Polyneuropathien (PNP) sind generalisierte Erkrankungen des peripheren Nervensystems, die vielfältige Ursachen haben können. Dieser Artikel beleuchtet die Ursachen, Diagnose und Therapieoptionen der sensiblen Ataxie Polyneuropathie, wobei besonderes Augenmerk auf die Besonderheiten im höheren Lebensalter gelegt wird.
Einführung in die Polyneuropathie
Die Polyneuropathie ist Teil eines Spektrums neurologischer Erkrankungen, die die Integrität und Funktion der peripheren Nerven beeinträchtigen. Chronische Komplikationen bei Diabetes mellitus und chronischer Alkoholkonsum sind für fast 50 % aller Polyneuropathien verantwortlich. Die meisten Fälle sind wahrscheinlich multifaktoriell. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie hat die S1-Leitlinie zu Polyneuropathien auf den neuesten Stand gebracht.
Ursachen der Polyneuropathie
Polyneuropathien können verschiedene Ursachen haben, die sich grob in folgende Kategorien einteilen lassen:
- Metabolische Ursachen: Diabetes mellitus (diabetische Polyneuropathie) ist die häufigste Ursache. Ein dauerhaft erhöhter Blutzucker greift die Nervenzellen an und schädigt diese mit der Zeit unwiderruflich. Experten vermuten, dass ein dauerhaft hoher Blutzuckerspiegel die winzigen Blutgefäße im Körper (Mikroangiopathie) negativ beeinflusst. Das kann in einer verschlechterten Durchblutung münden, sodass betroffene Nerven nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt werden. Auch Urämie, Hypothyreose, Hyperlipidämie, Akromegalie, Gicht und Hepatopathien können Polyneuropathien verursachen.
- Toxische Ursachen: Chronischer Alkoholmissbrauch (alkoholische Polyneuropathie) ist eine weitere häufige Ursache. Bestimmte Alkoholabbauprodukte (u.a. Ethanal) schädigen die Nerven direkt. Alkoholismus ist oft mit Mangelernährung verbunden, was zu einem Mangel an Vitamin B12 führen kann, der Nervenstörungen zusätzlich begünstigt. Auch Medikamente, Schwermetalle und chemische Lösungsmittel können toxische Polyneuropathien verursachen. Bei der Verordnung von Fluorchinolonen sollte insbesondere bei Patienten über 60 Jahre an Polyneuropathien als Nebenwirkung gedacht werden. Chemotherapeutika können Polyneuropathie, kardiovaskuläre Erkrankungen und Infertilität hervorrufen.
- Infektiöse Ursachen: Verschiedene Infektionen können Polyneuropathien auslösen, darunter Borreliose, Lepra und HIV. Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS) ist eine immunvermittelte Polyneuropathie, die nach einer Campylobacter-jejuni-Infektion auftreten kann.
- Genetische Ursachen: Hereditäre Neuropathien sind eine Gruppe klinisch und genetisch heterogener Erkrankungen des peripheren Nerven. Die Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung (CMT), auch hereditäre motorische und sensorische Neuropathie (HMSN) genannt, ist die häufigste Form der hereditären Neuropathien mit einer Prävalenz von ca. 1:2.500. In Abgrenzung zur CMT sind die rein motorischen und rein sensiblen Neuropathien zu sehen, u.a. die hereditären distal motorischen Neuropathien (dHMN) und hereditären sensiblen Neuropathien (HSN) oder mit (autonomer Beteiligung) HSAN. Eine Sonderform ist die HNPP (hereditäre Neuropathie mit Neigung zu Druckparesen). Seit Beschreibung des ersten Neuropathie-Gens 1991 für die am häufigsten vorkommende CMT1A (PMP22-Gen) sind mittlerweile mehr als 130 Gene bekannt, die mit einer Neuropathie assoziiert sein können. Heutzutage stehen Multi-Gen-Panel und Exom-Sequenzierung zur Verfügung, sehr hilfreich für die endgültige Diagnosestellung. Nur Personen mit molekulargenetisch gesicherter Neuropathie werden an künftigen Therapie-Studien teilnehmen können. Weitere angeborene oder vererbte Polyneuropathien sind beispielsweise das Charcot-Marie-Tooth-Syndrom, die Friedreich-Ataxie oder das Louis-Bar-Syndrom.
- Mangelernährung: Ein Mangel an Vitamin B12 kann ebenfalls eine Polyneuropathie verursachen. Wasserlösliche Vitamine und deren Mangelerscheinungen durch Malnutrition.
