Multiple Sklerose (MS) ist eine der häufigsten Erkrankungen des zentralen Nervensystems in Deutschland, von der etwa 4 von 100.000 Einwohnern pro Jahr betroffen sind. Vor allem junge Erwachsene sind betroffen. Die Diagnose MS stellt Patienten zunächst vor große Unsicherheiten, da die Symptome vielfältig sind und oft anderen Erkrankungen ähneln. Umso wichtiger ist eine frühzeitige und präzise Diagnostik, um den Krankheitsverlauf positiv zu beeinflussen. Hierbei spielen evozierte Potenziale (EP) eine entscheidende Rolle.
Die Bedeutung der Diagnostik bei Multipler Sklerose
Die Diagnose „MS“ bedeutet für Patienten zunächst eine große Unsicherheit. Typische Fragen können sein: Wie schwer bin ich betroffen? Welche Therapie ist die richtige für mich? Und welche Konsequenzen hat die Erkrankung für meine Familie, meine persönlichen Lebensziele oder meine Karriere? In der Marianne-Strauß-Klinik wird besonderes Augenmerk auf die individuelle Krankheits- und Lebenssituation gelegt. So widmen sich Ärzte intensiv der Krankengeschichte (Anamnese) und führen eine gründliche körperliche neurologische Untersuchung durch, um weitere Anzeichen der MS zu erkennen und andere Erkrankungen auszuschließen (Differenzialdiagnostik). Auch im weiteren Verlauf spielt die MS Diagnostik eine wichtige Rolle: So können Krankheitsverlauf und Therapiefortschritte überwacht werden, um bei Bedarf den Therapieplan anzupassen oder weitere Unterstützungsmaßnahmen einzuleiten.
Trotz guter Diagnosekriterien erkennen Ärzte in Deutschland Multiple Sklerose (MS) erst drei bis vier Jahre nach Auftreten der ersten Anzeichen. Denn die Symptome der Erkrankung des zentralen Nervensystems ähneln vor allem zu Beginn wegen ihrer häufig nur kurzzeitigen Präsenz einer Vielzahl anderer Krankheiten, die meist als banal eingeordnet werden.
Was sind evozierte Potenziale?
Für die MS-Diagnose können auch elektrophysiologische Untersuchungen, sogenannte evozierte Potenziale, hilfreich sein. Jeder Reiz wird im Nervensystem über elektrische Impulse von Nervenzelle zu Nervenzelle weitergeleitet. Bei den evozierten Potenzialen wird gemessen, wie lange ein von außen gesetzter Reiz benötigt, um ins Gehirn zu gelangen. Durch die Schädigung der Myelinscheiden werden die Impulse langsamer weitergeleitet. Selbst ohne sichtbare Symptome geben die Untersuchungen schon erste Hinweise auf eine Leitungsstörung. Das bedeutet, dass sich auch eine versteckte Krankheitsaktivität bereits zu Beginn der Erkrankung erkennen lässt. MS ist eine Autoimmunerkrankung.
Evozierte Potentiale (EP) messen hochsensibel und schnell, wie gut Nervenbahnen Signale weiterleiten. Durch äußerliche Stimulation löst der Arzt gezielt elektrische Spannungsunterschiede in der Hirnrinde aus, sogenannte evozierte Potenziale. Durch die Messung dieser Spannungsunterschiede untersucht der Arzt gezielt die Funktion der Nervenbahnen. Dabei löst er einen Reiz aus und misst, wie lange es dauert, bis dieser von der Hirnrinde verarbeitet wird. Multiple Sklerose (MS) schädigt die Verkleidung der Nerven, weshalb Reize verlangsamt übertragen werden. Sei es das Kribbeln im Bein oder die schwarzen Flecken vor den Augen - hinter diesen Symptomen verbirgt sich eine Störung der Reizweiterleitung im Nervensystem.
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Durchführung der Untersuchung
Die Untersuchung mit evozierten Potenzialen ist ein nicht-invasives Verfahren, das in verschiedenen Modalitäten durchgeführt werden kann, je nachdem, welche Nervenbahnen untersucht werden sollen. Es gibt verschiedene Arten von evozierten Potenzialen, die je nach Art der Stimulation und der gemessenen Antwort unterschiedliche Aspekte der Nervenfunktion beurteilen. Zu den gängigsten Arten gehören:
- Visuell evozierte Potenziale (VEP): Bei MS-Patienten wird etwa die visuelle Leitfähigkeit durch das Auge, den Sehnerv und das Gehirn nach Stimulation mit einem Schachbrettmuster gemessen. Studien belegen, dass oft auch ohne klinische Vorgeschichte einer Sehstörung, 42 bis 100 Prozent der MS-Patienten ein auffälliges visuelles EP haben. Sie sitzen in einem verdunkelten Raum. Vor Ihnen befindet sich ein Bildschirm auf dem ein schwarz-weißes Muster wie ein Schachbrett erscheint. Außerdem sehen Sie einen helleren Lichtpunkt, der meist in der Mitte steht und nur bei besonderen Untersuchungen am Rand zu finden ist. Sie sollen während der ganzen Untersuchungsdauer den Lichtpunkt anschauen, obgleich der das Schachbrettmuster hin-und herspringt.
