Tinnitus, ein Leiden, das Millionen von Menschen betrifft, äußert sich durch ständige Geräusche im Ohr oder Kopf. Diese Geräusche, oft beschrieben als Pfeifen, Rauschen, Zischen oder Brummen, sind nur für die Betroffenen selbst wahrnehmbar. Obwohl es sich nicht um eingebildete Ohrgeräusche handelt, werden Lautstärke, Ausprägung und Intensität des Tinnitus von jedem Patienten unterschiedlich wahrgenommen. In seltenen Fällen kann ein "objektiver" Tinnitus vorliegen, der für Außenstehende hörbar ist und eine spezielle Abklärung erfordert. Allein in Deutschland leiden mehr als drei Millionen Menschen an einem Tinnitus.
Verschiedene Ausprägungen des Tinnitus
Nicht jeder, der Ohrgeräusche wahrnimmt, leidet darunter. Wenn der Tinnitus nicht beeinträchtigt, spricht man von einem kompensierten Tinnitus. Im Gegensatz dazu steht der dekompensierte Tinnitus, der mit erheblichem Leidensdruck und einer deutlichen Einschränkung der Lebensqualität einhergeht. Zwischen diesen beiden Extremen gibt es verschiedene Abstufungen, die für die Wahl der Therapieansätze entscheidend sind.
Begleiterkrankungen des Tinnitus
Etwa 60 Prozent der Tinnitus-Patienten leiden zusätzlich unter einer Geräuschüberempfindlichkeit (Hyperakusis), die oft als noch belastender empfunden wird. Auch Angststörungen und Depressionen treten häufig als Begleiterkrankungen auf. Diese können sowohl Ursache als auch Folge des Tinnitus sein, insbesondere Erschöpfungsdepressionen.
Ursachenforschung im Gehirn
Die Ursachen für Tinnitus sind vielfältig und individuell verschieden. Lange Zeit wurde angenommen, dass subjektiver Tinnitus im Innenohr entsteht. Neueste Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass das Gehirn eine zentrale Rolle bei der Entstehung und Chronifizierung von Tinnitus spielt. Eine Forschungsgruppe der Neurochirurgischen Klinik des Uniklinikums Erlangen untersucht, welche Prozesse im Gehirn dafür verantwortlich sind, dass akut auftretende Ohrgeräusche chronisch werden.
Die Rolle der Neuroplastizität
Die Sinneszellen des Innenohrs sind tonotop angeordnet, d.h. sie sind für die Wahrnehmung unterschiedlicher Frequenzen zuständig. Werden diese Sinneszellen geschädigt, verschlechtert sich das Hörvermögen in den entsprechenden Frequenzbereichen. Die Nervenzellen in der primären Hörrinde, die für diese Frequenzbereiche zuständig sind, erhalten nun ungewohnt schwache Signale. Dies führt zu Veränderungen in den Verbindungen zu benachbarten Zellen, was die normale Signalverarbeitung stört.
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Das neue Modell der Tinnitusentstehung
Ein internationales Forschungsteam um Dr. Achim Schilling und Dr. Patrick Krauss vom Uniklinikum Erlangen hat ein neues Modell zur Entstehung und Chronifizierung von Tinnitus entwickelt. Dieses Modell basiert auf der Zusammenarbeit von experimentellen Neurowissenschaften, Computational Neuroscience und Prinzipien der KI-Forschung.
Demnach spielen zwei zentrale Prozesse eine entscheidende Rolle:
- Prädiktive Codierung: Dieser Prozess ermöglicht es dem Gehirn, eingehende Reize basierend auf früheren Erfahrungen vorherzusagen und zu interpretieren.
- Adaptive stochastische Resonanz: Dieser Prozess sorgt dafür, dass wir schwache Signale besser wahrnehmen, indem er ein zusätzliches Rauschen hinzufügt. Dieses "Verstärkerrauschen" tritt besonders stark auf, wenn die Hörsinneszellen im Innenohr geschädigt sind.
Das neue Modell besagt, dass Tinnitus durch die Kombination beider Prozesse entsteht: Die adaptive stochastische Resonanz erzeugt ein Verstärkerrauschen, das dann von der prädiktiven Codierung irrtümlich als realer Hörreiz interpretiert wird. Durch diese Kombination von Top-Down- und Bottom-Up-Prozessen in der Hörbahn entsteht das Phantomgeräusch des Tinnitus.
Emotionale Bewertung und psychische Belastung
Die emotionale Bewertung des Ohrgeräusches spielt eine große Rolle bei Tinnitus. Tinnitus-Patienten haben häufig psychische Probleme wie Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen und depressive Syndrome. Auch Stress und psychische Belastungssituationen können die Entstehung und den Verlauf des Tinnitus verstärken.
Ursachen von Tinnitus im Überblick
Die Ursachen für Tinnitus können vielfältig sein:
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- Lärmbelastung: Übermäßige Lärmbelastung, z.B. durch Rockkonzerte oder laute Maschinen, kann zu Tinnitus führen. Man vermutet, dass bis zu 30% aller subjektiven Tinniti Folge übermäßiger Lärmbelastung sind.
