Das menschliche Gehirn wiederaufbauen: Wissenschaftliche Erkenntnisse

Das menschliche Gehirn, ein komplexes und dynamisches Organ, ist Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Forschung. Neue Erkenntnisse deuten darauf hin, dass das Gehirn weniger altert als bisher angenommen und dass es bemerkenswerte Fähigkeiten zur Selbstheilung und Anpassung besitzt. Dieser Artikel fasst aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zum Thema Gehirnregeneration und -reparatur zusammen und beleuchtet die Mechanismen, die diesen Prozessen zugrunde liegen.

Das alternde Gehirn: Mehr als nur Abbau

Entgegen der landläufigen Meinung altert das menschliche Gehirn nicht gleichmäßig. Eine Studie von Forschern des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), der Universität Magdeburg und des Hertie-Instituts für klinische Hirnforschung an der Universität Tübingen ergab, dass bestimmte Bereiche der Hirnrinde, insbesondere der für den Tastsinn zuständige primäre somatosensorische Cortex, weniger anfällig für altersbedingte Veränderungen sind.

Die Hirnrinde, die äußere Schicht des Gehirns, wird normalerweise mit zunehmendem Alter dünner, was auf den Verlust von Nervenzellen zurückgeführt wird. Die Forscher stellten jedoch fest, dass der primäre somatosensorische Cortex aus mehreren Schichten besteht, die unterschiedlich altern. Während einige Schichten dünner werden, bleiben andere stabil oder werden sogar dicker. Dies deutet darauf hin, dass stark beanspruchte Bereiche des Gehirns ihre Funktionalität besser erhalten.

"Die mittlere Schicht des Cortex und auch die oberen Schichten sind äußeren Reizen am unmittelbarsten ausgesetzt. Sie sind dauerhaft aktiv, denn man ist ja ständig in Kontakt mit der Umgebung", so Kühn weiter. "Die Nervenschalkreise in den unteren Schichten werden weniger beansprucht, gerade im Alter. Deshalb sehe ich unsere Befunde als Indiz dafür, dass das Gehirn bewahrt, was intensiv genutzt wird. Das ist ein Merkmal von Neuroplastizität. Dazu passen auch unsere Beobachtungen von einem Probanden, der 52 Jahre alt war. Sein Leben lang konnte er nur einen Arm nutzen, denn von Geburt an fehlte ihm das andere Glied. Die zugehörige mittlere Schicht seiner Hirnrinde, also jene, die sensorische Reize empfängt, war vergleichsweise dünn.“

Die Forscher fanden auch Hinweise darauf, dass Mechanismen in den tiefen Hirnschichten dem altersbedingten Funktionsverlust entgegenwirken. Obwohl die tiefen Schichten der Hirnrinde mit zunehmendem Alter dünner wurden, nahm ihr Myelin-Gehalt überraschenderweise zu. Myelin ist eine Substanz, die für die Übertragung von Nervensignalen wichtig ist. Vergleichsstudien an Mäusen bestätigten diese Effekte und zeigten, dass der Anstieg des Myelins auf eine vermehrte Anzahl bestimmter Nervenzellen zurückzuführen ist, die sich positiv auf die Modulation von Nervenimpulsen auswirken.

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Neuroplastizität: Die Fähigkeit des Gehirns zur Anpassung

Die Erkenntnisse über die unterschiedliche Alterung der Hirnschichten und die kompensatorischen Mechanismen in den tiefen Hirnschichten unterstreichen die Neuroplastizität des Gehirns. Neuroplastizität ist die Fähigkeit des Gehirns, sich im Laufe des Lebens zu verändern und anzupassen. Diese Fähigkeit ermöglicht es dem Gehirn, neue Verbindungen zwischen Nervenzellen zu bilden, bestehende Verbindungen zu stärken oder zu schwächen und sogar neue Nervenzellen zu bilden.

Die Neuroplastizität spielt eine entscheidende Rolle bei Lernprozessen, der Anpassung an neue Umgebungen und der Erholung von Hirnschäden. Studien haben gezeigt, dass gezielte Stimulation und Training die Neuroplastizität fördern und die Gehirnfunktion verbessern können.

