Einführung
Im Alter nehmen viele Menschen eine Vielzahl von Medikamenten ein, um gesundheitliche Beschwerden zu behandeln. Diese sogenannte Polypharmazie kann jedoch unerwünschte Folgen haben, insbesondere im Hinblick auf das Demenzrisiko. Medikamente sollen Erkrankungen effektiv behandeln, präventiv wirken, Symptome lindern, Krankheitsverläufe verlangsamen oder Krankheiten sogar heilen. Gerade im Bereich der Schmerzlinderung können die richtigen Medikamente in der richtigen Dosierung die Lebensqualität erheblich verbessern. Nicht verordnetet, rezeptfreie Medikamente. Es ist daher wichtig, die potenziellen Wechselwirkungen zwischen Medikamenten und deren Auswirkungen auf die kognitive Gesundheit älterer Menschen zu verstehen.
Erhöhtes Demenzrisiko durch Medikamente?
Britische Wissenschaftler berichten in dieser Studie aus dem Jahr 2019, dass die langjährige Einnahme von bestimmten Medikamenten, die z.B. Werden mehr als fünf Medikamente gleichzeitig und dauerhaft eingenommen, sind die Folgen schwer kalkulierbar. Wer drei oder mehr Medikamente dauerhaft einnimmt, sollte einen Medikamentenplan besitzen. Dieser wird in der Regel von Ihrem Hausarzt ausgestellt. Das Ziel ist, alle relevanten Informationen zu den verschriebenen Medikamenten an einem zentralen Ort zusammenzufassen. Die Ärztezeitung berichtet davon, dass etwa 250.000 Krankenhauseinweisungen im Jahr in Deutschland auf Medikationsfehler zurückgeführt werden, die Verbraucherzentrale schreibt sogar von jährlich 500.000 vermeidbaren Medikationsfehlern, die zu erheblichen Gesundheitsgefährdungen und teilweise auch zum Tode führten. Eine Erhebung bei 500 „Apothekenpatienten“ in Westfalen-Lippe habe gezeigt, dass nur bei 6,5 Prozent der Patienten ein korrekter Medikationsplan geführt wurde. 30 Prozent der Pläne wiesen Lücken auf, die Selbstmedikation fehlte.
Einige Medikamente können das Risiko für kognitive Beeinträchtigungen und Demenz erhöhen, insbesondere bei älteren Menschen. Dies liegt daran, dass sich mit zunehmendem Alter die Funktionen von Leber und Nieren verändern, was den Abbau und die Ausscheidung von Wirkstoffen beeinflusst. In der Folge bleiben Medikamente länger im Körper, was bei unveränderter Dosierung zu gefährlichen Nebenwirkungen führen kann. Besonders kritisch ist das bei Medikamenten gegen Bluthochdruck, Diabetes oder Schmerzen. Standarddosierungen, wie sie bei jüngeren Erwachsenen üblich sind, sind für ältere Menschen oft ungeeignet. „Wir müssen die Dosierung individuell anpassen - und zwar nicht nur nach Alter, sondern auch nach Nierenfunktion, Gewicht und Begleiterkrankungen“, so Hug. Er empfiehlt, bei jeder Neueinstellung oder größeren Änderung der Medikation die Nierenfunktion zu kontrollieren. Um gefährliche Neben- oder Wechselwirkungen zu vermeiden, gibt es Hilfsmittel wie die PRISCUS-Liste. Sie nennt Medikamente, die für ältere Menschen besonders riskant sind, und schlägt besser verträgliche Alternativen vor.
Polypharmazie und ihre Folgen
Was als Segen gedacht ist, kann bei sogenannter Polypharmazie oder Polypharmakotherapie zum Problem werden. Viele Senior*innen nehmen täglich fünf oder mehr Medikamente ein. Das erhöht das Risiko für Wechselwirkungen enorm. „Die gleichzeitige Einnahme verschiedener Präparate kann dazu führen, dass sich Wirkstoffe gegenseitig verstärken oder abschwächen“, warnt Hug.
