Die COVID-19-Pandemie hat nicht nur die Atemwege vieler Menschen befallen, sondern auch langfristige Auswirkungen auf die Gesundheit, insbesondere auf das Nervensystem, gezeigt. Studien deuten darauf hin, dass COVID-19-Patienten selbst zwei Jahre nach der Infektion einem erhöhten Risiko für kognitive Defizite, Demenz, psychotische Störungen, Epilepsie oder Krampfanfälle ausgesetzt sind. Im Vergleich zu anderen Atemwegserkrankungen bleibt dieses Risiko leicht erhöht.
Auswirkungen von COVID-19 auf neurologische und psychische Gesundheit
Psychiatrische Störungen
Die gute Nachricht ist, dass sich die Risiken für die häufigsten psychiatrischen Störungen wie Gemütsstörungen (z. B. Depressionen) und Angststörungen in der Regel nach ein bis zwei Monaten wieder normalisieren. Eine Studie ergab, dass Gemütsstörungen nach etwa 43 Tagen und Angststörungen nach etwa 58 Tagen auf ihren Ausgangswert zurückkehrten. Interessanterweise wurde bei Kindern nach einer COVID-19-Infektion keine Zunahme von Depressions- und Angstdiagnosen beobachtet.
Neurologische Erkrankungen
Die schlechte Nachricht ist jedoch, dass die Risiken für die meisten neurologischen Erkrankungen auch sechs Monate nach der Infektion noch erhöht sind. Ausnahmen bilden Enzephalitis, Guillain-Barré-Syndrom, Nerven-, Nervenwurzel- und Plexuserkrankungen sowie Parkinson, bei denen die Hazard Ratios (HRs) nicht mehr signifikant über 1 liegen.
Langzeitfolgen
Am Ende der zweijährigen Nachbeobachtungszeit war das Risiko für kognitive Defizite (einschließlich Bewusstseinstrübungen bzw. Brain Fog), Demenz, psychotische Störungen und Epilepsie oder Krampfanfälle immer noch leicht erhöht. Eine Studie ergab, dass bei Patienten im mittleren Alter (18 bis 64 Jahre) die Inzidenz für kognitive Defizite zwei Jahre nach einer COVID-19-Infektion bei 6,39 % lag, während sie in der Kontrollgruppe mit anderen Atemwegserkrankungen nur 5,50 % betrug. Bei Erwachsenen über 65 Jahre lag die Demenzinzidenz nach einer COVID-19-Infektion bei 4,46 % und nach anderen Atemwegsinfektionen bei 3,34 %. Dies entspricht 446 Fällen pro 10.000 gegenüber 334 Fällen.
Auswirkungen auf Kinder
Kinder hatten nach sechs Monaten ein erhöhtes Risiko für kognitive Defizite, Schlaflosigkeit, intrakranielle Blutungen, ischämische Schlaganfälle, Nerven-, Nervenwurzel- und Plexuserkrankungen, psychotische Störungen und Epilepsie oder Krampfanfälle. Im Gegensatz zu Erwachsenen war das Risiko für kognitive Defizite bei Kindern jedoch weniger als ein Vierteljahr lang erhöht. Das Risiko für das Auftreten einer Epilepsie nach einer COVID-19-Infektion verdoppelte sich auf 263 von 10.000 innerhalb von zwei Jahren, verglichen mit 126 von 10.000 nach anderen Atemwegsinfektionen. Muskelerkrankungen traten bei 11 von 10.000 in der COVID-Gruppe auf und bei fast 6 in der Kontrollgruppe. 18 von 10.000 entwickelten eine psychiatrische Störung in den zwei Jahren nach der COVID-Infektion, in der Kontrollgruppe waren es 6.
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Es wird ergänzt, dass Kinder insgesamt ein günstigeres psychiatrisches Risikoprofil als Erwachsene haben. Ihr anhaltend höheres Risiko für einige Diagnosen ist jedoch besorgniserregend.