- Weitere Ursachen: Maligne Erkrankungen (paraneoplastisch), Nierenerkrankungen, Lebererkrankungen, Störungen der Schilddrüsenfunktion (Unter- und Überfunktion), Gicht, Gifte (wie Arsen, Blei) und chemische Lösungsmittel können ebenfalls Polyneuropathien verursachen. Auch Stress kann bei der Bildung einer Polyneuropathie eine gewisse Rolle spielen.
Polyneuropathie im Alter
Die Inzidenz von PNP beträgt in den Niederlanden bei Personen über 18 Jahre 77/100.000, nimmt aber mit dem Alter deutlich zu: Von ~60/100.000 bei 50- bis 54-Jährigen auf ~300/100.000 bei 75- bis 79-Jährigen. Eine große Metaanalyse ergab eine Prävalenz von 1 % für die Gesamtbevölkerung, die auf 3 % bei >55-Jährigen und auf 7 % in der älteren Population steigt. Eine Besonderheit des Alters ist der hohe Anteil an Neuropathien ohne eindeutige Ursache, man spricht von kryptogenen oder chronischen idiopathischen Neuropathien. Angesichts der Polypharmazie im Alter sollten medikamenteninduzierte PNP nicht übersehen werden. Die altersassoziierten Veränderungen des PNS können auch bei gesunden alten Menschen zu Symptomen und Zeichen führen, die denen einer Neuropathie entsprechen.
Symptome der Polyneuropathie
Die Symptome einer Polyneuropathie können vielfältig sein und hängen von den betroffenen Nervenfasern ab. Man unterscheidet:
Lesen Sie auch: Überblick über sensible Bahnen des Rückenmarks
- Sensible Polyneuropathie: Betrifft vor allem die sensiblen Nervenfasern, die für die Wahrnehmung von Berührung, Schmerz, Temperatur und Vibration zuständig sind. Typische Symptome sind Kribbeln, Taubheitsgefühl, brennende Schmerzen, Verlust des Vibrationsempfindens und Ataxie (Gleichgewichtsstörungen). Am häufigsten ist die distal symmetrische Polyneuropathie mit vorwiegend sensibler Symptomatik, die an den Beinen beginnt und durch eine längenabhängige Schädigung des Axons bedingt ist.
- Motorische Polyneuropathie: Betrifft vor allem die motorischen Nervenfasern, die für die Steuerung der Muskeln zuständig sind. Typische Symptome sind Muskelschwäche, Muskelkrämpfe und Muskelschwund (Atrophie), vor allem Fuß-/Zehenheber.
- Sensomotorische Polyneuropathie: Betrifft sowohl sensible als auch motorische Nervenfasern.
- Autonome Polyneuropathie: Betrifft die autonomen Nervenfasern, die für die Steuerung unwillkürlicher Körperfunktionen wie Herzfrequenz, Blutdruck, Verdauung und Blasenfunktion zuständig sind. Typische Symptome sind Störungen beim Stuhlgang oder beim Wasserlassen, erektile Dysfunktion, vermindertes Schwitzen an den Extremitäten und Synkopen. Bei einem Teil der MSA-Patienten beginnt die Erkrankung mit autonomen Störungen, wie Drangsymptomatik der Blase oder erektiler Dysfunktion.
Verteilungsmuster
Die Symptome können sich unterschiedlich verteilen:
- Distal: Betrifft vor allem die Füße und Hände.
- Proximal: Betrifft vor allem die Oberschenkel und Arme.
- Symmetrisch: Betrifft beide Körperseiten gleichmäßig.
- Asymmetrisch: Betrifft beide Körperseiten unterschiedlich.
Verlauf
Der Verlauf einer Polyneuropathie kann unterschiedlich sein:
- Akut: Tritt plötzlich auf (innerhalb von ≤ 4 Wochen), z.B. beim Guillain-Barré-Syndrom (GBS).
- Subakut: Entwickelt sich innerhalb von 4-8 Wochen.
- Chronisch: Entwickelt sich über einen längeren Zeitraum (> 8 Wochen).
Diagnose der Polyneuropathie
Mit einem systematischen Zugang kann bei Polyneuropathie (PNP) in etwa 60-80 % der Fälle eine spezifische Diagnose gestellt werden. Die Diagnose einer Polyneuropathie basiert auf:
- Anamnese: Erhebung der Krankengeschichte, einschließlich Fragen nach:
- Sportlichen Fähigkeiten als Kind
- Problemen beim Schuhkauf (hereditäre PNP?)
- Häufigem Stolpern (distale Schwäche?)
- Schwierigkeiten beim Aufstehen aus tiefen Sesseln, aus der Hocke und beim Treppensteigen (proximale Schwäche?)
