Das Gehirn, lange Zeit als zentrales Organ für die Steuerung von Körperfunktionen wie Stoffwechselprozessen in Leber, Muskeln und Fettgewebe betrachtet, spielt eine entscheidende Rolle bei der Aufrechterhaltung des Gleichgewichtszustands unseres Stoffwechsels. Um diese Homöostase zu gewährleisten, benötigt das Gehirn kontinuierliche Informationen über den aktuellen Zustand der einzelnen Organe. Hierbei sind hormonelle Signalstoffe und Nahrungsmoleküle wie Glukose von zentraler Bedeutung für die Kommunikation zwischen Körperorganen und Gehirn.
Die Rolle des Gehirns bei der Glukoseregulation
Die Steuerung der Organe durch das Gehirn erfolgt hauptsächlich über das autonome Nervensystem, den unwillkürlichen Teil unseres Nervensystems, der lebenswichtige Funktionen wie Herzschlag und Verdauung steuert. Neue wissenschaftliche Studien deuten darauf hin, dass Störungen in diesen Steuerungssystemen zwischen Gehirn und Organen zur Entstehung von Typ-2-Diabetes beitragen können. Dies eröffnet interessante Perspektiven für die Prävention und Entwicklung neuartiger Therapieformen.
Historischer Kontext
Die Idee, dass das Gehirn eine zentrale Rolle bei der Regulation des Glukosestoffwechsels spielt, ist nicht neu. Bereits 1854 beobachtete der französische Mediziner Claude Bernard, dass Manipulationen am Boden der 4. Hirnkammer bei Ratten zu Diabetes führten. Diese Erkenntnis geriet jedoch nach der Entdeckung des Insulins im Jahr 1921 weitgehend in Vergessenheit, da sich die Forschung auf die Bedeutung dieses Hormons bei Diabetes konzentrierte.
Das traditionelle Modell der Glukose-Homöostase
Im traditionellen, inselzellzentrierten Modell der Glukose-Homöostase spielte das Gehirn keine Rolle. Dies ist überraschend, da das Gehirn eine entscheidende Rolle bei der Kontrolle lebenswichtiger physiologischer Vorgänge spielt, darunter Körpertemperatur, Schlaf-Wach-Rhythmus, Stresshormonfreisetzung und Blutdruck. Darüber hinaus steuert das Gehirn Prozesse wie Nahrungsaufnahme, Energiespeicherung und Energieverbrauch, die einen erheblichen Einfluss auf den Glukosestoffwechsel haben.
Die Partnerschaft zwischen Gehirn und Bauchspeicheldrüse
Im Jahr 2013 wurde ein Modell formuliert, das den Einfluss des Gehirns auf die Glukoseregulation berücksichtigt. Demnach hängt eine normale Blutglukoseregulation von einer funktionierenden Partnerschaft zwischen den insulinproduzierenden Betazellen der Bauchspeicheldrüse und Nervenschaltkreisen im Gehirn, insbesondere im Hypothalamus, ab. Dieses gehirnzentrierte System trägt entscheidend dazu bei, den Glukosestoffwechsel im Gleichgewicht zu halten.
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Glukosesensitive Nervenzellen im Hypothalamus
Das Gehirn erkennt Schwankungen im Blutglukosespiegel durch spezialisierte Nervenzellen in Regulationszentren wie dem Hypothalamus. Es gibt zwei Arten von glukosesensitiven Nervenzellen:
- Ga-Zellen: Werden durch einen Überschuss an Glukose aktiviert.
- Gi-Zellen: Werden durch einen Mangel an Glukose aktiviert.
Bei einer Hypoglykämie aktivieren abfallende Glukosespiegel die Gi-Zellen, was zur Nahrungssuche und Kalorienzufuhr führt. Gleichzeitig werden über das autonome Nervensystem Stresshormone wie Adrenalin und Noradrenalin sowie das Pankreashormon Glukagon ausgeschüttet. Dies erhöht die Glukoseproduktion in der Leber, senkt die Insulinfreisetzung aus der Bauchspeicheldrüse und reduziert die Glukoseaufnahme in die Muskeln, wodurch der Blutglukosespiegel insgesamt steigt.
