Morbus Huntington, auch Huntington-Krankheit oder Chorea Huntington genannt, ist eine erbliche, degenerative Erkrankung des Gehirns, die durch fortschreitenden Verlust von Nervenzellen gekennzeichnet ist. Die Krankheit manifestiert sich durch eine Trias von motorischen, kognitiven und psychiatrischen Symptomen. Die unheilbare Erkrankung führt zu einer fortschreitenden Beeinträchtigung der Lebensqualität der Betroffenen.
Historischer Hintergrund
Die Huntington-Krankheit wurde nach dem US-amerikanischen Arzt George Huntington benannt, der sie 1872 erstmals wissenschaftlich beschrieb. Huntington erkannte als erster das Vererbungsmuster der Krankheit, nachdem er die Patientenakten seines Vaters und Großvaters studiert hatte. Die Bezeichnung Chorea Huntington leitet sich vom griechischen Wort „chorea“ (Tanz) ab und bezieht sich auf die charakteristischen, unwillkürlichen Bewegungsstörungen, die im Mittelalter als Veitstanz bekannt waren.
Ursachen und Vererbung
Morbus Huntington ist eine genetisch bedingte Erkrankung, die autosomal-dominant vererbt wird. Das bedeutet, dass jedes Kind eines Elternteils, das das mutierte Gen trägt, mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % die Krankheit erbt und irgendwann entwickeln wird. Ursache ist eine Mutation im Huntingtin-Gen (HTT) auf Chromosom 4 (4p16.3), bei der sich die Basenabfolge CAG (Cytosin, Adenin, Guanin) übermäßig oft wiederholt.
CAG-Wiederholungen und Krankheitsausbruch
Bei gesunden Menschen wiederholt sich die CAG-Sequenz im Huntingtin-Gen etwa 10 bis 35 Mal. Bei Betroffenen des Morbus Huntington liegt eine deutlich höhere Anzahl von Wiederholungen vor:
- 6 bis 35 CAG-Wiederholungen: Normalbereich, keine Erkrankung
- 27 bis 35 CAG-Wiederholungen: Intermediäre Allele, in der Regel keine Krankheitssymptome, aber erhöhtes Erkrankungsrisiko für die Nachkommen
- 36 bis 39 CAG-Wiederholungen: Inkomplette Penetranz, Erkrankung möglich, aber nicht sicher
- ≥ 40 CAG-Wiederholungen: Volle Penetranz, sicherer Krankheitsausbruch
Je höher die Anzahl der CAG-Wiederholungen, desto früher bricht die Krankheit aus und desto schneller schreitet sie voran. Bei einer sehr hohen Anzahl von Wiederholungen (ab ca. 60) kann die Krankheit bereits im Kindes- oder Jugendalter auftreten (juvenile Huntington-Krankheit).
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Funktion des Huntingtin-Proteins
Das Huntingtin-Gen enthält den Bauplan für ein Protein namens Huntingtin. In seiner gesunden Form ist Huntingtin für den Körper lebensnotwendig. Durch die Mutation im Huntingtin-Gen wird jedoch eine veränderte, fehlerhafte Form des Huntingtin-Proteins produziert. Dieses mutierte Huntingtin-Protein lagert sich in den Nervenzellen des Gehirns ab und führt zu deren fortschreitendem Untergang.
Spontanmutationen
In seltenen Fällen (ca. 5 bis 10 %) tritt die Huntington-Krankheit ohne vorherige Familiengeschichte auf. In diesen Fällen ist eine Spontanmutation für die Genveränderung verantwortlich.
Symptome
Die Huntington-Krankheit manifestiert sich durch eine Vielzahl von Symptomen, die sich im Laufe der Zeit verschlimmern. Die Symptome lassen sich in drei Hauptbereiche einteilen: motorische, kognitive und psychiatrische Störungen.
Motorische Störungen
- Chorea: Unwillkürliche, unregelmäßige, ruckartige Bewegungen (Hyperkinesien) von Gesicht, Rumpf und Gliedmaßen. Anfangs sind die Bewegungen oft gering ausgeprägt und werden von den Betroffenen selbst kaum wahrgenommen. Mit der Zeit werden sie jedoch stärker und beeinträchtigen die Koordination und Bewegungsabläufe.
