Die Vorstellung, dass das Gehirn sich nicht regenerieren kann, galt lange als Dogma in der Neurowissenschaft. Santiago Ramón y Cajal, der Vater der Hirnforschung, äußerte sich pessimistisch über die Regenerationsfähigkeit des Gehirns, was dieses Bild festigte. Doch die Forschung hat in den letzten Jahrzehnten bedeutende Fortschritte gemacht und gezeigt, dass das Gehirn unter bestimmten Bedingungen tatsächlich zur Regeneration fähig ist. Dieser Artikel beleuchtet die verschiedenen Aspekte der Hirnregeneration, von den grundlegenden Mechanismen bis hin zu potenziellen therapeutischen Anwendungen.
Was bedeutet "Regeneration" im Kontext des Gehirns?
Regeneration im Gehirn bedeutet idealerweise die Wiederherstellung des Zustandes vor einer Erkrankung oder Verletzung. Nach einem Schlaganfall beispielsweise, bei dem ein Teil des Gehirns von der Blutversorgung abgeschnitten wird und Nervenzellen absterben, würde Regeneration die Rekonstitution der untergegangenen Hirnstruktur und der damit verlorenen Funktionen bedeuten.
Im Vergleich zu anderen Organen wie Haut oder Knochen, die eine bemerkenswerte Fähigkeit zur Selbstheilung besitzen, ist das Gehirn anfälliger für bleibende Schäden. Dies liegt an der Komplexität seiner Struktur und der Vielfalt seiner Aufgaben. Während oft behauptet wird, dass andere Hirnregionen nach einem Schaden die Aufgaben der geschädigten übernehmen können, ist dies nur bedingt der Fall.
Das Gehirn ist der Sitz unserer Persönlichkeit, unseres Ichs und unserer individuellen Geschichte. Bei neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen oder Verletzungen des Gehirns gehen Inhalte verloren, da das Gehirn auch ein Speicher enormer Informationsmengen ist. Die Rekonstitution hat hier Grenzen, da Erinnerungen und Informationen nicht wie auf einer Computerfestplatte gespeichert sind, sondern in ständigen Austausch miteinander treten.
Die Herausforderung der Zellersatztherapie
Die Idee, untergegangene Zellen im Gehirn von außen zu ersetzen, klingt vielversprechend, ist aber komplex. Je diffuser das Problem, je umfänglicher das Gehirn von einer Schädigung betroffen ist und je länger der schädigende Prozess andauert, desto schwieriger ist es, das Defizit durch Zellersatz aufzufangen.
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Ein vielversprechendes Beispiel für eine Zellersatztherapie ist die Parkinson-Krankheit. Bei dieser Erkrankung ist eine spezifische Gruppe von Nervenzellen betroffen, deren Untergang einen klar definierten Regelkreis stört. Durch die Transplantation von dopaminergen Zellen (Dopamin produzierenden Zellen) kann den Patienten geholfen werden. Allerdings ist die Gewinnung transplantierbarer Zellen aufwendig, weshalb Stammzellen einen besseren Ausgangspunkt darstellen, da sie prinzipiell beliebig vermehrbar sind.
Es hat große Fortschritte bei der Differenzierung embryonaler Stammzellen in dopaminerge Nervenzellen gegeben. Dennoch ist es wichtig zu zeigen, dass die gebildeten Zellen auch "wirklich" die gewünschten Nervenzellen sind und nach der Transplantation ausreichend funktionieren.
Zelltherapie vs. Alternative Behandlungen
Die Zelltherapie steht angesichts des Aufwands und der Risiken in Konkurrenz zu anderen Verfahren. Viele Parkinson-Patienten sind medikamentös gut behandelbar, und therapierefraktäre Fälle sprechen oft gut auf die so genannte Tiefenhirnstimulation an, bei der Elektroden ins Gehirn gelegt werden, um pathologische Erregungen zu unterbinden.
Die Zeit wird zeigen, welche Behandlung überlegen ist. Wahrscheinlich haben beide ihre Vorzüge und Anwendungsbereiche, die es zu erkennen und zu beschreiben gilt. Es gibt auch andere neurologische Erkrankungen, die mit Zelltherapie behandelbar werden könnten, wie z. B. die Chorea Huntington.
Transdifferenzierung und unterstützende Zelltherapie
Um die Jahrtausendwende gab es Berichte, die nahelegten, dass aus Knochenmark auch Gehirn entstehen könnte. Man fand Nervenzellen mit Merkmalen des Spenders im Gehirn des Empfängers nach einer Knochenmarktransplantation. Dieses Phänomen wurde als "Transdifferenzierung" bezeichnet. Es stellte sich jedoch heraus, dass Transdifferenzierung nicht oder nur extrem selten vorkommt. Vielmehr neigen die transplantierten Blutzellen dazu, mit verschiedenen Körperzellen des Empfängers zu verschmelzen.
