Tinnitus, oft als Ohrensausen oder Phantomgeräusche wahrgenommen, betrifft in Deutschland mehr als drei Millionen Menschen. Die Ursachen für Tinnitus sind vielfältig und individuell. Bei der Diagnose wird zwischen zwei Arten unterschieden: dem objektiven Tinnitus, der von einer tatsächlichen Schallquelle im Körper ausgeht (z.B. Strömungsgeräusche in Blutgefäßen), und dem subjektiven Tinnitus, bei dem keine solche Schallquelle gefunden werden kann. Der subjektive Tinnitus ist mit über 99% der Fälle deutlich häufiger. Lange Zeit wurde angenommen, dass subjektiver Tinnitus im Innenohr entsteht, doch bildgebende Verfahren zeigen, dass die neuronale Aktivität im Gehirn von Tinnitus-Patienten verändert ist.
Die Ursachen von Tinnitus
Die genaue Pathophysiologie des Tinnitus ist komplex und noch nicht vollständig verstanden. Es gibt zahlreiche Faktoren, die die Erforschung dieser Erkrankung erschweren. Tinnitus kann sich in verschiedenen Geräuscharten, seitengetrennt oder beidseitig und in verschiedenen Intensitäten äußern. Darüber hinaus wird er durch Leidensdruck und vorhandene Bewältigungsstrategien charakterisiert, was ihn zu einer sehr individuellen Erkrankung macht.
Aktuelle Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass die Pathophysiologie von Tinnitus komplizierter ist, als es die Intuition vermuten lässt. Häufig ist Tinnitus mit einem Hörverlust verbunden, und die meisten Modelle gehen davon aus, dass Hörverlust der wichtigste Auslöser ist. Die sich daran anschließenden Veränderungen im zentralen Nervensystem (ZNS) betreffen ein neuronales Netzwerk, das sowohl traditionell definierte auditorische Hirnareale als auch nicht-auditorische Bereiche umfasst.
Tonotope Anordnung und neuronale Veränderungen
Die Sinneszellen des Innenohrs sind tonotop angeordnet, was bedeutet, dass Zellen am Beginn der Hörschnecke für hohe Frequenzen und Zellen am Ende für tiefere Frequenzen zuständig sind. Bei Schädigung der Sinneszellen verschlechtert sich das Hörvermögen in den entsprechenden Frequenzbereichen. Diese tonotope Anordnung setzt sich in der Hörbahn bis zur primären Hörrinde fort. Nervenzellen in der primären Hörrinde, die für die betroffenen Frequenzbereiche zuständig sind, erhalten ungewohnt schwache Signale und verändern ihre Verbindungen zu benachbarten Zellen, was die normale Signalverarbeitung stört.
Psychische Auswirkungen und Stress
Die emotionale Bewertung des Ohrgeräusches spielt eine große Rolle bei Tinnitus. Patienten haben häufig psychische Probleme wie Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen und depressive Syndrome. Oft berichten sie über eine aktuell bestehende psychische Belastungssituation (Dauerstress, Burnout) beim erstmaligen Auftreten des Tinnitus. Stress kann den Krankheitsverlauf und die subjektive Belastung verstärken. Ein bis fünf Prozent der Betroffenen entwickeln schwerwiegende psychosoziale Schwierigkeiten. Dies kann zu sozialem Rückzug führen, da das Ohrgeräusch die Entspannung erschwert und die Kommunikation mit anderen beeinträchtigt.
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Wann ist eine Ohr-MRT sinnvoll?
