Erwin Steinhauer und die Alzheimer-Krankheit: Eine Reise in die Vergangenheit

Die Alzheimer-Krankheit ist eine Herausforderung, die nicht nur den Betroffenen selbst, sondern auch deren Angehörige vor große Aufgaben stellt. Der Film „Für dich dreh ich die Zeit zurück“ beleuchtet auf bewegende Weise, wie ein Ehemann mit der Diagnose der Alzheimer-Krankheit seiner Frau umgeht und welche ungewöhnlichen Wege er einschlägt, um ihr ein Stück Lebensqualität zu erhalten. Im Mittelpunkt steht Erwin Steinhauer, der in der Rolle des Hartmut mit viel Herz und Engagement um seine Frau Erika kämpft.

Wer leidet mehr? Die Perspektiven

Eine der zentralen Fragen, die der Film aufwirft, ist, wer eigentlich mehr unter der Alzheimer-Erkrankung leidet: die betroffene Person oder der Partner, der hilflos zusehen muss, wie das Leben des geliebten Menschen sich aufzulösen droht. Im Film wird deutlich, dass beide Seiten mit enormen Herausforderungen konfrontiert sind. Erika, gespielt von Gisela Schneeberger, verliert nach und nach ihre Erinnerungen und ihre Orientierung, während Hartmut verzweifelt versucht, ihre Lebensgeister wach zu halten und ihr ein Gefühl von Geborgenheit zu geben.

Die Realität akzeptieren?

Hartmut stößt auf Widerstand, als er versucht, Erikas Lebensgeister und die Erinnerung an ihre besten gemeinsamen Jahre wach zu halten. „Sie müssen sich der Realität stellen“, lautet der Rat von Expertenseite. Auch Sohn Thomas drängt darauf, die Mutter in ein Heim für Alzheimerpatienten zu geben. Doch Hartmut weigert sich, die Krankheit einfach hinzunehmen. Er weiß, dass er sie nicht aufhalten kann, aber er hofft, dass er für einige Momente sich und seine Frau noch einmal gemeinsam glücklich sehen wird.

Die rettende Idee: Eine Reise in die 70er

Als Hartmut bemerkt, dass Erika auf alte Popsongs aus den 1970er Jahren mit einem Freudestrahlen reagiert und plötzlich tanzt wie damals, hat er eine Idee: „Ich dreh die Zeit zurück, wir machen alles auf alt.“ Mit Hilfe seiner unkonventionellen Enkelin Helena verwandelt er das Haus des Ehepaars in ein schräges Retro-Paradies mit Blümchentapete und poppigem Seventies-Mobiliar. Und tatsächlich: Als Hartmut die Hits von damals auflegt, wirkt Erika wie ausgewechselt.

Die Tragikomödie des Alltags

Der Film „Für dich dreh ich die Zeit zurück“ ist eine Tragikomödie, die das Krankheitsbild sehr ernst nimmt. Die Unruhe der Kranken resultiert oft aus der Wahrnehmung des eigenen beängstigenden Zustands. Für Beruhigung zu sorgen ist eine gute Strategie, die den Krankheitsverlauf nicht stoppen, aber die Situation insgesamt verbessern kann. Hartmut beschreibt es als Ordnung schaffen im Kopf, bevor die Kranken in der Phase der „gnädigen Schwelle“ von selbst ruhig werden, „weil sie nicht mehr bemerken, dass sie alles vergessen“.

Lesen Sie auch: Erwin Stolz: Ein Experte der Neurologie

Die Illusion der glücklichen Jahre

Hartmut und seine Enkelin schaffen für Erika die Illusion ihrer glücklichen Jahre. Der Film begegnet der Krankheit mit ihren für den nicht Betroffenen absurd anmutenden Episoden mit einer nicht minder absurden fiktionalen Lösung, die sich dann allerdings als ausgesprochen genial entpuppt. Denn die Macher dringen nicht nur multiperspektivisch und tiefgründig in die tragische Alzheimer-Kommunikation ein, sondern sie nutzen gleichsam ein spielerisch-phantasievolles Moment - und das eben nicht nur im Film, sondern auch in Hinblick auf den Zuschauer. Dem vermittelt sich damit Vieles von den Dilemmata, die diese Krankheit mit sich bringt.