Ernährung und Lebensstil: Einfluss auf die Gehirngesundheit

Neben genetischen Faktoren spielen auch Ernährung und Lebensstil eine wichtige Rolle für die Gehirngesundheit. Eine ausgewogene Ernährung, die reich an B-Vitaminen, Flavonoiden und Eiweiß ist, kann das Gehirn unterstützen und sogar das Risiko für neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer reduzieren.

Bestimmte Lebensmittel, wie Nüsse, Haferflocken, Beeren und Kichererbsen, sind besonders wertvoll für das Gehirn. Nüsse liefern ungesättigte Fettsäuren und B-Vitamine, Haferflocken sorgen für eine langsame Freisetzung von Glukose, Beeren sind reich an Antioxidantien und Kichererbsen liefern Eiweiß und B-Vitamine.

Auch eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr ist für die Gehirnfunktion unerlässlich. Dehydration kann zu einer Verringerung des Gehirnvolumens und einer Beeinträchtigung der kognitiven Leistungsfähigkeit führen.

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Ungesunde Ernährungsgewohnheiten, die zu Herzinfarkten oder Schlaganfällen führen können, können auch Durchblutungsstörungen im Gehirn begünstigen. Daher ist es wichtig, frühzeitig auf eine gefäßgesunde Ernährung zu achten.

Neuroimaging: Ein Blick ins lebende Gehirn

Fortschritte in der Neuroimaging-Technologie haben es ermöglicht, die Struktur und Funktion des Gehirns im Detail zu untersuchen. Bildgebende Verfahren wie die Magnetresonanztomographie (MRT) und die Positronen-Emissions-Tomographie (PET) ermöglichen es Wissenschaftlern, Veränderungen in der Gehirnaktivität zu visualisieren und mit bestimmten Erkrankungen in Verbindung zu bringen.

Die funktionelle MRT (fMRT) misst die Gehirnaktivität, indem sie Veränderungen des Blutflusses erfasst. Aktive Hirnregionen benötigen mehr Sauerstoff, was zu einem erhöhten Blutfluss führt. Die fMRT kann verwendet werden, um die Hirnaktivität während verschiedener Aufgaben zu untersuchen und die neuronalen Grundlagen von Kognition und Verhalten zu verstehen.

Die PET-Untersuchung verwendet radioaktive Substanzen, die in die Vene injiziert werden, um Orte neuronaler Aktivität im Gehirn zu identifizieren. An blutreichen Stellen befindet sich besonders viel radioaktive Substanz, die mit Detektoren geortet werden kann.

Neuroimaging hat bedeutende Fortschritte bei der Diagnose und Behandlung von neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen ermöglicht. So können beispielsweise Abweichungen in der Vernetzung von Nerven wichtige Hinweise auf eine mögliche Alzheimer-Erkrankung geben. Auch bei der Diagnose von Cluster-Kopfschmerz hat die funktionelle Bildgebung eine wichtige Rolle gespielt.

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Axonales Wachstum und Regeneration: Neue Therapieansätze

Eine Verletzung im Gehirn oder Rückenmark hat meist schlimme Folgen, denn anders als zum Beispiel in Armen und Beinen wachsen durchtrennte Nervenfasern hier nicht nach. Nun konnten die Vorgänge in verletzten Nervenzellen erstmals beobachtet werden. Dabei zeigte sich, dass der Stabilisierung zellinterner Protein-Röhrchen eine wichtige Bedeutung beim Wachsen dieser Zellen zukommt. Die Ergebnisse könnten langfristig auch zu neuen Therapieansätzen führen.

Die Selbstheilungsfähigkeiten des Körpers sind erstaunlich. Ein Schnitt in den Finger zerstört Hautzellen, verletzt Muskeln und Gefäße und durchtrennt die Ausläufer von Nervenzellen. Das ist schmerzhaft, aber nicht weiter tragisch: Nervenzellen (Abb. 1) wachsen nach kurzer Zeit wieder aus, Muskeln und Gefäße werden neu aufgebaut und die Haut schließt sich über dem Schnitt. Auch größere Verletzungen heilen so meist, ohne bedeutende Spuren zu hinterlassen.

