Großküche zu den Bewohnern, die ständig wegliefen. Seit Herr P. wieder "Küchenchef" ist und Verantwortung hat, habe dies vollständig aufgehört, so die Altenpflegerin Nicole K.

Individuelle Umfeldanalyse

Um den Bewohnern ein Höchstmaß an Wohlbefinden zu ermöglichen, erstellen die Pflegenden individuelle Umfeldanalysen. Dabei werden die persönlichen Vorlieben, Gewohnheiten und Bedürfnisse des Einzelnen berücksichtigt.

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Die Pfleger besuchen die Patienten, die neu aufgenommen werden sollen, auch manchmal zu Hause, um zu schauen, wie zum Beispiel das Bett in der Wohnung steht und der Weg zum Lichtschalter und zur Tür aussieht. Denn je vertrauter die neue Umgebung im Pflegeheim eingerichtet wird, desto geringer sind Stressreaktionen, Depression und Verwirrtheit, häufige Begleiterscheinungen bei der Übersiedelung in ein Altenheim.

Berücksichtigung der Psychobiografie

Das Böhm-Konzept legt großen Wert auf die Berücksichtigung der Psychobiografie des Einzelnen. Die Pflegenden versuchen, den psychobiografischen Hintergrund der Bewohner zu verstehen: Was ist und war dem Erkrankten wichtig, was hat ihn in seinem Leben bewegt, weshalb hat er bestimmte Dinge getan und wie ist er mit Problemen umgegangen?

Hier ist neben viel Einfühlungsvermögen und Wissen ein komplettes Umdenken der Mitarbeiter gefragt. Böhm fordert, nicht die Betten zu betreuen, sondern die Menschen.

Umgang mit Regression

Menschen, die von Regression betroffen sind, fallen in ihrem Verhalten in frühe Entwicklungsphasen zurück. Um sie emotional zu erreichen und ihnen die richtige, reaktivierende Pflege und Betreuung anbieten zu können, müssen die Altenpfleger die verschiedenen Interaktionsstufen (Böhm unterscheidet sieben) klar zuordnen können: Liegen Gefühls- oder Denkstörungen vor, ist die Psychomotorik beeinträchtigt, was ist mit Orientierung und Kontaktfähigkeit?

Gut geschulte Böhm-Mitarbeiter wissen, auf welcher Ebene sie "ihre Bewohner" erreichen können. Sie erforschen, was sie in ihrer Kindheit und Jugend mochten, welche Tätigkeiten sie einstmals motivierten.

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Umsetzung des Böhm-Modells in der Praxis

Die Umsetzung des Böhm-Modells erfordert eine umfassende Schulung der Mitarbeiter. Sie müssen in der Lage sein, die Bedürfnisse und Verhaltensweisen der Bewohner zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren.

Altenpflegerin Nicole hält die unruhig wirkende Frau E. an der Hand, spricht besänftigend mit ihr und führt sie behutsam zurück zu ihrem Platz am großen Esstisch. Frau E. befinde sich auf einer weit zurückliegenden Entwicklungsstufe, erklärt ihre Betreuerin. Man könne ihr zurzeit nicht viel mehr zumuten als einem Kleinkind.

Darüber hinaus ist eine enge Zusammenarbeit mit den Angehörigen der Bewohner von großer Bedeutung. Sie können wertvolle Informationen über die Lebensgeschichte und die Vorlieben des Erkrankten liefern.

Vorteile des Böhm-Modells

Das Böhm-Modell bietet eine Reihe von Vorteilen für Menschen mit Demenz:

  • Erhöhung des Wohlbefindens: Durch die Schaffung einer vertrauten Umgebung und die Reaktivierung von Ressourcen und Kompetenzen kann das Wohlbefinden der Bewohner gesteigert werden.
  • Reduktion von Verhaltensauffälligkeiten: Das Böhm-Modell kann dazu beitragen, Verhaltensauffälligkeiten wie Aggressivität oder Unruhe zu reduzieren.
  • Förderung der Selbstständigkeit: Durch die Einbeziehung in alltägliche Aufgaben können die Bewohner ihre Selbstständigkeit so lange wie möglich erhalten.
  • Verbesserung der Lebensqualität: Insgesamt kann das Böhm-Modell die Lebensqualität von Menschen mit Demenz deutlich verbessern.

Kritik und Herausforderungen

Trotz seiner zahlreichen Vorteile steht das Böhm-Modell auch vor einigen Herausforderungen:

  • Hoher Personalaufwand: Die Umsetzung des Böhm-Modells erfordert einen hohen Personalaufwand, da die Pflegenden viel Zeit und Aufmerksamkeit in die individuelle Betreuung der Bewohner investieren müssen.
  • Notwendigkeit einer umfassenden Schulung: Die Mitarbeiter müssen umfassend geschult sein, um das Böhm-Konzept erfolgreich umsetzen zu können.
  • Finanzierung: Die Finanzierung des Böhm-Modells ist oft eine Herausforderung, da die Kosten für die individuelle Betreuung und die spezielle Ausstattung der Einrichtungen höher sind als bei herkömmlichen Pflegekonzepten.

Verbreitung und Anerkennung

Trotz der genannten Herausforderungen hat sich das Böhm-Modell in den letzten Jahren zunehmend verbreitet. Insgesamt 68 Altenheime in Europa, davon allein 32 in Deutschland, arbeiten nach dem Böhm-Konzept.

Die Stadt Frankfurt unterstützt die Franziska-Schervier-Heime am Ort mit großzügigen finanziellen Zuschüssen aus dem Projekt "Würde im Alter". Diese Initiative macht auch den Einsatz von zusätzlichen Tagespräsenzkräften möglich, eine deutliche Entlastung für die festangestellten Pfleger. Alle Mitarbeiter im Haus werden nach dem Böhm-Konzept geschult. Auch Kantinenmitarbeiter und Hausmeister wissen mit den Begriffen Psychobiographie, ganzheitliches Menschbild und reaktivierende Pflege mittlerweile etwas anzufangen und begegnen den alten Menschen einfühlsam und mit Respekt.

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