Einfluss der Virusvarianten
Vor und kurz nach dem Aufkommen der Alpha-Variante von SARS-CoV-2 waren die Risikoprofile noch vergleichbar. Kurz nach dem Aufkommen der Delta-Variante wurden jedoch erhöhte Risiken für ischämische Schlaganfälle, Epilepsie oder Krampfanfälle, kognitive Defizite, Schlafstörungen und Angststörungen beobachtet. Dies ging mit einer erhöhten Sterberate einher.
Ursachenforschung und mögliche Mechanismen
Die Studie kann nicht abschließend beantworten, ob die beobachteten erhöhten Risiken für psychiatrische und neurologische Erkrankungen auf die Infektion mit SARS-CoV-2 zurückzuführen sind oder vielmehr die Folge der mit einer weltweiten Pandemie verbundenen Belastung sind. Es ist bekannt, dass eine latente Demenz häufig durch ein schwerwiegendes Ereignis, etwa eine COVID-19-Erkrankung, manifest wird, ohne dass es einen ursächlichen Zusammenhang gibt. Die COVID-19-Pandemie hat in unserer Gesellschaft zu Stress geführt - nicht nur durch die virusbedingten Erkrankungen, sondern auch durch Störungen des täglichen Lebens und Angst, was ein neuartiges Virus uns antun kann. Die kleinen Zunahmen bei Demenz und Psychose müssen vorsichtig interpretiert werden. Diese sind eher mit dem gesellschaftlichen Aufruhr und der Dystopie, die wir durchlebt haben, assoziiert als eine direkte Folge der Virusinfektionen.
Andererseits gibt es potenzielle biologische Mechanismen, die eine kausale Beziehung erklären würden: Der wahrscheinlichste Mechanismus ist eine maladaptive Reaktion des Wirts - sowohl der angeborenen als auch der adaptiven Immunantwort -, die zu einer nachhaltigen neurologischen Schädigung führen kann, die sich durch erhöhte Biomarker für Hirnschädigung, speziell Tau, zeigt.
Es wird vermutet, dass die Immunantwort auf die Corona-Infektion eine Rolle spielt. Da das Corona-Virus in der Regel nicht das Gehirn erreicht, wird vermutet, dass es indirekt betroffen ist. Die Immunantwort setzt massenhaft entzündliche Botenstoffe frei, die ins Gehirn gelangen und Kollateralschäden auslösen können, selbst wenn das Virus nicht bis dahin vordringt.
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Symptome und Diagnose
Wenn eine Corona-Infektion mit Symptomen verläuft, klagen Patientinnen und Patienten besonders häufig über Kopfschmerzen, Müdigkeit, Abgeschlagenheit, aber auch über die mittlerweile gut bekannten Geruchs- und Geschmacksstörungen. Etwa ein Drittel der Corona-Patient*innen leiden unter solchen neurologischen Beschwerden.
Viele Corona-Genesene wenden sich mit Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen an Gedächtniszentren. Konzentrations- und Gedächtnisstörungen äußern sich auf vielfältige Weise und können auch nach leichten Verläufen auftreten - und bei jüngeren Patienten. Etwa zehn Prozent aller Corona-Genesenen seien von derartigen Störungen betroffen.
Die Stärke der Beeinträchtigung hängt dabei zusammen mit dem Schweregrad der überstandenen Infektion. Je schwerer die Krankheit verlaufen war, desto früher sei ein Abbau kognitiver Fähigkeiten zu beobachten gewesen. Rund 3,3 Prozent der Corona-Überlebenden waren an Demenz erkrankt, 9,1 Prozent zeigten leichte kognitive Beeinträchtigungen.
Brain Fog
Rund 27 Prozent aller Corona-Erkrankten berichten sechs Monate nach ihrer Infektion von geistigen Einbußen wie Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, sich zu orientieren, die passenden Worte zu finden und sich Dinge zu merken. Es gibt kein Medikament und auch keine etablierte Therapie gegen diesen Brain Fog. Die Probleme werden schnell durch psychische Belastungen oder allgemeine körperliche Erschöpfung erklärt.