Wenn der Körper über diese erstaunlichen Selbstheilungskräfte verfügt, warum setzt er sie dann nicht ein, um seine empfindlichsten Systeme, das Gehirn und das Rückenmark, nach einer Verletzung zu reparieren?

Die Wissenschaftler der Selbstständigen Nachwuchsgruppe „Axonales Wachstum und Regeneration“ am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried untersuchen diese Fragen. Sie konzentrieren sich auf die Vorgänge in den Verkürzungsknollen, die sich an den Enden verletzter Axone bilden.

Durch die großen Fortschritte in der Genetik und die damit verbundene Entwicklung neuer Analysemethoden konnten die Max-Planck-Forscher nun erstmals die Vorgänge in den Verkürzungsknollen genauer untersuchen. Denn mithilfe des grün-fluoreszierenden Proteins (GFP) ist es möglich, einzelne Nervenzellen gezielt zu beobachten. Die Wissenschaftler konnten so die Veränderungen ausgewählter Verkürzungsknollen direkt unter dem Mikroskop verfolgen [1].

Die Forscher fanden heraus, dass die Stabilisierung von Mikrotubuli, winzigen Protein-Röhrchen, die das Zellskelett bilden, eine wichtige Rolle beim axonalen Wachstum spielt. Durch die Zugabe von Paclitaxel, einem Wirkstoff, der Mikrotubuli stabilisiert, konnten sie das Wachstum von Axonen in Zellkulturen fördern und die Bildung von Verkürzungsknollen unterdrücken.

Diese Ergebnisse sind vielversprechend für die Entwicklung neuer Therapieansätze zur Förderung der Regeneration von Nervenzellen im Gehirn und Rückenmark.

NeuroCure: Interdisziplinäre Forschung für neue Therapien

Der Exzellenzcluster „NeuroCure“ in Berlin verbindet Grundlagenforschung und klinische Praxis, um wissenschaftliche Erkenntnisse schneller in Therapien umzusetzen. Beteiligt sind aktuell, neben der Charité - Universitätsmedizin Berlin, der gemeinsamen medizinischen Fakultät von FU und HU Berlin, vier weitere außeruniversitäre Forschungsinstitute. Seit 2007 wurden viele neue interdisziplinäre Forschungsgruppen aufgebaut.

„Von der Grundlagenforschung bis zu einer therapeutischen Anwendung ist es ein langer und teurer Weg“, sagt Prof. Dr. Dietmar Schmitz, Direktor des Neurowissenschaftlichen Forschungszentrums an der Charité - Universitätsmedizin Berlin und „NeuroCure“-Sprecher. „Und um ein so komplexes System wie das Gehirn zu erforschen, ist Kooperation notwendig.“

„NeuroCure“ konzentriert sich auf Therapieansätze mit vielversprechenden Perspektiven. Erst kürzlich erzielte die Forschung einen bedeutenden Durchbruch bei der Parkinson-Behandlung: Die neue sogenannte adaptive tiefe Hirnstimulation (aDBS, adaptive deep brain stimulation) kann die Hirnaktivität dynamisch beeinflussen, um Symptome wie Zittern oder Bewegungsverlangsamung zu lindern.

Ein weiterer Schwerpunkt der künftigen „NeuroCure“-Forschung liegt auf Autoimmunerkrankungen, die Demenz, Psychosen oder Wahnvorstellungen verursachen können. „Wir setzen dabei auf Gen- und Zelltherapie. Körpereigene Zellen werden genetisch verändert oder gezielt programmiert, um krankmachende Immunreaktionen zu stoppen und schädliche Antikörper zu eliminieren“, erläutert Dietmar Schmitz die innovativen Ansätze.

Die Zukunft der Gehirnforschung

Die Gehirnforschung hat in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht. Neue Technologien und interdisziplinäre Ansätze ermöglichen es, die Komplexität des Gehirns immer besser zu verstehen.

Die Zukunft der Gehirnforschung liegt in der Entwicklung neuer Therapien zur Behandlung von neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen. Dazu gehören die Förderung der Neuroplastizität, die Regeneration von Nervenzellen und die Entwicklung von personalisierten Behandlungsansätzen, die auf die individuellen Bedürfnisse jedes Patienten zugeschnitten sind.

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