- Dystonie: Muskelverspannungen und unwillkürliche Haltungen, die zu Verdrehungen und Fehlstellungen des Körpers führen können.
- Bradykinese und Rigidität: Verlangsamung der Bewegungen (Bradykinese) und Muskelsteifheit (Rigidität), insbesondere bei der juvenilen Form der Huntington-Krankheit (Westphal-Variante).
- Gangstörungen: Unsicherer, tänzelnder Gang, der durch die unwillkürlichen Bewegungen und die gestörte Koordination verursacht wird.
- Okulomotorische Störungen: Probleme mit der Augenbewegung, z. B. Schwierigkeiten, den Blick gezielt zu fixieren oder ruckartige Augenbewegungen.
- Dysarthrie und Dysphagie: Sprachstörungen (Dysarthrie) und Schluckbeschwerden (Dysphagie) aufgrund der gestörten Kontrolle über die Zungen- und Schlundmuskulatur.
Kognitive Störungen
- Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen: Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit zu fokussieren und sich zu konzentrieren.
- Gedächtnisstörungen: Probleme, sich neue Informationen zu merken oder sich an vergangene Ereignisse zu erinnern.
- Exekutive Funktionsstörungen: Beeinträchtigung der Planungs-, Entscheidungs- und Problemlösungsfähigkeiten.
- Verlangsamtes Denken: Schwierigkeiten, Informationen schnell zu verarbeiten und zu reagieren.
- Demenz: Im Verlauf der Erkrankung entwickelt sich bei vielen Patienten eine Demenz, die mit einem fortschreitenden Verlust der geistigen Fähigkeiten einhergeht.
Psychiatrische Störungen
- Verhaltensauffälligkeiten: Reizbarkeit, Aggressivität, Impulsivität, Apathie, sozialer Rückzug.
- Depressionen: Häufiges Symptom, das mit einem erhöhten Suizidrisiko einhergeht.
- Angststörungen: Panikattacken, generalisierte Angst, soziale Phobien.
- Zwangsstörungen: Wiederholte, zwanghafte Gedanken und Handlungen.
- Psychosen: Halluzinationen und Wahnvorstellungen (selten).
Symptome im Endstadium
Im fortgeschrittenen Stadium der Huntington-Krankheit verschlimmern sich die Symptome zunehmend. Die Betroffenen verlieren die Kontrolle über ihre Bewegungen, Sprache und Nahrungsaufnahme. Es kommt zu einem fortschreitenden Verlust der geistigen Fähigkeiten und zu schweren Verhaltensstörungen. Im Endstadium sind die Patienten auf umfassende Hilfe und Pflege angewiesen.
Juvenile Huntington-Krankheit
Bei der juvenilen Form der Huntington-Krankheit, die vor dem 20. Lebensjahr beginnt, stehen oft psychische Symptome und Verhaltensstörungen im Vordergrund. Die typischen choreatischen Bewegungen können zunächst fehlen. Stattdessen kommt es häufig zu Muskelsteifheit, verlangsamten Bewegungen und epileptischen Anfällen.
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Diagnose
Die Diagnose der Huntington-Krankheit basiert auf verschiedenen Säulen:
- Anamnese: Erhebung der Krankengeschichte und der Familiengeschichte (gibt es weitere Fälle von Huntington-Krankheit in der Familie?).
- Klinische Untersuchung: Neurologische Untersuchung zur Feststellung der typischen motorischen, kognitiven und psychiatrischen Symptome.
- Molekulargenetische Untersuchung: Bluttest zur Bestimmung der Anzahl der CAG-Wiederholungen im Huntingtin-Gen. Dieser Test ermöglicht eine sichere Diagnose der Huntington-Krankheit.
- Bildgebung: Magnetresonanztomographie (MRT) des Gehirns, um Veränderungen in bestimmten Hirnregionen (z. B. Atrophie des Nucleus caudatus) festzustellen und andere Ursachen für die Symptome auszuschließen.