Eine Magnetresonanztomographie (MRT) des Ohres kann helfen, Ursachen für Beschwerden wie Schwindel, Hörverlust oder Phantomgeräusche zu finden oder auszuschließen. Eine MRT kann bei folgenden Problemen sinnvoll sein:
- Verstopfung des Gehörganges (z.B. durch Ohrenschmalz oder Fremdkörper)
- Fehlbildungen des Gehörganges
- Gutartige oder bösartige Tumore im Gehörgang oder Mittelohr
- Gutartige oder bösartige Tumore im Inneren (z. B. Akustikusneurinom/ Vestibularisschwannom)
- Verletzungen
- Knochenwucherungen
- Belüftungsstörung sowie Flüssigkeitsansammlung im Mittelohr (Paukenerguss)
- Mittelohrentzündung akut oder chronisch
- Entzündung der luftgefüllten Räume im Mittelohr (Mastoiditis)
- Verwachsungen der Gehörknöchelchen (Otosklerose)
- Durchbruch (Perforation) des Trommelfells
- Frakturen der Schädelbasis
- Riss des ovalen Fensters
- Altersbedingte Schwerhörigkeit (Presbyakusis)
- Lärmschäden
- Ménière-Krankheit (Morbus Ménière)
- Vergiftungen (toxische Schallempfindungsschwerhörigkeit)
- Gehirnerschütterung
- Nervenverletzungen (z. B. nach Schädelverletzungen)
- Entzündungen der Hirnhäute (Meningitis)
- Fehlfunktion an der Verbindung der Haarzelle im Innenohr mit dem Hörnerv (auditorische Neuropathie)
- Schlaganfall
Experten für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde und Radiologie
Spezialisten wie Dr. med. Kira Lutz, Fachärztin für Radiologie mit Schwerpunkt Neuroradiologie, Dr. med. Yvonne Böckenfeld, Fachärztin für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, und PD Dr. med. Johann-Martin Hempel, Experte für Neuroradiologie und Kopf-Hals-Radiologie, sind erfahrene Ansprechpartner für die Diagnose und Behandlung von Tinnitus. Auch Dr. med. Andreas Kasperczyk, Prof. Dr. med. Lorenz Jäger, Prof. Shinji Naganawa, PD Dr. med. Yasemin Tanyildizi und Prof. Dr. med. Philipp Bäumer bringen ihre Expertise in die Diagnostik und Behandlung von Tinnitus ein.
Arten von Hörstörungen
Hörstörungen lassen sich in drei Gruppen einteilen:
- Schallleitungsschwerhörigkeit: Hier gelangen die Schallwellen in abgeschwächter Form oder gar nicht ins Innenohr. Die Ursache kann im Gehörgang (z.B. Verstopfung) oder im Mittelohr (z.B. Entzündung) liegen.
- Schallempfindungsschwerhörigkeit: Trommelfell und Gehörknöchelchen leiten die Schallwellen korrekt weiter, aber die Übertragung und Verarbeitung der Signale im Innenohr ist gestört.
- Zentrale Schwerhörigkeit: Die Hörminderung wird durch eine Störung im Gehirn ausgelöst. Die Signale werden vom Hörnerv richtig übertragen, aber im Gehirn fehlerhaft verarbeitet, was zu Problemen bei der Interpretation von Tönen führt.
Die Rolle der MRT in der Tinnitus-Diagnostik
Die MRT des Ohres macht das Innenohr, die umliegenden Strukturen, den Hör- und Gleichgewichtsnerv sowie das Gehirn sichtbar. Die Untersuchung dauert etwa 40 Minuten und wird in Rückenlage durchgeführt.
Mit einer MRT können Wucherungen an der Nervenbahn, die das Ohr mit dem Gehirn verbindet (vestibuläres Schwannom oder Akustikusneurinom), sowie andere Erkrankungen wie Infektionen, Verwachsungen, Irritationen des Hör- und Gleichgewichtsnervs durch Gefäße oder Verletzungen sichtbar gemacht werden.
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MRT bei Morbus Menière
Eine spezielle MRT-Untersuchung bei ARISTRA kann auch die Menière-Krankheit (Morbus Menière) erkennen, eine Erkrankung des Innenohres, die durch Anfälle von Schwindel, Hörverlust und Ohrensausen gekennzeichnet ist. Die MRT-Untersuchungen des Ohres bei ARISTRA werden in Zusammenarbeit mit international anerkannten Experten für die HNO-Bildgebung fortlaufend weiterentwickelt.
Funktionelle Bildgebung des Gehirns bei Tinnitus
Die funktionelle Bildgebung (Neuroimaging) dient der Darstellung von Hirnaktivität und physiologischen Prozessen in Bezug zu anatomischen Strukturen. Sie eignet sich gut zur Entdeckung komplexer neuronaler Mechanismen bei Tinnituspatienten. Funktionelle Bildgebungsverfahren bieten die Möglichkeit, Eigenschaften der neuronalen Aktivität wie Ort, Stärke und funktionelle Verbindungen zu beschreiben, die innerhalb des ZNS in einem zeitlichen Zusammenhang stehen. Im Gegensatz dazu dient die strukturelle Bildgebung der Darstellung von strukturell-anatomischen Unterschieden sowohl in den auditorischen als auch in den nicht-auditorischen Regionen im Vergleich zwischen Tinnitusbetroffenen und Probanden ohne Tinnitus.
