Einführung
Das Konzept der Neurodiversität hat in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen, insbesondere in den sozialen Medien. Es stellt eine neue Sichtweise auf neurologische Unterschiede dar, die nicht als Defizite oder Krankheiten, sondern als natürliche Variationen der menschlichen Kognition betrachtet werden. Im Fokus dieser Betrachtung steht auch das Autismus-Spektrum, das traditionell als Entwicklungsstörung wahrgenommen wurde. Dieser Artikel beleuchtet das Konzept der Neurodiversität im Zusammenhang mit Autismus, diskutiert seine Vor- und Nachteile und wirft einen Blick auf die veränderten Perspektiven, die es eröffnet.
Was ist Neurodiversität?
Der Begriff Neurodiversität, geprägt von der australischen Soziologin Judy Singer und dem Journalisten Harvey Blume in den 1990er-Jahren, beschreibt die Vielfalt neurologischer Bedingungen und Funktionsweisen des Gehirns. Die Grundidee ist, dass neurologische Unterschiede normal sind und nicht zwangsläufig Störungen darstellen. Diese Unterschiede beeinflussen, wie Menschen denken, Informationen verarbeiten, lernen und sozial interagieren. Anstatt neurologische Unterschiede als Defizite zu betrachten, betont die Neurodiversität ihre potenziellen Stärken und Vorteile.
André Zimpel, ein Hamburger Psychologe und Erziehungswissenschaftler, betont die logische Konsequenz dieser Sichtweise: Angesichts der enormen Komplexität des menschlichen Gehirns mit seinen rund 86 Milliarden Nervenzellen und unzähligen Verbindungen sei es schlichtweg unmöglich, dass zwei Gehirne identisch funktionieren.
Neurodivergenz: Ein Begriff im Wandel
Begriffe wie „neurodivergent“, „neurodivers“ und „neurotypisch“ sind zwar in den sozialen Medien weit verbreitet und tauchen oft in Selbsttests auf, jedoch handelt es sich dabei nicht um medizinische Fachterminologie. Neurodivergenz bezieht sich auf Personen, deren neurologische Funktionen von der gesellschaftlichen Norm abweichen. In den vergangenen Jahren hat sich das Spektrum der Phänomene, die unter den Begriff der Neurodiversität gefasst werden, erheblich erweitert und umfasst heute Autismus-Spektrum-Störungen (einschließlich ADHS, Asperger und Autismus), Lese-Rechtschreibstörungen, Rechenstörungen, Hochbegabung, Hochsensibilität, Tourette und Bipolarität.
Autismus im Kontext der Neurodiversität
Die Neurodiversitätsbewegung zielt darauf ab, Menschen mit Autismus oder ADHS nicht primär aus einer defizitorientierten Perspektive wahrzunehmen. Viele neurodivergente Menschen leiden nicht unter ihrem Anderssein und betrachten es nicht als Krankheit oder Behinderung, auch wenn es anstrengend sein kann, sich an gesellschaftliche Regeln anzupassen. Die Akzeptanz der eigenen Neurodivergenz kann für diese Menschen eine Erleichterung und Entlastung darstellen. Sie sind anders, aber nicht falsch oder krank. Die Diagnose "Autismus" umfasst ein großes Spektrum, das jedes Schubladendenken verbietet.
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Das "Gehirn&Geist"-Dossier "Autismus verstehen" ergründet die möglichen Ursachen dieser rätselhaften Entwicklungsstörung und räumt mit Mythen auf. Es gibt Denkanstöße zum Wert des Andersseins, wobei Forscher, Journalisten und Betroffene zu Wort kommen.
Veränderungen in Normen und Erwartungen
Die zunehmende Akzeptanz des Neurodiversitätskonzepts impliziert auch eine Notwendigkeit, gesellschaftliche Normen zu überdenken. Wenn sich so viele Menschen als abweichend von der Norm empfinden, müssen Schulen und Arbeitswelten so gestaltet werden, dass sich mehr Menschen darin zurechtfinden. Dies erfordert inklusive Strukturen, die unterschiedliche Lern- und Arbeitsweisen berücksichtigen.
Umgang mit Neurodivergenz: Unterstützung statt Heilung
In der Neurodiversitätsbewegung werden Therapien oder medizinische Behandlungen als Unterstützungsmöglichkeiten betrachtet, die es Betroffenen erleichtern sollen, sich in der Welt und im Kontakt zu anderen zurechtzufinden. Da Neurodivergenz keine medizinische Diagnose im herkömmlichen Sinne ist, soll sie nicht geheilt werden. Der Fokus liegt auf der Stärkung der individuellen Fähigkeiten und der Anpassung der Umwelt an die Bedürfnisse neurodivergenter Menschen.
Kritik am Konzept der Neurodiversität
Das Konzept der Neurodiversität ist nicht unumstritten. Kritiker befürchten, dass es Erkrankungen verharmlosen und Betroffene daran hindern könnte, angemessene Hilfe zu erhalten. Die Psychiaterin Hannelore Ehrenreich vom Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim äußert Skepsis, ob der Begriff den Betroffenen wirklich weiterhilft. Sie argumentiert, dass schwere Ausprägungen von Autismus-Spektrum-Störungen rechtlich als Behinderungen definiert sind, was Betroffenen Anspruch auf Hilfe und Schutz, wie beispielsweise einen Schwerbehindertenausweis, ermöglicht.
André Zimpel räumt ein, dass die aktuelle Unterstützung für neurodivergente Menschen oft nicht zielführend ist. Als Ansprechpartner der Universität für Menschen mit Behinderungen kann er Studierenden im ADHS-Spektrum oft nur mehr Zeit für Klausuren anbieten, was jedoch keine ausreichende Hilfe für diejenigen darstellt, die bereits Schwierigkeiten haben, die reguläre Zeitspanne zu bewältigen. Er hofft jedoch, dass eine größere gesellschaftliche Akzeptanz unterschiedlicher Denk- und Lernweisen zu besseren Unterstützungsangeboten führen wird.
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Der rätselhafte Anstieg von Autismus- und ADHS-Diagnosen
Ein aktuelles Thema ist der Anstieg von Autismus- und ADHS-Diagnosen. Die Ursachen hierfür sind vielfältig und reichen von verbesserten Diagnoseverfahren bis hin zu gesellschaftlichen Veränderungen. Eine Analyse dieser Faktoren ist entscheidend, um die Hintergründe dieses Anstiegs zu verstehen.
Neurodiversität in den Medien und im Alltag
Die Auseinandersetzung mit Neurodiversität findet auch in den Medien statt. So berichtet beispielsweise Theo Parker in seinem Buch über seine Erfahrungen mit ADHS im Erwachsenenalter und seine Suche nach alternativen Sichtweisen. Auch in Beziehungen spielt das Thema eine Rolle, wie der Artikel über Fabians Partnerin zeigt, die eine ADHS-Diagnose erhält.
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