Betroffene haben Schwierigkeiten, Videokonferenzen zu folgen oder Texte zu erfassen. Das Virus kann Blutgefäße im gesamten Körper schädigen, was dazu führt, dass das Gehirn nicht ausreichend mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt wird und an Leistungsfähigkeit einbüßt. Aktivierte Immunzellen können ins Gehirn einwandern und eine anhaltende Entzündungsreaktion auslösen, die Nervenzellen und ihre Verbindungen untereinander stört. Forscher haben in der Gehirnflüssigkeit mancher Betroffener Autoantikörper gefunden - Abwehreiweiße, die sich gegen körpereigenes Gewebe richten. Entzündungsreaktionen können die Neubildung von Nervenzellen im Hippocampus beeinträchtigen.
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Diagnoseverfahren
Erste Anlaufstelle für Patientinnen und Patienten ist die hausärztliche Praxis. Dort werden weitere mögliche Ursachen für den Gehirnnebel abgeklärt: zum Beispiel ein Schlaganfall, eine Depression oder eine Demenzerkrankung wie etwa Alzheimer. Auch eine hohe Stressbelastung kann die Symptome auslösen.
Im Gedächtniszentrum werden die Patienten von Experten verschiedener Fachrichtungen umfangreich untersucht. Gemeinsam mit neuropsychologischen Kollegen wird die geistige Leistungsfähigkeit der Betroffenen hinsichtlich Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Sprache und Konzentration beurteilt. Außerdem umfassen die Tests in Zusammenarbeit mit Mitarbeitern der Psychiatrie auch Untersuchungen auf die psychische Belastung der Betroffenen.
Behandlungsmöglichkeiten
Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner haben die Möglichkeit, eine Rehabilitation zu verschreiben oder die Hilfesuchenden an ein spezialisiertes Akutkrankenhaus wie das Neuro-Post-COVID-Zentrum des Uniklinikums Jena zu überweisen.
Die Behandlung im Gedächtniszentrum ist individuell. Vielen Betroffenen helfen spezielle ergotherapeutische Übungen dabei, die Hirnleistung gezielt zu trainieren. Aber auch neuropsychologische computergestützte Trainings können sinnvoll sein.
Bei MEDICLIN gibt es ein Expertenboard bestehend aus Mediziner*innen der Fachbereiche Neurologie, Pneumologie, Kardiologie, Innere Medizin, Diabetologie, Psychiatrie, Psychosomatik sowie optional Hals-Nasen-Ohrenheilkunde und Dermatologie.
Selbsthilfe
Häufig helfen schon Entspannung, regelmäßiger Schlaf, Bewegung und eine ausgewogene Ernährung gegen Brain Fog. Falls nicht, ist Ergotherapie eine weitere Option.
Pacing
Wer unter Belastungsintoleranz leidet, muss lernen, gut mit seinen verminderten Energiereserven hauszuhalten. Das sogenannte Pacing, bei dem gemeinsam mit den Betroffenen die richtige Balance zwischen Aktivierung und Schonung gefunden wird, ist ein wichtiger Bestandteil der Therapie.
Rehabilitation
Die Ergebnisse von Patientenbefragungen und Messungen vor und nach der Rehabilitation zeigen, dass Kognitionsstörungen bei Post COVID verbessert werden können. Die Symptome nach einer Corona-Infektion, wie z. B. das Brain Fogging, können also den Symptomen einer Demenz ähneln, die Prognose ist aber deutlich besser.
Forschung und Studien
Das Zentrum für Neurologie am Universitätsklinikum Bonn (UKB) führt eine Studie durch, um das Krankheitsbild des neurologischen Post-COVID-Syndroms besser zu verstehen und den Weg für eine effektivere Behandlung zu bereiten. Die Studie richtet sich an Personen, deren geistige Leistungsfähigkeit im zeitlichen Zusammenhang mit einer Corona-Infektion nachgelassen hat.
Die Studie ist Bestandteil der Aktivitäten des europäischen Forschungskonsortiums NeuroCOV, das vom DZNE geleitet wird. Fachleute verschiedener Disziplinen arbeiten in diesem Rahmen länderübergreifend zusammen, um die neurologischen und psychiatrischen Nachwirkungen einer Corona-Infektion zu entschlüsseln. Neben klinischen Studien finden in Italien auch Laboruntersuchungen an künstlichem Hirngewebe - sogenannten Hirnorganoiden - statt. Der Projektverbund wird von der Europäischen Union gefördert.