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Auch wenn die Experimente zur Transdifferenzierung nicht die erwarteten Ergebnisse brachten, waren sie mitunter von einem eindrucksvollen therapeutischen Erfolg begleitet. Stammzellen aus dem Knochenmark scheinen die Regeneration zu fördern oder zumindest das Fortschreiten der Erkrankung zu hemmen. Ein Teil dieses Prinzips könnte darin liegen, dass die implantierten Zellen zur Neubildung von Gefäßen beitragen und damit die Durchblutung des Gewebes sicherstellen.
Die unterstützende Zelltherapie hat mit der Idee eines klassischen Zellersatzes nur wenig gemeinsam. Es werden nicht die betroffenen Nervenzellen ersetzt, sondern eine biologisch hochgradig komplexe Einheit eingesetzt, die auf vielfältige Weise in den Regenerationsprozess eingreifen könnte.
Neue Erkenntnisse über die Neurogenese im Erwachsenenalter
Auch im Erwachsenenalter werden im menschlichen Gehirn neue Nervenzellen gebildet. Diese Erkenntnis ist relativ jung. Erst seit Anfang dieses Jahrtausends ist wissenschaftlich belegt, dass auch noch nach der frühen Kindheit aus den Gliazellen, die das Nervengewebe stützen, neue Neurone entstehen können.
Im erwachsenen Gehirn von Säugetieren kommen Nervenstammzellen nur in bestimmten Bereichen vor, den sogenannten Stammzellnischen. Diese Regionen sind besonders starr und wenig flexibel. Die extrazelluläre Matrix bildet ein starkes Netzwerk aus.
Die Rolle von Proteinen bei der Regeneration
Eine Studie im Fachjournal „Neuron“ liefert Hinweise darauf, dass die Unfähigkeit zur Wiederherstellung von Nervenfasern eng mit der Eigenschaft der Nervenzellen zusammenhängt, miteinander zu kommunizieren. Konkret fanden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler heraus, dass zwei Proteine, die für die so genannte synaptische Übertragung zwischen Nervenzellen entscheidend sind, das Auswachsen von Zellfortsätzen verhindern. Die identifizierten Moleküle mit den Namen „Munc13“ und „RIMs“ treten im „präsynaptische Endknöpfchen“ auf, dem äußersten Ende eines Axons. Beide Proteine sind an einem Prozess beteiligt, der als „Vesikel-Priming“ bezeichnet wird und letztlich zur Freisetzung von Neurotransmittern führt, chemischen Verbindungen, über die Nervenzellen miteinander kommunizieren.
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Experimente zeigten, dass Munc13 und RIMs die Regeneration von Nervenzellen hemmen. Untersuchungen an Mäusen ergaben, dass die Behandlung mit Baclofen, einem Medikament, das die Erregbarkeit von Nervenzellen und die synaptische Übertragung verringert, Wachstum und Regeneration von Axonen im verletzten Rückenmark anregte.
Mikrotubuli und die Regeneration von Nervenzellen
Wird ein Axon im Peripheren Nervensystem durchgeschnitten, so bildet sich an seiner Spitze ein Wachstumskegel, und das Axon wächst erneut aus. Auch im Zentralen Nervensystem bildet sich an der verletzten Axonspitze eine Verdickung, die sogenannte Verkürzungsknolle. Anders als beim Wachstumskegel im peripheren Bereich zeigt diese jedoch keinerlei Bestreben zum Weiterwachsen.
Mithilfe des grün-fluoreszierenden Proteins (GFP) ist es möglich, einzelne Nervenzellen gezielt zu beobachten und die Bildung von Verkürzungsknollen direkt unter dem Mikroskop zu verfolgen. Es zeigte sich, dass das Durcheinanderbringen der Mikrotubuli in der Verkürzungsknolle eine der Hauptursachen für den Wachstumsstopp des Axons ist.
Durch Zugabe von Paclitaxel, einem Wirkstoff, der die Mikrotubuli stabilisiert, gelang es den Wissenschaftlern, einer jungen Zelle die Entscheidung abzunehmen, welcher ihrer Fortsätze zum Axon wird. Mithilfe des Wirkstoffs konnten die Mikrotubuli jedes beliebigen Fortsatzes stabilisiert werden, wodurch dieser Fortsatz zum Axon auswuchs.