Bei einem Anstieg des Blutglukosespiegels werden die Ga-Nervenzellen aktiviert. Dies führt zur Hemmung der Glukoneogenese in der Leber, zur verstärkten Glukoseaufnahme in Muskeln und Fettgewebe sowie zur erhöhten Insulinfreisetzung, was letztendlich zu einem Sinken des Blutglukosespiegels führt.
Die Rolle von Hormonen
Hormone wie Insulin und Leptin können die glukosesensitiven Nervenzellen im Gehirn direkt aktivieren. Die Steuerung des Glukose-Gleichgewichts durch das Gehirn erfolgt also durch eine komplexe und wechselseitige Kommunikation zwischen Nervenzellen und anderen Organen, entweder über Glukose selbst, über Nervenbahnen des autonomen Nervensystems oder über hormonelle Signalstoffe.
Insulinwirkung im Gehirn
Es ist seit einiger Zeit bekannt, dass Insulin nicht nur an den Körperzellen wirkt, sondern auch im Gehirn. Insbesondere im Hypothalamus, der den Energiehaushalt des Körpers steuert, gibt es Rezeptoren für das Hormon. Auch die Belohnungszentren des Mittelhirns spielen hier eine zentrale Rolle.
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Auswirkungen von Insulinrezeptor-Defekten
Studien an Mäusen, bei denen die Insulinrezeptoren im Hypothalamus ausgeschaltet wurden, zeigten, dass die Tiere gefräßiger wurden und mehr Gewicht und Fettmasse zulegten. Übergewicht und viszerales Fettgewebe sind wichtige Risikofaktoren für Typ-2-Diabetes. Die nach dem Essen erhöhte Insulinkonzentration im Körper signalisiert dem Gehirn offenbar: "Ich bin satt, die Kalorienzufuhr soll beendet werden."
Insulinresistenz im Gehirn
Eine Insulinresistenz, die die Körperzellen betrifft, ist Hauptursache für erhöhte Blutglukosewerte bei Typ-2-Diabetes. Studien am Tiermodell legten bereits nahe, dass die Insulinsensitivität im Hypothalamus die Wirksamkeit des Hormons im übrigen Körper beeinflusst.
Forschende konnten zeigen, dass die Insulinwirkung im Gehirn die Insulinfreisetzung aus der Bauchspeicheldrüse und die Glukoseaufnahme in die Körperzellen verstärkt und gleichzeitig die Glukoneogenese der Leber senkt. Dieser Effekt lässt sich allerdings nur bei schlanken, gesunden Probanden beobachten. Übergewichtige Studienteilnehmer sind unempfindlich für die Effekte des Hormons auf das Gehirn. Dies deutet darauf hin, dass veränderte Reaktionen in bestimmten Hirnarealen an der Entstehung der Insulinresistenz der Körperzellen beteiligt sind, einem zentralen Faktor des Typ-2-Diabetes.
Wechselwirkung mit Leptin
Forschende des Deutschen Zentrums für Diabetesforschung (DZD) konnten Belege dafür finden, dass Insulin im Gehirn in zentraler Wechselwirkung mit Leptin steht, einem der wichtigsten Hormone für die Regulation unseres Körpergewichtes und Essverhaltens. Bei adipösen Menschen konnte die Gabe von Leptin die Wirkung von Insulin im Gehirn verbessern. Im Mausmodell konnte dieser Leptin-Effekt mit der Abschwächung von Entzündungsvorgängen und der hierdurch verbesserten Insulinsensitivität im Hypothalamus erklärt werden.
Leptin: Appetit- und Speckbremse
Leptin, ein Hormon, das von Fettzellen freigesetzt wird, wirkt im Körper als Appetit- und Speckbremse. Es aktiviert den gehirnzentrierten Blutglukosestoffwechsel und steigert die Glukoseverwertung unabhängig von der Insulinwirkung an den Körperzellen. Leptin hat auch direkte Effekte auf den Glukosestoffwechsel, wie Versuche an Ratten und Mäusen mit Typ-1-Diabetes zeigen.