Medikamente, die das Demenzrisiko erhöhen können
Vereinfacht kann man sagen, dass bei allen Substanzen, die ins Gehirn gelangen und dort wirken, als Nebenwirkungen Kognitionsstörungen, Verwirrtheit oder Delir auftreten können oder dass sie das Sturzrisiko erhöhen. Zu diesen Substanzen gehören nicht nur Psychopharmaka wie Benzodiazepine, sondern auch Opiate, Parkinsonmittel, Antidepressiva und Antiepileptika. Zudem gibt es zahlreiche Arzneimittel, die zum Beispiel aufgrund ihrer Kreislaufeffekte bei Älteren ebenfalls mit einem erhöhten Risiko für Vergesslichkeit, Verwirrtheit und Delir einhergehen. Auch hierbei ist die Gefahr zu stürzen größer.
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Anticholinergika
Bekannt für ihre kognitionsverändernden Effekte sind Anticholinergika: Erst vor Kurzem hat eine Fall-Kontroll-Studie gezeigt, dass bestimmte Substanzen dieser Klasse im Rahmen eines langfristigen Einsatzes bei älteren Patienten mit einem erhöhten Risiko für Demenzerkrankungen einhergehen.
Psychopharmaka
Ein systematischer Review aus Großbritannien lässt erkennen, dass das Risiko für ein Delir bei älteren Patienten durch Psychopharmaka höher ist, als wenn sie keine solchen Substanzen einnehmen: Neuroleptika waren mit einem 4,5-fachen Risiko eines Delirs assoziiert, Opioide mit einem 2,5-fachen Risiko und Benzodiazepine mit einem 3-fachen Risiko.
Rezeptfreie Arzneimittel
Ebenfalls ein großes Problem in der Altersmedizin sind rezeptfreie Arzneimittel, die sich Patienten aus der Apotheke holen, ohne dass der behandelnde Arzt davon erfährt. Als Beispiel nennt Wehling Doxylamin: „Das meistverkaufte Schlafmittel Deutschlands ist ein altes, stark sedierendes Antihistaminikum und Generikum. Es verdoppelt das Delirrisiko fast.“
Der 1. Hauptsatz der Geriatrie
Wenn ein Arzt ein Mittel verschreibe, das die kognitive Leistungsfähigkeit beeinträchtige, verstoße er automatisch gegen den 1. Hauptsatz der Geriatrie: „Oben Licht, unten dicht, lieber Gott, mehr will ich nicht“, so der Direktor des Instituts für Klinische Pharmakologie der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg: „Alte Menschen wollen am Leben teilhaben - daher sind Denk- und Merkstörungen das Schlimmste, was ihnen passieren kann.“ Die 4 wichtigsten Auslöser für Verwirrtheit oder Delir im Alter sind laut Wehling Dehydration und Elektrolytentgleisungen (Hyponatriämie), Infektionen (vor allem bei Fieber), Operationen/Unfälle und Medikamente. Am komplexesten zu therapieren seien die Kognitionsstörungen, die durch Medikamente ausgelöst werden, denn damit greife man in alle Therapiestrategien beim Patienten ein, so der Pharmakologe.
Reversible "medikamentöse Demenz"
Wichtig sei festzuhalten, dass diese Symptome einer „medikamentösen Demenz“ meist zu einem Großteil wieder reversibel sind, betont Wehling. Oft erholt sich die kognitive Leistung wieder, wenn ein solches Medikament abgesetzt wird. Eine langfristige Einnahme scheint dennoch Effekte im Gehirn zu haben, sodass eine Demenz beschleunigt wird.
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Wie kommt es zu kritischen Verschreibungen?