Die Rolle von Gliazellen bei der Regeneration
Während sich Zellen in den meisten körpereigenen Geweben regelmäßig erneuern, bleibt die Zahl an Nervenzellen im menschlichen Gehirn oder Rückenmark konstant. Zwar können sich Nervenzellen auch im Gehirn erwachsener Säugetiere neu bilden. Allerdings gelingt es jungen Neuronen nach Gehirnverletzungen nicht, sich außerhalb zweier bestimmter Gehirnbereiche in bereits bestehende neuronale Netzwerke zu integrieren und zu überleben. Das scheint an Gliazellen zu liegen, die das Stützgewebe im Gehirn bilden. Speziell Mikroglia lösen Entzündungen aus und führen zu Narben, die die verletzte Stelle abschirmen.
Ein Team um den LMU-Zellbiologen Prof. Jovica Ninkovic zeigt in Nature Neuroscience, dass die Verringerung der Reaktivität von Mikroglia entscheidend ist, um chronische Entzündungen und Gewebenarben zu verhindern, und so die Regenerationsfähigkeit zu verbessern. Im Zebrafisch-Modell spielte weiterhin Granulin eine wichtige Rolle. Dieses Protein trug dazu bei, die Lipidtröpfchen und TDP-43-haltigen Strukturen zu beseitigen, worauf die Mikroglia von der aktivierten Form in die Ruheform übergingen. Es kam zur narbenlosen Regeneration der Verletzung.
Stimulation und Steuerung der adulten Neurogenese
Ein Forschungsansatz beruht darauf, die adulte Neurogenese zu stimulieren und zu steuern. Ließe sich die adulte Neurogenese gezielt stimulieren, könnte man Zellersatz quasi „vor Ort“ herstellen. Neurologische Erkrankungen, die mit Zellverlusten einhergehen, ließen sich möglicherweise heilen - auch ohne Transplantation von Ersatzgewebe.
Die Neurogenese des erwachsenen Gehirns unterliegt einer subtilen funktionellen Regulation, wird aber auch von ererbten Faktoren bestimmt. Eine Steigerung der Neurogenese sei prinzipiell auf zwei Wegen zu erreichen: einerseits durch eine Steigerung der Proliferation durch Wachstumsfaktoren; andererseits könnte man auch die Apoptose von jungen Neuronen gezielt verhindern.
Die adulte Neurogenese ist zudem einer genetischen und funktionellen Regulierung unterworfen. Auch der Einfluss der Umwelt auf die Regulation der Stammzellen spielt eine Rolle. Mäuse, die in einer reizreichen Umgebung lebten, hatten eine gesteigerte Neurogenese im Hippocampus.
Kompensation von Hirnschäden
Unser Denkorgan ist zu beachtlichen Umbaumaßnahmen fähig! Sowohl angeborene als auch später erworbene Schäden kann es bis zu einem gewissen Grad kompensieren oder gar reparieren. Dazu zählen auch so genannte »stille Hirninfarkte«, also kleine Schlaganfälle, die man zwar im Hirnscanner sehen kann, von denen die Patienten aber nichts spüren, weil das Gehirn sie unbemerkt ausbügelt.
Im Jahr 2019 baten die Neurowissenschaftlerin Dorit Kliemann und ihr Team von der University of Iowa sechs Erwachsene zwischen 20 und 30 Jahren in den Magnetresonanztomografen. Allen sechs Probanden war während ihrer Kindheit wegen schwerer epileptischer Anfälle eine Hemisphäre entfernt worden. Die Forscherinnen und Forscher untersuchten diverse Hirnfunktionen, darunter auch, wie gut die einzelnen Areale zusammenarbeiteten. Dabei stellten sie kaum Unterschiede zu Kontrollprobanden mit vollständigem Gehirn fest.
Regeneration bei Tieren
Mauthnerzellen sind die größten Zellen, die in tierischen Gehirnen vorkommen. Sie sind Teil des zentralen Nervensystems der meisten Fisch- und Amphibienarten und lösen lebensrettende Fluchtreaktionen aus, wenn sich Fressfeinde nähern. Tritt die Verletzung des Axons in unmittelbarer Umgebung des Zellkörpers auf, stirbt die Mauthnerzelle ab. Wird das Axon an seinem entgegengesetzten Ende geschädigt, werden verlorengegangene Funktionen entweder überhaupt nicht oder nur langsam und mit Einschränkungen wiederhergestellt.
Eine derart schnelle Regeneration einer Nervenzelle ist bisher nirgendwo im zentralen Nervensystem anderer Tierarten entdeckt worden. Allein aus der Beobachtung, dass Fluchtreflexe der Zebrafische bereits kurze Zeit nach einer Verletzung des Axons wieder intakt sind, lässt sich allerdings nicht zweifelsfrei ableiten, dass die Mauthnerzellen ihre ursprüngliche Funktion durch Regeneration wiedererlangen.