- Akustisch evozierte Potenziale (AEP): Sie sitzen bequem in einem Stuhl und bekommen einen Kopfhörer aufgesetzt, aus dem Sie erst rechts und dann links knackende Geräusche hören. Da immer Seite allein untersucht werden soll, wird die Hörfähigkeit des anderen gerade nicht untersuchten Ohres durch ein andauerndes Rauschen blockiert. Vor Beginn der Untersuchung werden Metallplättchen über den Knochen hinter jedem Ohr aufgeklebt und auf die Mitte des Kopfes.
- Somatosensorisch evozierte Potenziale (SSEP): Bei der Untersuchung liegen Sie auf einer Untersuchungsliege und sollten möglichst entspannt sein. Die Gefühlsnerven werden durch sehr kurze und schwache elektrische Reize aktiviert. Die Reize sind gerade so stark, daß Sie sie fühlen und daß eine geringe Zuckung in den zugehörigen Muskeln auftritt. Die Reize werden hinter dem rechten und linken Knöchel sowie am rechten und linken Handgelenk gegeben, um die Bahnen für beide Beine und Arme untersuchen zu können.
- Motorisch evozierte Potenziale (MEP): Durch magnetisch ausgelöste Reize werden die Nerven, die vom Gehirn zu verschiedenen Muskeln ziehen (motorische Bahnen) untersucht. Bei der Untersuchung liegen Sie auf eine Untersuchungsliege. Es werden Oberflächenelektroden über die Muskelbäuche der zu untersuchenden Muskeln an Händen und Unterschenkeln geklebt. Bei der Untersuchung zur Zunge oder Wange sind die Oberflächenelektroden in eine Vorrichtung eingebettet, die auf die Zunge bzw. in die Wangen gelegt wird. Die Nervenzellen der Hirnrinde werden mit Hilfe einer Stimulationsspule, die über den Kopf gehalten wird, gereizt. Dabei entsteht durch die Entladung des Kondensators ein kurzes Klopfgeräusch. Durch die Gehirnaktivierung werden Impulse über das Rückenmark und die peripheren Nerven zur Gesichts-, Arm- und Beinmuskulatur fortgeleitet, wo es zu einer kurzen Zuckung kommt. Im weiteren Verlauf werden die Nervenbahnen erneut nach ihrer Umschaltung zur peripheren Nervenbahn (über der Halswirbelsäule für die Arme und über der Lendenwirbelsäule für die Beine) magnetisch gereizt. Vorgehen: An Kopf, Hals und Lendenwirbelsäule wird mittels einer Magnetspule ein Magnetfeld erzeugt. Vor Beginn der Untersuchung werden Metallplättchen (oder ganz dünne sterilisierte Akupunkturnadeln) rechts und links am Kopf und an der Stirn angeklebt oder bei bestimmten Fragestellungen auch am Nacken und der Schulter.
Während der Untersuchung werden Elektroden auf der Kopfhaut oder an anderen Körperstellen platziert, um die elektrischen Signale aufzuzeichnen, die durch die Stimulation der Nervenbahnen entstehen. Die gemessenen Signale werden dann von einem Computer analysiert, um die Leitgeschwindigkeit und die Funktion der Nervenbahnen zu beurteilen.
Vorteile der evozierten Potenziale
„Evozierte Potentiale haben viele Vorteile: Sie sind einfach durchzuführen, wenig belastend für den Patienten und wesentlich billiger als das MRT. Die DGKN rät anlässlich des Welt-Multiple-Sklerose-Tages sogenannte evozierte Potentiale (EP) zu nutzen. Sie messen hoch sensibel und schnell, wie gut Nervenbahnen Signale weiterleiten.