Manche Patienten benötigen schlicht eine Medikation, zu der es keine (verträglichere) Alternative gibt. Dann nehme man gewisse Risiken und Nebenwirkungen in Kauf. „Man sollte die Patienten jedoch aufklären, was wohl in der Praxis leider zu selten passiert.“ Nicht selten beobachtet man paradoxe Phänomene, dass nämlich Patienten Arzneimittel ohne Nebenwirkungen vertragen, obwohl diese eigentlich ungeeignet sind.
Hilfreiche Listen und Klassifikationen
Wenn Patienten über Gedächtnisstörungen klagen, sollte der Arzt auf der Medikamentenliste nach Substanzen fahnden, die bekanntermaßen die Kognition beeinträchtigen. Weil aber in der Sprechstunde die Zeit oft knapp ist, könnten Listen helfen, die einen raschen Überblick über Substanzen geben, die im Hinblick auf die Kognition Probleme bereiten. Allerdings helfen solche Negativlisten - wie die Beers- oder PRISCUS-Liste - nicht, wenn ein Arzt entscheiden soll, welches Medikament er stattdessen verabreichen kann, betont Wehling. Daher hatte er eine Positiv-Negativ-Kategorisierung für Medikamente im Alter erstellt - die 2008 veröffentlichte FORTA-Klassifizierung (Fit fOR The Aged). Medikamente oder Medikamentengruppen werden in 4 Kategorien eingeteilt:
- A („absolutes Muss“): Für Ältere unverzichtbare Medikamente mit eindeutigen Vorteilen; sie haben sich in größeren Studien als wirksam erwiesen - bei gleichzeitig geringem Nebenwirkungspotenzial.
- B („Benefit“): Vorteilhaft mit geprüfter oder offensichtlicher Wirksamkeit bei Älteren; es gibt nur wenige Einschränkungen hinsichtlich Wirksamkeit oder Sicherheit.
- C („cautious/careful“): Medikamente mit fragwürdiger Nutzen-Risiko-Bewertung bei Älteren, die als Erstes weggelassen werden sollen; sonst mit intensivem Monitoring. „Das sind mit schlechtem Gewissen zu verabreichende kritische Arzneimittel - hier gehören die meisten Psychopharmaka hin“, so Wehling.
- D („donʼt/Das muss weg“): bei älteren Patienten zu vermeiden, Alternativen sollten gefunden werden.
„Die FORTA-Klassifikation unterstützt nicht nur die Überprüfung von unnötigen, ungeeigneten und gefährlichen Medikamenten für ältere Patienten, sondern verschafft älteren Patienten auch die Chance, von positiv bewerteten Medikamenten zu profitieren“, erklärt Wehling.
Validierung der FORTA-Klassifikation
Zur Validierung von FORTA haben Wehling und seine Kollegen eine randomisierte kontrollierte Studie mit 409 Patienten durchgeführt. Die Teilnehmer aus 2 geriatrischen Kliniken waren 65 Jahre oder älter und nahmen mindestens 3 Medikamente ein beziehungsweise waren mindestens 60 Jahre alt und nahmen 5 Medikamente ein. In der Interventionsgruppe wurden die Ärzte zu FORTA geschult und beraten, in der Kontrollgruppe fand eine geriatrische Standardversorgung statt. Zu Beginn der Studie war der Score bei 3,5 (d. h. 3,5 Medikationsfehler), am Ende der Studie nach 16 Tagen stationärem Aufenthalt lag der Score in der Interventionsgruppe unter 1, in der Kontrollgruppe bei 2,7. In der FORTA-Gruppe gab es signifikant weniger unerwünschte Arzneimittelwirkungen als in der Kontrollgruppe (167 vs. 208 UAW).
