Die Durchtrennung des Corpus callosum, des sogenannten Gehirnbalkens, der die beiden Hirnhälften miteinander verbindet, ist ein neurochirurgischer Eingriff, der in der Vergangenheit zur Behandlung schwerer Epilepsie eingesetzt wurde. Obwohl diese Methode heute weniger verbreitet ist, hat sie wesentlich zum Verständnis der Funktionsweise des Gehirns und der Spezialisierung der Hirnhälften beigetragen.
Ursprünge und Entwicklung der Kallosotomie
Die Geschichte der Kallosotomie, der Durchtrennung des Corpus callosum, beginnt in den 1940er Jahren. Mediziner entdeckten damals, dass sich bei bestimmten Formen von Epilepsie die Entladungen von einer Hirnhälfte auf die andere ausbreiten. Der Gehirnbalken, das Faserbündel, das die beiden Hemisphären verbindet, schien dabei eine Schlüsselrolle zu spielen. Die Frage war, ob man diese Art von Anfällen verhindern könnte, indem man den Balken chirurgisch durchtrennt.
Nach Vorstudien an Tieren führten Forscher die sogenannte Kallosotomie an 25 Patienten durch, bei denen Medikamente keine Wirkung gezeigt hatten. Die Operation sollte ihre letzte Hoffnung sein. Da der Erfolg jedoch meist ausblieb, wurden die nicht ungefährlichen Operationen bald wieder eingestellt. Die unkontrollierten elektrischen Entladungen im Gehirn der Patienten konnten auf diese Weise offenbar nicht vollständig unterbunden werden.
Etwa 30 Jahre später nahmen die Neurochirurgen Philip Vogel und Joseph Bogen aus Los Angeles die Idee wieder auf. Sie vermuteten, dass bei den früheren Eingriffen der Balken möglicherweise nicht vollständig getrennt worden war. Mit größerer Sorgfalt gelang es ihnen, die epileptischen Anfälle ihrer Patienten zumindest stark einzudämmen. Vogel und Bogen glaubten, dass die Trennung der Hirnhälften keine kognitiven Einbußen für die Patienten mit sich bringe.
Die Funktion des Corpus Callosum
Das Corpus callosum ist eine "kleine Brücke", über die die Kommunikation zwischen den beiden Hirnhälften läuft. Die Zahl der Nervenfasern ist hier jedoch geringer als die Zahl der Fasern innerhalb einer Hirnhälfte. Dies ist ein Kompromiss zwischen Auflösung und Geschwindigkeit der Informationsübertragung. Das Gehirn optimiert die Informationsübertragung, indem es sowohl dünne, unmyelinisierte Fasern als auch einige dicke, myelinisierte Fasern verwendet. Eine dicke, hochgradig myelinisierte Faser verdrängt 40 kleine, unmyelinisierte Fasern.
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Die Identifizierung eines Sinnesreizes innerhalb einer Hirnhälfte erfolgt sehr schnell, etwa in fünf bis sechs Millisekunden. Die Kommunikation zwischen entsprechenden Netzwerken in den beiden Hemisphären dauert jedoch etwa 30 bis 40 Millisekunden. Dies erklärt die Notwendigkeit der Spezialisierung der beiden Hirnhälften, die autark Entscheidungen treffen müssen, um effizient zu arbeiten.
Spezialisierung der Hirnhälften
Die beiden Hirnhälften sind auf unterschiedliche Komponenten spezialisiert. Die linke Hemisphäre konzentriert sich auf Details, während die rechte Hemisphäre die Zusammenhänge bevorzugt. Es gibt die These, dass die Hirnhälften eher um die Vorherrschaft über unser Handeln konkurrieren, als dass sie kooperieren. Die Fasern, die die beiden Hirnhälften verbinden, haben letztlich einen hemmenden Effekt.
Auswirkungen der Durchtrennung des Gehirnbalkens
Die Durchtrennung des Corpus callosum führt dazu, dass Sehinformationen nicht mehr von einer Seite zur anderen gelangen. Eindrücke aus dem rechten Teil des Gesichtsfeldes werden in der linken Gehirnhälfte verarbeitet, und umgekehrt. Patienten mit getrenntem Gehirn können Bilder, die im rechten Gesichtsfeld auftauchen, korrekt beschreiben, sehen aber angeblich nichts, wenn dasselbe Bild im linken Feld erscheint. Sie können jedoch auf einen Gegenstand deuten, der dem Bild entspricht.