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Leptinresistenz
Bei adipösen Menschen erfüllt das Sättigungshormon Leptin seine Wirkung oft nicht mehr, was als Leptinresistenz bezeichnet wird. Erste Ansätze zielen darauf ab, die Leptin-Sensitivität in dieser Sättigungszentrale des Gehirns wiederherzustellen und damit die körpereigenen Mechanismen zur Gewichtssteuerung wieder zu aktivieren.
Insulinresistenz und ihre Auswirkungen auf das Gehirn
Insulinresistenz kann sich gegen das lebenswichtige Hormon richten und es daran hindern, seine Aufgaben zu erfüllen. Sie führt zu massiven Stoffwechselstörungen, die eine Fettleibigkeit verstärken und in Diabetes münden können.
Die Rolle des Gehirns bei Insulinresistenz
Versuche an Mäusen, deren Insulinrezeptoren im Gehirn gezielt inaktiviert worden waren, zeigten, dass diese Tiere Adipositas und weitere Stoffwechselstörungen entwickelten, obwohl ihre Insulinrezeptoren im restlichen Körper intakt waren. Dies beweist, dass das Gehirn die zentrale Kontrolle über den peripheren Insulinstoffwechsel hat und dass Störungen dieses Stoffwechsels im Kopf beginnen können.
Beeinflussung der Insulinresistenz
Studien haben gezeigt, dass die Gabe von Empagliflozin und regelmäßiger Sport einen messbaren Einfluss auf die Insulinresistenz im Gehirn haben können. Das Trainingsprogramm führte dazu, dass das Hormon seinen Einfluss wieder ähnlich gut ausüben konnte wie bei normalgewichtigen Personen.
Die Auswirkungen einer fettreichen Ernährung auf das Gehirn
Eine fettreiche Ernährung kann bereits nach kurzer Zeit die Zuckerversorgung des Gehirns beeinträchtigen. Eine Forschungsgruppe um Jens Brüning fand heraus, dass eine fettreiche Diät schon nach drei Tagen die Aufnahme von Glukose in das Gehirn senkt. Verantwortlich dafür ist das Protein GLUT-1, der wichtigste Glukosetransporter an der Blut-Hirn-Schranke.
Der Mechanismus des "egoistischen Gehirns"
Das Gehirn wirkt seinem Energiemangel entgegen, indem Makrophagen den Wachstumsfaktor VEGF produzieren, welcher die Bildung von GLUT-1 steigert. Der Ausgleich des Zuckerbedarfs des Gehirns bei weiterhin fettreicher Ernährung funktioniert nur auf Kosten des restlichen Körpers. Man spricht von dem "egoistischen Gehirn", da es seinen Zucker dadurch bekommt, dass es den Appetit auf süße Nahrungsmittel anregt und die Zuckeraufnahme in Muskeln und Fett verhindert.
Die Auswirkungen von Zucker auf die Gehirnleistung
Erhöhte Blutzuckerspiegel können direkten Einfluss auf unser Gehirn haben. Verändern sich die Blutgefäße aufgrund von zuckerbedingten Ablagerungen, kann es zur Unterversorgung einzelner Hirnareale kommen, was Auslöser für Schlaganfälle wie auch für Demenz sein kann. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass eine zuckerarme Ernährung auch unabhängig vom Blutzuckerspiegel positive Auswirkungen auf die langfristige Leistungsfähigkeit des Gehirns haben könnte.
Milchzucker und Neurodegeneration
Milchzucker kann sich an Eiweiße anlagern und auf diese Weise die Isolierschicht von Zellen verändern, was zu einer schnelleren Abnutzung und Alterung von Gehirnzellen führt. Derartige Prozesse können einer Demenz wie der Alzheimer-Erkrankung den Weg bereiten.