Empfehlungen für Ärzte
Sein Rat an Hausärzte: „Bei älteren Patienten sollte man FORTA-C- und -D-Mittel vermeiden und statt dessen Medikamente aus Gruppe A oder B suchen.“
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Vernünftiges Umstellen der Medikation
Das Umstellen birgt eigene Gefahren. Manche Arzneimittel müssen ausschleichend abgesetzt werden. Dazu gehören alle Antiepileptika, auch Benzodiazepine. Abrupt absetzen kann man zum Beispiel Amlodipin, falls der Blutdruck übertherapiert ist. Aber es ist zu beachten, wie lange der Patient das Medikament schon nimmt. So ist beispielsweise bei Antidepressiva in der Regel ein schrittweises Ausschleichen über einen Zeitraum von 4 Wochen nötig, da es andernfalls zu einem Absetzsyndrom kommen könnte. Wichtig sei bei einem elektiven Absetzversuch, den Patienten selbst, Angehörige und wenn nötig auch seine Betreuer zu informieren.
Umgang mit Schlafstörungen
Wenn es in FORTA für eine bestimmte Indikation keine A- und B-Substanzen gibt, ist guter Rat teuer. Das gilt insbesondere für die demenzassoziierten Schlafstörungen. „Trotz intensiver Forschung haben wir für diese Erkrankung keine guten Arzneimittel“, sagt Wehling, und: „Jedes Schlafmittel ist schlimm oder schlimmer.“ Bei Schlafstörungen ließe sich allenfalls darüber aufklären, dass im Alter der Schlafbedarf geringer ist. Oder man behandelt die organischen Ursachen - etwa Schmerzen - und verbessert so den Schlaf. Schließlich kommen auch suggestive Methoden wie homöopathische Mittel oder Placebos als schadensfreie Therapie infrage.
Medikamentenmanagement im Alter
Mit zunehmendem Alter verändern sich die Funktionen von Leber und Nieren - zwei Organe, die maßgeblich für den Abbau und die Ausscheidung von Wirkstoffen verantwortlich sind. Hug erklärt: „Viele Medikamente bleiben bei älteren Menschen länger im Körper. Wird die Dosierung nicht angepasst, kann das zu gefährlichen Nebenwirkungen führen.“ Um gefährliche Neben- oder Wechselwirkungen zu vermeiden, gibt es Hilfsmittel wie die PRISCUS-Liste. Sie nennt Medikamente, die für ältere Menschen besonders riskant sind, und schlägt besser verträgliche Alternativen vor.
Medikamente im Zusammenhang mit geringerem Demenzrisiko
Insgesamt mangele es den Studien an Konsistenz dabei, einzelne Arzneimittel zu identifizieren, die das Risiko für Demenz verändern. Bei einzelnen Medikamentenklassen zeige sich aber durchaus ein durchgehender Zusammenhang, der auch mit zuvor veröffentlichten Studien übereinstimme und biologisch plausibel sei.
- Antibiotika
- Virostatika
- bestimmte Schutzimpfungen (Hepatitis A, Typhus, Hepatitis A und Typhus kombiniert, Diphtherie) sowie
- entzündungshemmende Medikamente lassen sich demnach mit einem geringeren Demenzrisiko in Verbindung bringen.
Demenzprävention: 12 Tipps für ein gesundes Gehirn
- Bewegung: Was gut für Ihr Herz ist, ist auch gut für Ihr Gehirn. Dazu gehört, sich ausreichend zu bewegen - mindestens 2,5 Stunden pro Woche sind ideal.
- Geistige Fitness: Lernen Sie Neues - auch im Alter. Das hält Ihr Gehirn auf Trab. Egal ob ein Musikinstrument, eine Sprache oder der Umgang mit dem Computer, probieren Sie etwas Neues aus.
- Gesunde Ernährung: Orientieren Sie sich an der klassischen mediterranen Ernährung. Essen Sie viel Obst und Gemüse, Olivenöl und Nüsse. Ziehen Sie Fisch rotem Fleisch vor.
- Soziale Kontakte: Zu zweit oder in der Gruppe machen Aktivitäten mehr Spaß und Ihre grauen Zellen werden gefordert. Verabreden Sie sich zum Sport, zum Musizieren, zum Kartenspielen oder zum gemeinsamen Kochen.