- Grunderkrankungen, die eine Neuropathie bedingen können (Diabetes, Nierenerkrankungen, Kollagenose, maligne Erkrankungen, Knochen- und Gelenksschmerzen etc.)
- Operationen (Laminektomie etc.)
- Medikamenten, Drogen, Toxinen (insbesondere Alkoholmissbrauch)
- Autonomen Störungen und Anzeichen für Systemerkrankungen (z.B. Sicca-Syndrom, vermindertes Schwitzen an den Extremitäten, Störungen beim Stuhlgang oder beim Wasserlassen, erektile Dysfunktion, Gelenkschmerzen, Hautveränderungen, Synkopen)
- Neurologische Untersuchung:
- Reflexe (Abschwächung/Ausfall von Muskeleigenreflexen, insbesondere Achillessehnenreflex)
- Motorik (schlaffe, atrophische Paresen, vor allem Fuß-/Zehenheber)
- Sensibilitätsstörungen
- Laboruntersuchungen: Dienen in erster Linie dem Nachweis behandelbarer Ursachen der PNP. Schwere neurologische Auffälligkeiten, dazu niedrige Vitamin-B12-Spiegel und/oder erhöhte Homocystein- bzw.
- Neurophysiologische Untersuchungen: Dienen vor allem dazu, das Vorhandensein einer generalisierten Schädigung des PNS nachzuweisen und den Verteilungstyp zu bestimmen (symmetrische/asymmetrische PNP, Schwerpunktneuropathie). Darüber hinaus lässt sich eine subklinische Mitbeteiligung des sensiblen Systems bei motorischer Neuropathie (und umgekehrt) erkennen. Eine Unterscheidung zwischen Polyneuropathien mit einer Axonschädigung (axonale PNP) oder mit einer Myelinschädigung („demyelinisierende" PNP) wird ebenfalls angestrebt, kann jedoch u. U. nur eingeschränkt möglich sein, da bei Ausfall großer, schneller Fasern eine deutliche Herabsetzung der Nervenleitgeschwindigkeit möglich ist, was eine „demyelinisierende" PNP vortäuschen kann. Zu den neurophysiologischen Untersuchungen gehören:
- Elektromyographie
- Neurographie (sensibel und motorisch)
- Nervenbiopsie: Ist dann indiziert, wenn bei schwerer oder progredienter PNP die Diagnose mit weniger invasiven Mitteln nicht gestellt werden kann und sich aus der Diagnose eine Behandlungskonsequenz für den Patienten ergibt (z.B. Immunsuppression bei vaskulitischer PNP oder Lebertransplantation bei Amyloidneuropathie). In der Regel wird der N. suralis biopsiert.
- Bildgebende Verfahren: Können notwendig sein, um andere Ursachen für die Beschwerden auszuschließen, z.B. Bandscheibenvorfälle oder Tumoren.
- Molekulargenetische Untersuchungen: Bei Verdacht auf hereditäre Neuropathien. Die Familienanamnese bei hereditären Neuropathien kann leer sein, u.a. bei Spontanmutationen (de-novo-Mutationen) oder bei autosomal-rezessivem Vererbungsmodus. Die ersten Symptome müssen nicht in der Kindheit und in der Jugend auftreten. Neuropathien mit „late onset“, d.h. Symptombeginn im mittleren bis späteren Lebensalter sind bekannt.
Differenzialdiagnosen
Zu den Differenzialdiagnosen gehören:
- Restless-Legs-Syndrom
- Engpass-Syndrome (z.B. Karpaltunnelsyndrom)
- Lumbosakrale Radikuloplexusneuropathie (LRPN)
- Multiple Sklerose (MS)
- Andere neurologische Erkrankungen
Diagnose im Alter
All dies muss bei der Diagnose einer sensiblen Neuropathie im Alter bedacht werden. Elektrophysiologische Untersuchungen werden vor allem zur pathophysiologischen Beurteilung von Neuropathien, aber auch zu deren Objektivierung eingesetzt. Es hat sich jedoch gezeigt, dass sich die meisten Parameter der Elektroneurographie mit dem Alter verändern, vor allem nehmen die Amplituden der sensiblen, aber auch der motorischen Potenziale ab.
Lesen Sie auch: Was ist sensible Polyneuropathie?
Therapie der Polyneuropathie
Die Therapie der Polyneuropathie richtet sich nach der zugrundeliegenden Grunderkrankung. Dazu gehören z.B. eine strikte Blutzuckereinstellung bei Diabetes mellitus, Alkoholkarenz bei alkoholischer Polyneuropathie oder die Behandlung von Infektionen. Da es keine endgültige Heilung gibt, konzentriert sich die Therapie auf eine engmaschige Überwachung und Aufrechterhaltung des Blutzuckerspiegels.
