Lange Zeit galt es als Dogma, dass Nervenzellen sich nach der Geburt nicht mehr teilen und vermehren können. Diese Annahme wurde jedoch widerlegt. Heute wissen wir, dass die Neurogenese, die Neubildung von Nervenzellen, auch im Erwachsenenalter stattfindet. Zwar entstehen auf diese Weise keine riesigen Mengen an neuen Zellen, aber die wenigen neu entstehenden Nervenzellen spielen eine wichtige Rolle für die Lern- und Gedächtnisfähigkeit des Gehirns.
Neurogenese im Erwachsenenalter: Wo und wie?
Im erwachsenen Gehirn von Säugetieren kommen Nervenstammzellen nur in bestimmten Bereichen vor, den sogenannten Stammzellnischen. Diese Regionen sind besonders starr und wenig flexibel, was unter anderem an einem starken Netzwerk der extrazellulären Matrix liegt.
Professorin Magdalena Götz hat massgeblich zu der Erkenntnis beigetragen, dass es im Gehirn bestimmte Bereiche gibt, in denen adulte Stammzellen entstehen. Diese Erkenntnisse wurden erst Anfang dieses Jahrtausends wissenschaftlich belegt. Götz und ihr Team untersuchten das Proteom dieser Nischen, also die gesamte Menge der dort vorhandenen Proteine. Dabei konzentrierten sie sich auf zwei Regionen:
- Die subventrikuläre Zone: Dies ist die grösste Stammzellnische des Gehirns. Sie befindet sich unterhalb der Wände der Hirnventrikel, die mit Gehirnwasser gefüllt sind.
- Der Riechkolben: Dieser Bereich im vorderen Teil des Gehirns dient als Zielort für neugebildete Neuronen, die dorthin wandern, sich ausdifferenzieren und in das neuronale Netz integrieren. Neuronale Stammzellen wandern von der subventrikulären Zone zum Riechkolben.
Stammzelltypen und ihre Aktivierung
Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Immunbiologie in Freiburg haben herausgefunden, dass es unterschiedliche Typen von neuronalen Stammzellen gibt, die neue Nervenzellen hervorbringen können. Bei jungen Tieren teilen sich diese Zellen fortlaufend, während ein grosser Teil der Stammzellen bei älteren Tieren in einem Ruhezustand verharrt. Die Produktion neuer Zellen kann jedoch wieder aktiviert werden, beispielsweise durch körperliche Aktivität oder epileptische Anfälle.
Im Hippocampus, einer Region, die für Lernen und Gedächtnis eine zentrale Rolle spielt, gibt es neuronale Stammzellen, die zeitlebens neue Nervenzellen hervorbringen können. Die Freiburger Forscher identifizierten verschiedene Populationen von neuronalen Stammzellen: aktive und ruhende, inaktive neuronale Stammzellen. Bei jungen Mäusen teilen sich die Stammzellen vier Mal häufiger als bei älteren Tieren. Die Wissenschaftler beobachteten, dass körperlich aktive Mäuse mehr neue Hippocampus-Neurone aufwiesen, was darauf hindeutet, dass körperliche Aktivität die Neubildung von Nervenzellen fördert.
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Regulation der Neurogenese: Ein komplexes Zusammenspiel
Die Entstehung neuer Nervenzellen im Gehirn wird streng reguliert. Eine aktuelle Studie der Universität Bonn und des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) hat einen Schlüsselmechanismus dieser Regulation identifiziert. Demnach sind an der Regulation neuraler Stammzellen zwei verschiedene Komponenten beteiligt, die sich gegenseitig kontrollieren:
- Der Notch-Signalweg: Er sorgt dafür, dass sich die Stammzellen vermehren und verhindert gleichzeitig ihre Spezialisierung in Neuronen oder Gliazellen.
- Das Molekül miR-9/9: Es unterbindet die Teilung der Stammzellen und sorgt stattdessen dafür, dass sie sich zu Nervenzellen entwickeln. Interessanterweise bewirkt Notch zusätzlich noch eine vermehrte Produktion von miR-9/9. Dieser Mechanismus verhindert, dass sich die Stammzellen zu schnell teilen.
Die Entwicklung des Gehirns im Mutterleib und nach der Geburt
Die Entwicklung des Gehirns beginnt bereits wenige Tage nach der Befruchtung der Eizelle. Bis zur Geburt bilden sich im Schnitt jede Minute rund 250.000 neue Nervenzellen. Bereits in der 5. Schwangerschaftswoche beginnen sich die ersten Nervenzellen zu teilen und sich in Neuronen und Gliazellen zu differenzieren. Ebenfalls um die 5. Woche faltet sich die Neuralplatte in sich selbst und bildet das sogenannte Neuralrohr, welches sich bis etwa zur 6. SSW schliesst und zum Gehirn und Rückenmark wird. Ab der 8. Woche beginnt die elektrische Aktivität im Gehirn, die dem Baby ermöglicht, seine ersten (spontanen) Bewegungen zu koordinieren.
Mit der Geburt ist die Entwicklung von Gehirn und Nervensystem noch lange nicht abgeschlossen. Zwar sind zu diesem Zeitpunkt bereits die große Mehrheit der Neuronen, etwa 100 Milliarden, im Gehirn vorhanden, sein Gewicht beträgt dennoch nur etwa ein Viertel von dem eines Erwachsenen. Die Gewichts- und Größenzunahme des Gehirns im Laufe der Zeit beruht auf der enormen Zunahme der Verbindungen zwischen den Nervenzellen und darauf, dass die Dicke eines Teils der Nervenfasern zunimmt.
Bedeutung der Neurogenese für Lernen und Gedächtnis
Obwohl die Menge an neuen Nervenzellen im Vergleich zur Gesamtzahl der Nervenzellen eher gering ist, sind die Zuwächse in bestimmten Regionen wie dem Hippocampus von Interesse. Der Hippocampus spielt eine zentrale Rolle für das Gedächtnis.
Die neuen Nervenzellen sind durchaus an Lernen und Gedächtnis beteiligt. So wurde bei Mäusen die Neubildung von Nervenzellen mit Krebsmedikamenten verhindert. Anschliessend waren die Tiere kaum noch in der Lage, sich einen bestimmten Ort in ihrer Umgebung zu merken.
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Einfluss von äusseren Faktoren auf die Neurogenese
Die Neurogenese wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst, darunter:
- Körperliche Aktivität: Rennen fördert die Neubildung von Nervenzellen.
- Umgebung: Eine interessante Umgebung mit Verstecken und vielen Artgenossen kann die Neurogenese steigern.
- Erkrankungen: Es gibt Hinweise darauf, dass die übermässige Bildung neuer Nervenzellen bei Epilepsie eine Rolle spielt.
- Entwicklungszeit: Die Geschwindigkeit, mit der sich Nervenzellen entwickeln und in Netzwerke eingebaut werden, wird durch präzise genetische Mechanismen gesteuert.
Das Gehirn im Gleichgewicht: Erregung und Hemmung
Damit unser Gehirn zuverlässig funktioniert, braucht es eine Balance zwischen erregenden und hemmenden Nervenzellen. Erregende Nervenzellen leiten Signale weiter, während hemmende Nervenzellen verhindern, dass die Zellen zu stark feuern. Eine Studie am Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz hat gezeigt, dass später geborene hemmende Nervenzellen schneller reifen als früher geborene. So können die später geborenen Nervenzellen womöglich ihren anfänglichen Zeitrückstand aufholen.
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