Der gesunde Mittelweg
Das Gehirn benötigt Zucker (Glukose) um Leistung zu erbringen. Es gilt also den gesunden Mittelweg zu finden, um den Zuckerhaushalt konstant zu halten und nicht zu unterzuckern, um die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit aufrecht zu erhalten.
Schutzmechanismen des Gehirns bei Sauerstoffmangel
Ein internationales Forscherteam hat einen Mechanismus entdeckt, der den programmierten Zelltod von Nervenzellen bei Sauerstoffmangel verhindern kann. Ein Schlüsselenzym des Zuckerstoffwechsels, die sogenannte Hexokinase II, reguliert das Überleben der Zelle. Dieses Enzym wird in den Nervenzellen des Gehirns bei Sauerstoffmangel aktiviert und übernimmt eine schützende Funktion.
Zucker als "neurotoxische" Substanz
Zum Brain Health Day 2024 nehmen die Deutsche Gesellschaft für Neurologie und die Deutsche Hirnstiftung Zucker als "neurotoxische" Substanz in den Blick. Hohe Blutzuckerspiegel schädigen die Hirngefäße und führen zu Ablagerungen an den Gefäßwänden, die die Gefäße verengen und die Versorgung der Gehirnzellen mit Nährstoffen drosseln. Dies kann zu verschiedenen Einschränkungen führen und am Ende sogar eine vaskuläre Demenz nach sich ziehen.
Glykosaminoglykane und Kognition
Komplexe Zuckermoleküle im Gehirn, sogenannte Glykosaminoglykane, können auch direkt die Kognition einschränken. Sie beeinträchtigen die Funktion der Synapsen, den Schaltstellen zwischen den Nervenzellen, und somit die neuronale Plastizität.
Zucker und das Belohnungssystem
Schon nach einer kleinen Dosis Zucker sendet der Darm über den Vagusnerv Signale an das Gehirn, um dort ein starkes Verlangen nach weiterem Zuckerkonsum auszulösen. Außerdem wird bei Zuckerkonsum im Gehirn Dopamin ausgeschüttet, ein "Wohlfühlhormon", was dazu führt, dass man immer mehr davon haben möchte.
Mikroglia und Glukoseaufnahme im Gehirn
Zu Beginn einer neurodegenerativen Erkrankung nehmen die Immunzellen des Gehirns - die "Mikroglia" - den Zuckerstoff Glukose in weitaus größerem Umfang auf als bislang angenommen. Diese Ergebnisse sind von großer Bedeutung für die Interpretation von Hirnscans, die die Verteilung von Glukose im Gehirn darstellen.
Die Rolle der Mikroglia
Die Mikroglia spielen bei Alzheimer und anderen neurodegenerativen Erkrankungen eine maßgebliche, schützende Rolle. Es wäre sehr hilfreich, wenn man Aktivität und Reaktion dieser Zellen etwa auf Medikamente nicht-invasiv überwachen könnte, insbesondere um festzustellen, ob eine Therapie anschlägt.
Zucker: Glücksgefühle und Suchtpotenzial
Zucker löst Glücksgefühle aus und liefert uns schnell verfügbare Energie. Er ist aber auch einer der Hauptverursacher zahlreicher Krankheiten. Der Verzehr von zuckerhaltigen Lebensmitteln aktiviert unser dopaminerges System, das im Gehirn für Motivation und Belohnung zuständig ist. Dies führt zur Ausschüttung von Dopamin, was das Verhalten verstärkt, das zu dieser Belohnung geführt hat, wie zum Beispiel Essen.
Langanhaltende Veränderungen im Gehirn
Ein ständiger Zuckerkonsum kann dazu führen, dass wir immer mehr Zucker essen wollen. Studien haben gezeigt, dass ein erhöhter Zuckerkonsum die neuronalen Schaltkreise so verändern kann, dass zuckerreiche Nahrung eine stärkere belohnende Wirkung hat und die Betroffenen zucker- und fettreiche Lebensmittel positiver bewerten.