- Hörsturz: Ein Hörsturz, ein plötzlicher teilweiser oder kompletter Hörverlust, ist eine häufige Ursache für chronischen Tinnitus.
- Akustikusneurinom: Dieser gutartige Tumor am Hörnerv kann neben Tinnitus auch Schwindel und vermindertes Hören verursachen.
- Morbus Menière: Diese Erkrankung des Innenohrs geht mit Drehschwindel, Tinnitus und Hörverlust einher.
- Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD): Patienten mit Schmerzen und Fehlfunktionen der Kaumuskulatur, der Kiefergelenke und der Zähne leiden häufiger an Tinnitus.
- Psychische Störungen: Depressionen, Angststörungen oder posttraumatische Belastungsstörungen können das Risiko für Tinnitus erhöhen und ihn verstärken.
- Medikamente: Einige Medikamente können Nebenwirkungen haben, die das Hörsystem beeinflussen.
- Andere Erkrankungen: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Stoffwechselerkrankungen, Störungen im Hormonhaushalt und Erkrankungen des Zentralen Nervensystems können ebenfalls Tinnitus verursachen.
- Veränderte Druckverhältnisse im Ohr
- Stress und Überlastung: Stress und Überlastung sowie natürliche Alterungsprozesse spielen eine wichtige Rolle, da sie eine verstärkende Wirkung auf den Entstehungsprozess und die weitere Entwicklung haben.
Diagnose und Behandlung
Die Diagnose von Tinnitus beginnt mit einer ausführlichen Anamnese und einer körperlichen Untersuchung. Dabei werden Dauer und Veränderung der Ohrgeräusche sowie mögliche Auslöser erfragt. Auch Begleitbeschwerden wie Schwindel, Hörverlust oder Schmerzen im Kiefer- und Nackenbereich werden erfasst. Je nach Befund können weitere Untersuchungen notwendig sein, etwa Gleichgewichtstests oder eine genaue Überprüfung der Halswirbelsäule und der Kieferfunktion.
Die aktuelle S3-Leitlinie zum chronischen Tinnitus betont, dass es in der Regel nicht darum geht, das Ohrgeräusch vollständig zum Verschwinden zu bringen. Vielmehr steht die Reduktion des Leidensdrucks im Mittelpunkt.
Therapieansätze
- Kognitive Verhaltenstherapie: Diese Therapie hilft, die Bewertung und den Umgang mit dem Ohrgeräusch zu verändern, sodass er als weniger störend empfunden wird.
- Psychoedukative Gespräche: Betroffene werden umfassend aufgeklärt und begleitet.
- Hörgeräte oder Cochlea-Implantat: Bei zusätzlicher Hörstörung können diese Hilfsmittel den Tinnitus lindern, da die fehlenden akustischen Reize ausgeglichen werden.
- Entspannungstechniken: Yoga oder andere Entspannungsübungen können helfen, Stress abzubauen und den Tinnitus weniger stark wahrzunehmen.
- Medikamentöse Behandlung: Bisher gibt es keine Medikamente, die einen chronischen Tinnitus verringern oder gar beenden können. Allerdings können bei Depressionen und Angsterkrankungen bestimmte Psychopharmaka helfen. Eine Behandlung mit Kortison wird nur in der Akutphase empfohlen.
Warnzeichen
In den meisten Fällen ist ein Tinnitus zwar belastend, aber nicht gefährlich. Es gibt jedoch bestimmte Warnzeichen, die immer ärztlich abgeklärt werden sollten:
- Plötzlich auftretender Hörverlust
- Starker Schwindel
- Einseitige neurologische Ausfälle
- Pulsierendes Ohrgeräusch, das mit dem Herzschlag synchronisiert ist
Was Sie selbst gegen Tinnitus tun können
- Schützen Sie sich vor Lärm: Vermeiden Sie laute Umgebungen oder tragen Sie einen Gehörschutz.
- Kümmern Sie sich um Ihre Ohren: Kurieren Sie Ohrenerkrankungen gut aus.
- Vermeiden Sie Stress: Sorgen Sie für ausreichend Entspannung und Ausgleich.
- Entwickeln Sie keine Angst vor dem Tinnitus: Versuchen Sie, das Ohrgeräusch zu akzeptieren und ihm wenig Bedeutung in Ihrem Leben zu geben.
Aktuelle Forschung und KI
Die Forschung zur Tinnitusentstehung und -behandlung ist weiterhin aktiv. Die Erkenntnisse des Teams um Dr. Schilling und Dr. Krauss sind nicht nur für das Verständnis von Tinnitus von Bedeutung, sondern geben auch Aufschluss über Prozesse des alltäglichen Hörens. Die Wissenschaftler gehen zudem davon aus, dass ihre Erkenntnisse die Weiterentwicklung von KI-Technologien befördern und zu besseren Therapieansätzen für Tinnitus beitragen können. Die Verschmelzung der Forschungsbereiche Computational Neuroscience, KI und experimentelle Neurowissenschaften beurteilen sie als maßgeblich für die Entwicklung des neuen Modells zu der das Hören betreffenden (Phantom-)Wahrnehmung.
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