- Übergewicht reduzieren: Achten Sie darauf, dass Sie nicht zu viele Kilos auf die Waage bringen. Eine gesunde Ernährung und regelmäßige Bewegung helfen Ihnen dabei.
- Ausreichend Schlaf: Sorgen Sie für guten und ausreichenden Schlaf, damit das Gehirn Schadstoffe abbauen und sich erholen kann.
- Nicht rauchen: Rauchen schadet auch Ihrem Gehirn. Hören Sie auf zu rauchen, es ist nie zu spät.
- Kopfverletzungen vermeiden: Passen Sie im Alltag und beim Sport auf Ihren Kopf auf und tragen Sie zum Beispiel einen Helm beim Fahrradfahren.
- Bluthochdruck checken: Lassen Sie Ihren Blutdruck regelmäßig kontrollieren. Bluthochdruck sollte auf jeden Fall behandelt werden.
- Diabetes überprüfen: Behalten Sie Ihren Blutzuckerspiegel im Blick. Ist er dauerhaft zu hoch, sollten Sie in Absprache mit Ihrem Arzt oder Ihrer Ärztin aktiv werden.
- Depressionen behandeln: Sorgen Sie gut für sich. Wenn Sie über eine längere Zeit antriebslos oder niedergeschlagen sind, ist es sinnvoll, Ihren Arzt oder Ihre Ärztin aufzusuchen, um die Ursache abzuklären. Eine Depression sollte nicht unbehandelt bleiben.
- Auf Schwerhörigkeit achten: Nehmen Sie es ernst, wenn Sie merken, dass Sie schlechter hören.
Chronische kognitive Beeinträchtigungen durch Medikamententoxizität
Im Kontext demenzieller Syndrome bei älteren Menschen sind chronische kognitive Beeinträchtigungen aufgrund von Medikamententoxizität von besonderer Bedeutung und eine große Herausforderung. Dieses Problem ist ein Nebenprodukt des steigenden Einsatzes von Medikamenten während der letzten Jahrzehnte. Ältere Menschen haben die größte Krankheitsbelastung, verbrauchen die meisten Medikamente, sind anfälliger für Nebenwirkungen und stellen das am schnellsten wachsende Segment der industrialisierten Welt dar.
Demenz als unerwünschte Arzneimittelwirkung
Diese Problematik macht es für Betroffene und deren Umfeld immer schwieriger, demenzielle Zustände als eventuelle unerwünschte Arzneimittelwirkungen zu erkennen. Faktoren wie Überforderung oder Zeitmangel mögen dazu beitragen, dass Angehörige, Pflegekräfte und auch Ärzte den fließenden Übergang von der medikamentösen Erzeugung eines Delirs (also: akuten Verwirrtheitszuständen) zur Demenz teilweise stillschweigend, meist aber unwissend hinnehmen. Einige Veröffentlichungen legen die Vermutung nahe, dass chronische Delirzustände bei älteren Menschen nicht selten als Demenz verkannt werden, obwohl sie vom täglichen Tablettenkonsum herrühren.
Die Rolle von Anticholinergika
1999 ging eine Studie von Moore und Kollegen, die sich mit Arzneimittelnebenwirkungen, Delir und Demenz auseinandersetzte, im Speziellen auf die problematische anticholinerge Wirkung ein, die viele gebräuchliche Medikamente haben, und verwies implizit auf den schmalen Grat zwischen Delir und Demenz: „Fast jedes Medikament kann ein Delir auslösen, vor allem bei vulnerablen Patienten. Beeinträchtigte cholinerge Neurotransmission spielt bei der Krankheitsentstehung von Delir und der Alzheimerkrankheit eine Rolle. Anticholinerge Medikamente stellen eine wichtige Ursache von akuten und chronischen Verwirrtheitszuständen dar. Dennoch ist die gleichzeitige Verwendung mehrerer anticholinerger Bestandteile gängig.“
Das Dilemma der Diagnose "Alzheimer"
Ist die Diagnose „Alzheimer“ bei Menschen jenseits des erwerbsfähigen Alters erst einmal gestellt, wird es häufig schwierig, aus diesem bereits zum gesellschaftlichen wie medizinischen Stigma gewordenen Kreislauf auszubrechen. Ärzte oder Pharmakologen können oft nicht sagen, welche Wechselwirkungen bei der Einnahme von mehreren Arzneimitteln im Einzelfall zu erwarten sind. Geriatrische Stationen setzen bei Neueinweisungen meist zuerst so viele Medikamente wie möglich ab.