Evozierte Potenziale zur Prognose von MS
Ganz neue Möglichkeiten versprechen evozierte Potenziale bei der Prognose von MS. „Während es für die Diagnose zuverlässige Kriterien gibt, verfügen wir trotz intensiver Forschung über keine Prozessmarker“, so Buchner. Wie die Krankheit sich in den Folgejahren entwickeln wird, können Neurologen daher bisher nicht gut prognostizieren. Eine aktuelle Studie verspricht jedoch Hoffnung: Bei 50 Patienten gelang in 7 von 10 Fällen eine valide Vorhersage des Krankheitsverlaufs mittels evozierter Potenziale für die folgenden drei Jahre. Um zu prüfen, wie gut evozierte Potentiale den Verlauf der MS vorhersagen können, plant die DGKN zurzeit unter Federführung von Professor Dr. med. Marziniak M. eine groß angelegte Multizenterstudie. Ob das elektrophysiolgische Verfahren in Zukunft auch den Verlauf der MS vorhersagen kann, will die DGKN jetzt in einer groß angelegten Multizenterstudie testen.
Weitere diagnostische Verfahren bei MS
Auf Basis der Anamnese und der körperlichen Untersuchung folgen weitere Untersuchungen wie z. B. Messungen der evozierten Potenziale, die Untersuchung des Liquors (Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit) oder die optische Kohärenztomographie. Prof. Dr. OCT)internistische Diagnostik (Labor, EKG, Herzecho, Röntgen, Sonographie)Neuropsychologische Testung. Zwar kann die Diagnose mittels Nachweis mehrerer Entzündungsherde im zentralen Nervensystem, Magnetresonanztomografie (MRT) sowie Serum- und Liquoruntersuchungen heute bereits nach Auftreten der ersten Symptome vermutet werden. „Es gibt aber vor allem in frühen Stadien unklare Fälle“, so Professor Dr. med. Buchner, Vorstandsmitglied der DGKN. „In nicht eindeutigen Fällen können evozierte Potenziale die Diagnose sichern“, so Buchner, Chefarzt an der Klinik für Neurologie und klinische Neurophysiologie in Recklinghausen.
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Für eine MS-Diagnose gibt es nicht die eine Untersuchung und auch nicht den einen Test. In manchen Fällen lässt sich auf dieser Grundlage eine MS-Diagnose schon nach einem ersten Schub stellen. Am Anfang jeder Untersuchung steht die Anamnese, d. h. Ihre Krankengeschichte, die Ihre Ärztin bzw. Ihr Arzt in einem längeren Gespräch in Erfahrung bringen möchte. Es werden Ihnen viele Fragen gestellt, die Sie ehrlich beantworten sollten. Meist geht es dabei um frühere oder bestehende Erkrankungen bei Ihnen oder in Ihrer Familie. Oder darum, wie sich Ihre Beschwerden zeigen, was Sie dagegen unternehmen und ob dies Linderung bringt. Den einen Blutwert oder den einen Test gibt es für die MS-Diagnose nicht. Gleichwohl können über Untersuchungen des Blutes andere Erkrankungen ausgeschlossen werden. Auch können Standardbluttests, beispielsweisedie Leber-, Nieren- oder Schilddrüsenwerte prüfen und Hinweise auf andere Erkrankung als MS geben.
Die Bedeutung der Frühtherapie
„Die genaue Diagnostik und der frühe Beginn einer Immuntherapie sind entscheidend für den weiteren Verlauf der Erkrankung.“Prof. Dr. Ingo Kleiter, Chefarzt. Auch wenn MS derzeit als nicht heilbar gilt, kann eine frühzeitige Therapie den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen. Dabei ist es ist wichtig zu wissen: Zwar stehen die körperlichen Einschränkungen zu Beginn der Erkrankung nicht im Vordergrund, es sind jedoch in vielen Fällen ausgeprägte Entzündungsreaktionen im zentralen Nervensystem zu beobachten. Eine frühzeitig einsetzende, individualisierte Immuntherapie ist daher entscheidend, Entzündungsreaktionen wirkungsvoll zu unterdrücken und eine weitere Nervenschädigung einzudämmen. In der Marianne-Strauß-Klinik haben wir uns zum Ziel gesetzt, in Sachen Therapie immer auf dem neuesten Stand sein. So bieten wir Ihnen alle derzeitig verfügbaren Immuntherapien an und nehmen außerdem an unterschiedlichen Therapiestudien teil, um neue Behandlungsansätze zu entwickeln. Zusätzlich unterstützen wir Sie auch im Rahmen einer symptomatischen Behandlung: Unsere Spezialisten behandeln und beraten in Fragestellungen rund um Schmerztherapie, Bewegungsstörungen oder Blasen- und Darmstörungen.
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