Mehr als nur ein dramatischer Diskurs

Dies alles wird aber nicht nur erzählt als typisch dramatischer Diskurs mit Expertenstimmen, rationalem Familienstreit und dem steten, zu erwartenden Niedergang, sondern als eine anschauliche Tragikomödie, der die tiefe Verzweiflung des Ehepartners zugrunde liegt. Auch wird „die Patientin“ nicht vorgeführt, sondern als ein Mensch gezeigt, der in seinem eigenen, von der Welt abgeschotteten System lebt. Gefühle hat in erster Linie der Ehemann. Die irrwitzigen Äußerungen der Kranken sind neben den unbeabsichtigt boshaften („Ich mag Sie nicht, Sie sind alt und schrumpelig“), wie man sie aus anderen Alzheimer-Filmen kennt, immer wieder auch von einer geradezu poetischen Größe („Neulich hat man mir die ganze Woche gestohlen und keiner hat mir was gesagt“).

Ein optischer Glücksmoment

Regisseur Nils Willbrandt und die Gewerke haben die Geschichte kongenial umgesetzt. Ohne ins nur Nostalgische zu verfallen, um aber doch die Gefühle ausreichend transparent zu machen, wird dem Retro-Szenario im Rahmen der Geschichte der angemessene Platz eingeräumt. „Die Sprache des Gefühls sprechen, nicht die des Verstandes“, hat die männliche Hauptfigur in einem klugen Buch über Alzheimer gelesen, „wenn der Verstand die Sprache verliert, dann spricht man mit dem Herzen.“

Die Stärken des Films

Gerade auch auf dieser klug emotionalen Ebene hat der Film seine besonderen Stärken - und die bringen Willbrandt und die Autoren zur Entfaltung, weil sie sich Zeit nehmen für die Figuren, für die Zwischentöne ihrer Beziehungen, weil sie die Handlung nicht mit überflüssigen Subplots oder Nebenfiguren verwässern, weil die Haupt-Location, das freistehende Einfamilienhaus vor den Toren Wiens, visuell vorzüglich passt zur dezenten Stilisierung, die den ganzen Film auszeichnet. Die Besetzung ist bis in die Nebenrollen vorzüglich, die Tonlagen der Schauspieler stecken voller feiner Nuancen und die Gesamtanmutung ihrer Interaktionen wirkt wie aus einem Guss. Und bemüht wird hier keine dauerironische Komödiensprache, sondern gepflegt wird ein zwar zugespitzter, aber nahezu realistischer Umgangston.

Die "gnädige Schwelle"

Eines erreicht Hartmut: die hibbelige Erika schafft Ordnung in ihrem Kopf und nähert sich der Phase der „gnädigen Schwelle“. „Für dich dreh ich die Welt zurück“ ist der bislang beste ARD-Freitagsfilm in diesem Jahr. Das hat neben der Summe der stimmigen Details damit zu tun, dass Unterhaltung hier nicht Selbstzweck bleibt. Umgekehrt lässt sich das Erzählte aber auch nicht wohlfeil instrumentalisieren als filmischer Selbsthilfekurs für Alzheimer-Angehörige, noch taugt es als Trauerkloß-Veranstaltung für Nichtbetroffene, sondern seine Macher pendeln die Geschichte zwischen gesellschaftlich relevant und individuell tragisch aus.

Lesen Sie auch: Das Böhm-Pflegemodell im Detail

Der "Austria Touch"

Dass dies nach dem Überraschungserfolg „Mein Schwiegervater, der Stinkstiefel“ mal wieder einem österreichischen Film gelingt, ist kein Zufall. „Vorstadtweiber“, „Braunschlag“, die in Wien spielende BR-Kooperation „Seit du da bist“, einige Kronthaler-Dramödien, ja selbst einige MDR/ORF-Koproduktionen, zuletzt „Familie mit Hindernissen“, besitzen „das gewisse Etwas“, das man bei deutschen Komödien nur selten findet. In einem Satz oder gar einem Wort („frecher“, „lässiger“, „schwarzhumoriger“, „böser“) erklären lässt sich das nicht, zumal in den genannten Filmen ja auch entscheidende Positionen von deutschen Kreativen eingenommen werden. Kritiker und Genre-Analytiker sollten einmal genauer diesen „Austria Touch“ unter die Lupe nehmen.