Symptomatische Therapie
Zusätzlich zur Behandlung der Ursache können die Symptome der Polyneuropathie behandelt werden:
- Neuropathische Schmerzen: Bei neuropathischen Schmerzen aufgrund einer PNP werden zur symptomatischen Therapie folgende Substanzen empfohlen:
- Antikonvulsiva mit Wirkungen auf neuronale Kalziumkanäle (Gabapentin, Pregabalin)
- Tri- oder tetrazyklische Antidepressiva
- SSNRI (z.B. Duloxetin)
- Opioide Morphin-Agonist-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (MOR-NRI, z.B. Tapentadol)
- Alpha-Liponsäure (evtl. in Einzelfällen bei schmerzhafter diabetischer Polyneuropathie)
- Capsicain-Pflaster (evtl bei HIV-assoziierter schmerzhafter Polyneuropathie)
- Weitere Antikonvulsiva möglich (z.B. Infusionstherapien unter Überwachung (d.h. stationär) mit Carbamazepin oder Valproinsäure)
- Nicht-Medikamentöse Therapien:
- Transkutane Nervenstimulation (TENS) bei Schmerzen
- Physiotherapie (Stärkung der Muskulatur, Kompensation pathologischer Bewegungsabläufe)
- Ergotherapie
- Elektrobehandlung gelähmter Muskeln
- Physikalische Therapie (Wechsel- und Bewegungsbäder, warme und kalte Wickel)
- Psychotherapie (v.a. bei chronischen Schmerzen)
- Physiotherapie mit integrierter Gangschulung und Gleichgewichtstraining einsetzbar.
- Hilfsmittelversorgung und -optimierung sind fester Bestandteil in der Versorgung von Patienten mit Neuropathien, um die Mobilität, Selbstständigkeit in Alltag und Beruf zu unterstützen und zu erhalten.
Therapie im Alter
Neben der Behandlung der Grunderkrankung erweist sich im Alter die Behandlung des neuropathischen Schmerzes oft als komplex und herausfordernd, Studiendaten für alte Patienten stehen kaum zur Verfügung. Dabei sind alte Menschen deutlich vulnerabler als junge, da sie häufig von Multimorbidität, Mangelernährung, Sarkopenie und Gebrechlichkeit („frailty“) betroffen sind. Organinsuffizienzen und Multimedikation tragen zu einem höheren Risiko für unerwünschte Arzneimittelwirkungen bei. Eine eingeschränkte Nierenfunktion spielt eine besondere Rolle in der Therapie mit Gabapentin und Pregabalin, wo eine entsprechende Erniedrigung der maximalen Tagesdosis zu beachten ist. Trizyklische Antidepressiva sind im Alter aufgrund ihres anticholinergen Nebenwirkungsprofils nur mit äußerster Zurückhaltung und in niedrigen Dosierungen einzusetzen. Bei der Therapie mit Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern (Duloxetin, Venlafaxin) und selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmern (Citalopram, Paroxetin) ist das besonders bei Frauen erhöhte Risiko einer Hyponatriämie zu erwähnen, bei Multimedikation ist auch die QT-Zeit zu kontrollieren. Bei Opiattherapie ist ein erhöhtes Nebenwirkungsrisiko seitens des zentralen Nervensystems gegeben, Verschlechterungen der kognitiven Funktionen bis hin zum Delir sind möglich. Daneben ist die Prophylaxe einer Obstipation zu gewährleisten.
Hereditäre Neuropathien
Bis dato sind für die hereditären Neuropathien noch keine medikamentösen Therapien bekannt. Eine Ausnahme ist die Neuropathie bei der hereditären ATTR-Amyloidose. Seit 2011 steht ein Molekülstabilisator (Tafamidis) zur Verfügung und seit 2018 Gene-Silencing-Therapien. Bei schmerzhafter Neuropathie kommen verschiedene Substanzen zum Einsatz: u.a. Pregabalin, Gabapentin, Amitryptilin, Duloxetin, Tramadol… Supportiv stehen für die CMT-Neuropathien Physio- und Ergotherapie zur Verfügung, die regelmäßig und fortlaufend erfolgen sollten. Dies dient der Vermeidung sekundärer Komplikationen wie Muskel- und/oder Sehnenverkürzungen und daraus folgender Gelenkkontrakturen und Schmerzen.
Lesen Sie auch: Diagnose der hereditären sensiblen Neuropathie
tags: #sensible #Ataxie #Polyneuropathie #Ursachen #Diagnose #Therapie