Verflechtungen zwischen Medizin und Pharmaindustrie
Heutzutage gehören von Unternehmen beeinflusste Medikamentenstudien, Zulassungsverfahren oder Leitlinien zum Alltag. Daten und Ergebnisse werden oft zunächst für Pharmawerbezwecke und erst danach für die Forschung genutzt; wenn sie überhaupt bei externen Wissenschaftlern ankommen. Wissenschaftliche Neutralität ist eher die Ausnahme, wenn Aussichten auf ökonomische Rentabilität bestehen. Und diese ergibt sich vor allem dann, wenn besondere Nachfrage erzeugt werden kann.
Medikamentenkonsum im Alter
Menschen ab dem 65. Lebensjahr werden aufgrund ihrer „unregelmäßigen“ Reaktionen auf Medikamente häufig von klinischen Studien ausgeschlossen. Dabei sind gerade sie diejenigen, die die Medikamente einnehmen. Fraglich ist hier, inwieweit die gängige Unterscheidung zwischen Intoxikation (Vergiftung durch Überdosierung) und Nebenwirkung bei älteren Menschen noch angebracht ist. Denn häufig treten bei diesen auch unter „normaler“ Dosierung paradoxe Arzneimittelwirkungen auf, wie zum Beispiel Verwirrung, Ängstlichkeit und Depression bei der Anwendung von Tranquilizern oder Aufregung und Unruhe bei der Einnahme von Schlafmitteln.
Polypharmazie und ihre Folgen
Mehr als die Hälfte der über 70-Jährigen nimmt regelmäßig fünf und mehr Medikamente ein. Nicht selten werden mehr Mittel eingenommen als es nachvollziehbare Diagnosen gibt, weil Ärzte Nebenwirkungen von Arzneimitteln als eigenes Problem einschätzen und wiederum medikamentös therapieren, oder weil Patienten zusätzlich Selbstmedikation betreiben. Eine Studie verweist auf den deutlichen Zusammenhang zwischen der Menge der Medikamente und der Häufigkeit und Stärke von „unerwünschten Arzneimittelwirkungen“ bei über 60-Jährigen: zwei bis drei Medikamente erhöhten die Wahrscheinlichkeit von teilweise fatalen Nebenwirkungen um den Faktor 2,7; vier bis fünf Medikamente um den Faktor 9,3 und sechs und mehr Medikamente um den Faktor 13,7. Andere Studien deuten auf den unmittelbaren Zusammenhang von Demenz und Polypharmazie hin: Je mehr Medikamente eingenommen werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit einer Demenz(-Diagnose).
Demenz und Delir
In vielen Studien werden Demenz und Delir als verwandte und verwobene Phänomene kognitiver Beeinträchtigung („cognitive impairment“) behandelt. Einige medizinische Aufsätze weisen explizit darauf hin, dass demenzielles Verhalten (inklusive Vergesslichkeit, Unruhe oder Aggressivität) häufig einem dahinter stehenden Delir geschuldet sein mag, welches durch Medikamente möglicherweise erst erzeugt oder vertieft und chronisch wird.
Verschreibungskaskaden
So hängen vermutlich nicht wenige Fälle der Lewy-Body-Demenz, die zu Lebzeiten nur auf Verdacht vom Morbus Parkinson differenzierbar ist und auch als dessen „Sekundärkrankheit“ gilt, eng mit den sich in Deutschland häufenden Verschreibungen des Wirkstoffes Levodopa zusammen. Dieser ist als Parkinsonmittel zugelassen, in dieser Sparte marktführend und wird bei fünf bis 30 Prozent der Anwender auch bei „normaler“ Dosierung mit möglichen Delirwirkungen assoziiert.