Prädiktive Diagnostik
Auch gesunde, erwachsene Familienangehörige von Huntington-Patienten können sich auf das Vorliegen der Genmutation testen lassen (prädiktive Diagnostik). Da eine solche Testung erhebliche psychische und soziale Auswirkungen haben kann, sind in Deutschland strenge Richtlinien zu beachten. Vor der Testung ist eine umfassende genetische Beratung erforderlich.
Therapie
Bisher gibt es keine Heilung für die Huntington-Krankheit. Die Behandlung zielt darauf ab, die Symptome zu lindern und die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern.
Medikamentöse Therapie
- Hyperkinesien: Medikamente, die die unwillkürlichen Bewegungen reduzieren (z. B. Tiaprid, Tetrabenazin, Antipsychotika).
- Dystonie: Medikamente zur Muskelentspannung (z. B. Baclofen, Tizanidin).
- Bradykinese und Rigidität: Medikamente, die bei Parkinson-Patienten eingesetzt werden (z. B. L-Dopa, Dopaminagonisten).
- Depressionen: Antidepressiva (z. B. SSRI, Venlafaxin).
- Psychosen: Antipsychotika.
- Kognitive Störungen: Bisher keine spezifischen Medikamente zur Behandlung kognitiver Störungen bei Huntington-Patienten.
Nicht-medikamentöse Therapie
- Physiotherapie: Regelmäßiges körperliches Training zur Verbesserung der Beweglichkeit, Koordination und Kraft.
- Ergotherapie: Hilfsmittel und Anpassung des Wohnumfelds, um die Selbstständigkeit im Alltag zu erhalten.
- Logopädie: Behandlung von Sprach- und Schluckstörungen.
- Psychotherapie: Unterstützung bei der Krankheitsverarbeitung und Bewältigung psychischer Probleme.
- Ernährungsberatung: Hochkalorische Ernährung, um Gewichtsverlust entgegenzuwirken. Bei Schluckbeschwerden kann eine Magensonde (PEG) erforderlich sein.
Stammzelltransplantation und tiefe Hirnstimulation
In experimentellen Studien werden derzeit auch neue Therapieansätze wie die Transplantation von Stammzellen ins Gehirn und die tiefe Hirnstimulation untersucht. Diese Verfahren sind jedoch noch nichtStandardtherapien.
Psychosoziale Maßnahmen
Psychologische und psychosoziale Maßnahmen sind ein wichtiger Bestandteil der Behandlung der Huntington-Krankheit. Dazu gehören die Unterstützung der Patienten und ihrer Angehörigen durch Psychologen, Sozialarbeiter und Selbsthilfegruppen.
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Verlauf und Prognose
Die Huntington-Krankheit ist eine fortschreitende Erkrankung, die in der Regel über einen Zeitraum von 10 bis 20 Jahren verläuft. Die Geschwindigkeit des Fortschreitens ist jedoch von Patient zu Patient unterschiedlich. Im Endstadium der Krankheit sind die Betroffenen auf umfassende Hilfe und Pflege angewiesen. Die meisten Patienten versterben an den Folgen der Erkrankung, z. B. an einer Lungenentzündung oder anderen Komplikationen.
Häufigkeit
Die Huntington-Krankheit ist eine seltene Erkrankung. In Europa sind etwa 6 bis 12 von 100.000 Einwohnern betroffen. In Deutschland rechnet man mit rund 10.000 Betroffenen und weiteren 50.000 Menschen, die das Risiko tragen, die Krankheitsanlage geerbt zu haben.
Forschung
Die Forschung zur Huntington-Krankheit hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Wissenschaftler arbeiten intensiv daran, die Ursachen und Mechanismen der Krankheit besser zu verstehen und neue Therapieansätze zu entwickeln. Ein vielversprechender Ansatz ist die Entwicklung von Medikamenten, die die Produktion des mutierten Huntingtin-Proteins reduzieren oder dessen schädliche Wirkung im Gehirn verhindern sollen.
Europäisches Huntington-Netzwerk (EHDN)
Das Europäische Huntington-Netzwerk (EHDN) ist ein Zusammenschluss von Ärzten, Wissenschaftlern, Therapeuten, Patienten und Angehörigen, die sich der Erforschung und Behandlung der Huntington-Krankheit widmen. Das EHDN fördert die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Zentren in Europa und unterstützt die Entwicklung neuer Therapien.
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