Zu den funktionellen Methoden gehören direkte Techniken wie die Elektroenzephalographie (EEG) und die Magnetenzephalographie (MEG), die durch Neuronen ausgelöste Hirnströme ableiten, sowie indirekte Verfahren wie die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) und die Positronenemissionstomographie (PET). Diese messen über Veränderungen des Blutflusses oder der Energieaufnahme in bestimmten Bereichen des Gehirns die Aktivität von Neuronengruppen.
Funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT)
Die fMRT ist eine der am häufigsten verwendeten Methoden in der Tinnitusforschung. Sie misst die Hirnaktivität in Ruhe (Resting-State-fMRT) oder während der Erledigung einer Aufgabe (Task-Based-fMRT). Bei der Resting-State-fMRT werden die spontanen Aktivitäten im Gehirn gemessen, die entlang von Bahnen verlaufen, welche verschiedene Hirnregionen funktionell verknüpfen. Diese Methode wird häufig angewandt, da davon ausgegangen wird, dass die Tinnituswahrnehmung und die Beteiligung verschiedener Regionen auch in Ruhe vorhanden ist.
Veränderungen in der Resting-State-fMRT wurden in Regionen und Verbindungen gefunden, welche die Aufmerksamkeit steuern. Eine Untersuchung zeigte eine erhöhte Vernetzung zwischen dem dorsalen medialen präfrontalen Kortex, welcher eine Schlüsselfunktion in Aufmerksamkeitsprozessen hat, und dem auditorischen Kortex.
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Funktionelle Magnetresonanzspektroskopie (fMRS)
Die funktionelle Magnetresonanzspektroskopie des Gehirns (fMRS) nutzt die MRT, um den Stoffwechsel im Gehirn zu untersuchen. Anstelle einer Aktivität, wie bei der funktionellen MRT, kann die Konzentration von bestimmten Metaboliten in vorher definierten Bereichen (ROI, „region of interest“) des Gehirns gemessen werden. Es wird zunehmend als wichtiges Werkzeug in den Neurowissenschaften etabliert, um die Hirnfunktion unter normalen und pathologischen Zuständen zu untersuchen.
In der Anwendung von fMRS bei Tinnitus zeigte sich eine reduzierte Konzentration des inhibitorisch wirkenden Neurotransmitters GABA im auditorischen Kortex, was eine erhöhte Spontanaktivität und somit eine weitere Grundlage in der Wahrnehmung von Tinnitus erklären könnte.
Positronenemissionstomographie (PET)
Die PET basiert auf der intravenösen Verabreichung radioaktiver Moleküle, welche am Stoffwechsel beteiligt sind. Durch Nachweis eines hohen Glukoseverbrauchs oder durch einen erhöhten Blutfluss lässt sich ein Rückschluss auf erhöhte Hirnaktivität ziehen. In der Tinnitusforschung zeigte sich die PET in der Untersuchung der Hirnaktivität als dienlich. Es wird davon ausgegangen, dass eine periphere Deafferenzierung (z. B. durch periphere Hörschädigung) den Tinnitus auslöst, aber zentrale neuroplastische Prozesse die Wahrnehmung des Geräuschs aufrechterhalten.
Magnetenzephalographie (MEG) und Elektroenzephalographie (EEG)
MEG und EEG zeichnen elektromagnetische Felder des Gehirns auf. Die neuronale Aktivität des Gehirns erzeugt schwache Ströme bzw. Magnetfelder. Diese Aufzeichnung von Spannungsunterschieden an verschiedenen Stellen der Kopfoberfläche ermöglicht eine hohe zeitliche Auflösung im Millisekundenbereich. Aufgrund ihrer hohen zeitlichen Auflösung sind diese Untersuchungsmodalitäten für die Tinnitusforschung unersetzlich, da sie Informationen zu Veränderungen in neuronaler Verschaltung und Synchronizität bei Tinnituserleben geben können, was bei den Verfahren wie MRT und PET nicht möglich ist.