Lösungsansätze und Alternativen
Positiv- und Negativlisten wie die in Deutschland publizierten FORTA oder PRISCUS scheinen hier keine echte Besserung zu versprechen. Zum einen, weil diese Listen der bedenklichen Medikamente in der Praxis häufig kaum eine Rolle spielen; zum anderen, weil sie innerhalb des wissenschaftlichen Demenzdiskurses die scheinbare Alternativlosigkeit medikamentöser Behandlungen verfestigen. Verbunden mit der grundsätzlichen Frage des immer bedeutender werdenden Umgangs mit dem Alter in unserer Gesellschaft, sollte der Medikamentenkonsum von jedem Einzelnen, ob Patient, Arzt oder Familienmitglied, grundsätzlich überdacht werden.
Medikamentöse Behandlung von Demenz
Die Alzheimer-Krankheit ist nicht heilbar, doch Medikamente können helfen, den Krankheitsverlauf verlangsamen und Symptome zu lindern. Zur Behandlung stehen je nach Symptomen und Krankheitsstadium verschiedene Medikamente zur Verfügung:
- Wirkstoffe gegen den kognitiven Abbau
- Mittel gegen psychische oder Verhaltenssymptome
- ergänzend Ginkgo biloba
Neue Medikamente und Antikörper-Therapien
Ein neues Medikament, Leqembi (Lecanemab) wurde im April 2025 in der EU zur Behandlung von Menschen im Frühstadium von Alzheimer zugelassen - ist in Deutschland aber noch nicht verfügbar. Kisunla (Donanemab), ein weiteres neues Medikament, wurde im Juli 2025 zur Zulassung empfohlen. Antikörper-Medikamente richten sich gegen eine mögliche Ursache der Alzheimer-Krankheit: schädliche Proteinablagerungen im Gehirn, so genannte Amyloid-Plaques.
Antidementiva
Antidementiva können helfen, den geistigen Abbau zu verlangsamen und die Selbstständigkeit länger zu erhalten. Es gibt zwei Wirkstoffgruppen, die je nach Stadium der Erkrankung zur Anwendung kommen:
- Acetylcholinesterase-Hemmer (bei leichter bis mittelschwerer Alzheimer-Demenz)
- Donepezil
- Rivastigmin
- Galantamin
- Glutamat-Antagonisten (bei mittelschwerer bis schwerer Alzheimer-Demenz)
- Memantin
Ginkgo biloba
Neben Antidementiva kann auch der pflanzliche Wirkstoff Ginkgo biloba zur Unterstützung der kognitiven Funktionen eingesetzt werden.
Neuroleptika
Neuroleptika werden bei bestimmten Begleiterscheinungen der Alzheimer-Krankheit eingesetzt. Dazu gehören herausfordernde Verhaltensweisen wie plötzliche Wutausbrüche sowie Halluzinationen und Wahnvorstellungen.
Antidepressiva
Depressionen treten bei Menschen mit Demenz häufig auf und sollten behandelt werden, da sie sich negativ auf die Lebensqualität und die geistige Leistungsfähigkeit auswirken können. Die S3-Leitlinie Demenzen von Februar 2025 empfiehlt zur Behandlung von Depressionen bei Alzheimer-Demenz den Einsatz von Mirtazapin oder Sertralin.
Palliative Versorgung
Palliative Versorgung kann Menschen mit Alzheimer in allen Krankheitsphasen entlasten - nicht nur am Lebensende. Sie berücksichtigt auch seelische und soziale Aspekte sowie persönliche Werte und Wünsche. Ziel ist es, Symptome zu lindern und eine möglichst gute Lebensqualität zu ermöglichen - unabhängig vom Krankheitsstadium.
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