Eine Hommage an die Liebe

„Für Dich dreh ich die Zeit zurück“ ist eine große und großartige Hommage an die Liebe und, etwas kleiner formuliert, ein Film über die Furcht, im Alter alleine zu sein. Uli Brée und Klaus Pieber haben das Drehbuch geschrieben, das über das Figurenpersonal die Aspekte der Krankheit und den Umgang damit erzählt. Nils Willbrandt inszeniert. Es ist eine fast komplett österreichische Produktion mit Erwin Steinhauer in der Hauptrolle, nur Gisela Schneeberger sorgt an den wenigen Stellen, an denen ihre Erika spricht, für deutschen Zungenschlag.

Realismus und Märchen

Ob die Ösis solch eine Komödie besser kennen, weil sie Ösis sind? Weil Teutonen der Mut und die Fantasie fehlen für so eine fein abgestimmte Balance aus Realismus und Märchen? Denn die Tücken des Alzheimers und die Frustrationen für die Angehörigen, sie werden nicht unter den (Musik-)Teppich gekehrt. Und doch gibt es sie, diese zutiefst komischen Momente, wenn etwa Erika zu Hartmut sagt: „Ich mag Sie nicht, Sie sind alt und schrumpelig.“

Hoffnung injizieren

Alzheimer gehört zu den Themen, bei denen der sensible Umgang enorm wichtig ist. Nicht nur bei der Grundrichtung, gleichfalls bei den Nuancen. Dieser Fernsehfilm injiziert dem eigentlich todtraurigen Sujet - ein Mensch verliert sich selbst - Hoffnungssprenkel. Hartmut kämpft für sich und für Erika. Mehr für sich oder mehr für Erika? Für beide. Erwin Steinhauer findet ein glaubwürdiges Verhältnis zwischen Kampf und Resignation, sein Hartmut wie die übrigen Figuren im gleichrangig besetzten Ensemble haben bei aller Sprache des Gefühls einen realistischen Umgangston.

Die Rolle der Musik

Klar, Hartmut agiert, hier liegt der Handlungsfokus, während Erika nur reagiert, reagieren kann. Gisela Schneeberger zeigt sie beiläufig, elfenhaft, zuweilen poetisch: „Ich muss jetzt still werden, gute Nacht, der Tag ist schon leer.“ Keine verrückte Alte, eine ältere Frau, deren Wahrnehmung und Ausdruck sich verschoben haben. Regisseur Nils Willbrandt zeigt die Dilemmata der Demenz, freilich nicht in der Alzheimer-Film-Tonlage, sondern anschaulich, farbengesättigt, mehr spielerisch-fantasievoll als diskurs-traurig. Der Film läuft der Krankheit nicht davon, er blättert sie multiperspektivisch und emotional auf. In diesem Pendelschlag mischt sich das Individuelle mit dem Relevanten. Und das Straßenfest ist ein optischer Glücksmoment, ein sagenhafter Retro-Schritt in die 70er. Der Film tanzt.

Lesen Sie auch: Informationen für Alzheimer-Patienten und Angehörige

Kritische Stimmen

Trotz der positiven Aspekte gibt es auch kritische Stimmen zum Film. So wird bemängelt, dass die Rolle von Gisela Schneeberger zu anspruchslos sei und ihr der Kontrollverlust und die Erklärung gegenüber den Liebsten nicht abverlangt würden. Erika sei darüber schon hinaus. Auch die Probleme der lesbischen Enkelin rücken gegen Ende zu stark in den Vordergrund. Zudem wird die Musikauswahl als etwas wahllos empfunden.

tags: #erwin #steinhauer #alzheimer #krankheit