Neue Modelle für die Tinnituswahrnehmung
Ein internationales Forschungsteam kombinierte künstliche Intelligenz, Kognitionsforschung und experimentelle Neurowissenschaften, um ein neues Modell der Phantomwahrnehmung beim Tinnitus zu entwickeln. Sie identifizierten das Zusammenspiel zweier zentraler Prozesse, die wahrscheinlich Phantomwahrnehmungen auslösen:
- Prädiktive Codierung: Das Gehirn nimmt basierend auf vorhandenem Wissen zukünftige Wahrnehmungen vorweg. Beim Tinnitus interpretiert das Gehirn dann ein Geräusch in unseren Höreindruck hinein, der nicht existiert.
- Adaptive stochastische Resonanz: Ein Verstärkungsmechanismus, bei dem die Aktivität von Neuronen entlang der Hörbahn erhöht wird, indem ein neuronales Rauschen hinzugefügt wird. Dieses Verstärkerrauschen tritt insbesondere dann auf, wenn die Hörsinneszellen im Innenohr geschädigt sind und in bestimmten Frequenzbereichen das Hören eingeschränkt ist.
Nah-Infrarot-Spektroskopie
Die funktionelle Nah-Infrarot-Spektroskopie misst ähnlich wie das fMRT Veränderungen im Sauerstoffgehalt des Bluts im Gehirn. Studien haben gezeigt, dass die Spektroskopie in mehreren Bereichen des Gehirns signifikante Aktivitäts-Unterschiede zwischen Tinnitus-Patienten und gesunden Kontrollpersonen aufzeigt. Insbesondere war bei den Tinnitus-Patienten die Verbindung zwischen Arealen des Schläfenlappens und dem Stirnhirn verstärkt ausgeprägt.
Auditive Hirnstammreaktionen (ABR)
Mit auditiven Hirnstammreaktionen (ABR) haben Forscher möglicherweise ein objektives Diagnoseinstrument zur Identifizierung eines konstanten Tinnitus entdeckt. Die ABR-Messergebnisse von Erkrankten unterschieden sich stark von denen der gesunden Probanden und auch von denen, die nur zeitweise störende Geräusche vernahmen.
Diagnose von Tinnitus
Eine umfassende Diagnose ist wichtig, um den Ursachen für den Tinnitus auf die Spur zu kommen und bestimmte Auslöser auszuschließen. Das Patientengespräch (Anamnese) steht bei jeder Diagnosestellung an erster Stelle, gefolgt von einer ausführlichen körperlichen Untersuchung.
Audiometrie und Hörtests
Die Audiometrie, auch Hörtest genannt, ist eine der bekanntesten Untersuchungen. Der HNO-Arzt prüft das Hörvermögen mit der Hörweiten- beziehungsweise Sprachabstandsprüfung und klärt mit der Stimmgabelprüfung ab, ob eine Schwerhörigkeit in Folge einer Störung der Schallempfindung oder einer fehlerhaften Schallleitung auftritt. Die Audiometrie bewertet das Hörvermögen in verschiedenen Frequenzbereichen.
Tinnitus-Matching und Masking
Um die subjektive Lautstärke und Tonhöhe des Rauschens im Ohr zu bestimmen, kann der HNO-Arzt ein Tinnitus-Matching durchführen. Beim Tinnitus-Masking stellt die Fachkraft mittels Hörtest fest, ob es mögliche Tonhöhen gibt, welche die Ohrgeräusche beim Tinnitus Betroffenen verdecken.
Tympanometrie und Hirnstammaudiometrie
Die Tympanometrie und die Hirnstammaudiometrie gehören zu den objektiven Hörtests bei Tinnitus. Bei der Tympanometrie wird die Beweglichkeit des Trommelfells beurteilt, während die Hirnstammaudiometrie die elektrischen Signale aufzeichnet, die über den Hörnerv das Gehirn erreichen.
Weitere Untersuchungen
Zum Ausschluss anderer Erkrankungen können weitere Diagnostikmethoden zum Einsatz kommen, wie eine Spiegelung des Nasen-Rachen-Raums oder eine Untersuchung des Kiefers und des Kauapparats. Bei Verdacht auf psychische Probleme ist die Beratung bei einem Tinnitus-erfahrenen Psychosomatiker, Psychiater oder Psychotherapeuten ratsam.