Ähnliche Ergebnisse zeigen sich für den Tast-, Geruchs- und Hörsinn. Die Muskulatur der Oberarme kann von beiden Hemisphären gesteuert werden, während Hand- und Fingerbewegungen unter der alleinigen Kontrolle der gegenüberliegenden Hirnhälfte stehen. Die linke Hirnhälfte steuert die rechte Hand, die rechte die linke.
Kommunikation nach der Durchtrennung
Auch nach der Durchtrennung des Balkens können die beiden Hirnhälften noch auf gewisse Weise miteinander kommunizieren. Der Balken ist zwar die wichtigste neuronale Brücke, aber es gibt noch andere, kleinere Verbindungen. Das Aufmerksamkeitssystem, das zielgerichtete Wahrnehmung ermöglicht, scheint beiden Hemisphären gemeinsam zu sein. Studien haben gezeigt, dass jede Hirnhälfte eines Split-Brain-Patienten bei räumlicher Wahrnehmung auch auf bestimmte Stellen im Blickfeld achten kann, die eigentlich zur Sinnessphäre der Gegenseite gehören.
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Es gibt Hinweise darauf, dass es begrenzte Ressourcen für Aufmerksamkeit gibt und dass eine Hemisphäre umso mehr die Hilfe der anderen Seite benötigt, je schwerer die Aufgabe ist. Neuere Arbeiten zeigen, dass ein weiterer Aspekt der Aufmerksamkeit trotz durchtrennten Balkens erhalten bleibt. Split-Brain-Patienten können bei visuellen Detektionsaufgaben sogar besser abschneiden als andere Probanden. Offenbar hemmt das unversehrte Gehirn die Suchmechanismen, über die jede Hemisphäre von Natur aus verfügt.
Grenzen der Übertragbarkeit von Tierversuchen
Die Forschung über die Rolle des Balkens hat die Grenzen der Übertragbarkeit von Tierversuchen aufgezeigt. Obwohl es bemerkenswerte Übereinstimmungen zwischen den Gehirnen von Menschen und Tieren gibt, gibt es auch zahlreiche Unterschiede. So können Affen, bei denen die vordere Kommissur bei der Split-Brain-Operation verschont blieb, weiterhin visuelle Information zur anderen Hirnseite geben, was beim Menschen nicht gelingt.
Individuelle Unterschiede und Plastizität
Auch innerhalb der menschlichen Spezies gibt es individuelle Unterschiede und Plastizität. Während bei den meisten Menschen die rechte Hemisphäre nicht einmal einfachste sprachliche Aufgaben bewältigen kann, gibt es Ausnahmen. Ein Split-Brain-Patient lernte später auch von der rechten Hemisphäre her zu sprechen. Eine andere Patientin konnte ausschließlich von der stummen Seite her schreiben.
Das Gehirn als Ensemble von Modulen
Die Split-Brain-Forschung unterstützt das Konzept einer modularen Organisation des Gehirns, bei dem einzelne Einheiten jeweils spezifische Funktionen haben. Die linke Hemisphäre hat sich bei anspruchsvollen kognitiven Leistungen als ziemlich dominant entpuppt, und die Balkendurchtrennung scheint diese Fähigkeiten nicht zu beeinträchtigen.
Der Interpretier-Mechanismus
Die linke Hemisphäre verfügt über einen "Interpretier-Mechanismus", der plausible Erklärungen für Handlungen erfindet, die von der rechten Hemisphäre ausgeführt werden. Dieses Talent kreativen Erzählens beeinflusst auch das Gedächtnis. Die linke Hemisphäre produziert viele falsche Erinnerungen, während die rechte Hemisphäre sich mehr an die Wahrheit hält.
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Hirnasymmetrien und Umweltstimulation
Hirnasymmetrien werden durch Umweltstimulation während der Reifung des Gehirns beeinflusst. Studien haben gezeigt, dass die Vogelembryonen im Ei ihren Kopf so drehen, dass ihr rechtes Auge mehr Licht bekommt als das linke, was zu einer asymmetrischen Entwicklung des Gehirns führt. Auch menschliche Embryonen drehen den Kopf, und es gibt Hinweise darauf, dass dies auch beim Küssen eine Rolle spielt.
Anpassungsfähigkeit des Gehirns
Eine neue internationale Studie hat gezeigt, dass schon wenige Nervenfasern genügen, damit die beiden Hirnhälften miteinander kommunizieren können. Eine Schädigung des Corpus callosum führt nicht zwangsläufig zu Störungen in Sprache, Motorik oder Wahrnehmung. Die Ergebnisse unterstreichen die immense Anpassungsfähigkeit der funktionellen Architektur des menschlichen Gehirns und liefern wichtige Impulse für die Rehabilitationsforschung nach Hirnverletzungen.
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