Sexuelle Verhaltensstörungen bei Demenz: Ursachen, Behandlung und Umgang

Einführung

Sexuelle Verhaltensstörungen bei Demenz sind ein komplexes und oft belastendes Thema. Demenz verändert das Leben der Betroffenen und kann sich auch auf ihr sexuelles Verhalten auswirken. Dieser Artikel beleuchtet die Ursachen, Behandlungsmöglichkeiten und den Umgang mit diesen Verhaltensstörungen.

Was sind sexuelle Verhaltensstörungen bei Demenz?

Sexuelle Verhaltensstörungen sind eine Form von Verhaltensauffälligkeiten (BPSD - Behavioural and Psychological Symptoms of Dementia), die im Zusammenhang mit Demenz auftreten können. Sie umfassen ein breites Spektrum an Verhaltensweisen, die von gesteigertem sexuellem Interesse und unangemessenen sexuellen Annäherungsversuchen bis hin zu Enthemmung und Exhibitionismus reichen können.

Beispiele für sexuelle Verhaltensstörungen bei Demenz:

  • Auffällig häufige Berührung des Genitalbereichs
  • Sexuell anzügliche Bemerkungen oder Witze
  • Versuche, andere zu berühren oder zu küssen, ohne deren Zustimmung
  • Öffentliche Masturbation
  • Entkleiden in der Öffentlichkeit

Es ist wichtig zu betonen, dass diese Verhaltensweisen Symptome der Demenz sind und nicht auf böswillige Absicht zurückzuführen sind.

Ursachen sexueller Verhaltensstörungen bei Demenz

Die Ursachen für sexuelle Verhaltensstörungen bei Demenz sind vielfältig und komplex. Sie lassen sich grob in folgende Kategorien einteilen:

1. Hirnorganische Ursachen

  • Dysfunktion in verschiedenen Hirnbereichen: Schädigungen in bestimmten Hirnregionen, die für die Steuerung von Gefühlen, Verhalten und sexuellen Fantasien zuständig sind, können zu Enthemmung und unangemessenem Verhalten führen. Besonders betroffen sind häufig der Frontal- und Temporallappen.
  • Neurotransmitter-Ungleichgewicht: Veränderungen im cholinergen und serotonergen System können ebenfalls eine Rolle spielen. Ein Mangel an Acetylcholin und eine verminderte Cholinacetyltransferase-Aktivität können zu nichtkognitiven Symptomen wie Enthemmung beitragen.
  • Demenzformen: Sexuelle Enthemmung tritt häufiger im Zusammenhang mit vaskulärer, frontotemporaler, Parkinson- oder Lewy-Body-Demenz auf als bei Alzheimer-Demenz.

2. Psychologische Ursachen

  • Vergessen von Konventionen: Demenzkranke vergessen oft erlernte soziale Normen und Konventionen bezüglich des Auslebens der Sexualität.
  • Werteverlust: Werte und Normen verlieren für Demenzkranke an Bedeutung, was zu unangemessenem Verhalten führen kann.
  • Mangelnde Impulskontrolle: Mit zunehmender Demenz lassen sich Betroffene stärker von ihren Gefühlen leiten und folgen jedem Impuls sofort, ohne zu hinterfragen, ob dies angemessen ist.
  • Situationsverkennung: Demenzkranke können Situationen falsch interpretieren und beispielsweise eine Pflegesituation als sexuelle Aufforderung missverstehen.

3. Somatische Ursachen

  • Körperliche Beschwerden: Blasenentzündungen oder Pilzbefall im Genitalbereich können zu auffälligem Berühren des Genitalbereichs führen.
  • Schmerzen: Unerkannte Schmerzen können zu allgemeiner Unruhe und Reizbarkeit führen, die sich auch in sexuell unangemessenem Verhalten äußern können.

4. Umweltfaktoren

  • Reizüberflutung: Zu viel Lärm oder eine hektische Umgebung können Demenzkranke überfordern und zu aggressivem oder enthemmtem Verhalten führen.
  • Defizitorientierter Umgang: Eine kontinuierliche Konfrontation mit den Defiziten des Erkrankten kann zu Frustration und Aggression führen.

Diagnostik

Eine umfassende Diagnostik ist entscheidend, um die Ursachen für sexuelle Verhaltensstörungen bei Demenz zu identifizieren und eine geeignete Behandlung einzuleiten. Sie umfasst in der Regel:

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  • Anamnese: Erhebung der Krankengeschichte und des aktuellen Verhaltens durch Gespräche mit dem Patienten, Angehörigen und Pflegekräften.
  • Körperliche Untersuchung: Ausschluss somatischer Ursachen wie Infektionen oder Schmerzen.
  • Neurologische Untersuchung: Beurteilung der kognitiven Funktionen und des neurologischen Status.
  • Psychiatrische Untersuchung: Beurteilung des psychischen Zustands und Ausschluss anderer psychischer Erkrankungen.
  • Verhaltensbeobachtung: Beobachtung des Verhaltens des Patienten in verschiedenen Situationen.
  • Einsatz von Skalen: Verwendung von standardisierten Skalen zur Beurteilung des Schweregrads der Verhaltensstörungen, wie z.B. das Neuropsychiatrische Inventar (NPI) oder das Cohen-Mansfield Agitation Inventory (CMAI).

Behandlung sexueller Verhaltensstörungen bei Demenz

Die Behandlung sexueller Verhaltensstörungen bei Demenz erfordert einen umfassenden und individuellen Ansatz, der sowohl nicht-medikamentöse als auch medikamentöse Maßnahmen umfasst.

1. Nicht-medikamentöse Maßnahmen

Nicht-medikamentöse Maßnahmen sollten immer die erste Wahl sein, da sie oft wirksam sind und weniger Nebenwirkungen haben als Medikamente.

  • Psychoedukation: Aufklärung aller Beteiligten (Angehörige, Pflegekräfte) über die Ursachen und den Umgang mit sexuellen Verhaltensstörungen bei Demenz.
  • Umfeldanpassung: Reduzierung von Stressfaktoren und Reizüberflutung. Schaffung einer ruhigen und sicheren Umgebung.
  • Kommunikation: Klare und einfache Kommunikation mit dem Patienten. Vermeidung von Missverständnissen.
  • Ablenkung: Versuch, den Patienten abzulenken, wenn er unangemessenes Verhalten zeigt.
  • Beschäftigung: Angebot von altersgerechten und interessanten Aktivitäten, um Langeweile und Unruhe zu vermeiden.
  • Validation: Akzeptanz der Gefühle des Patienten, auch wenn sie irrational erscheinen.
  • Beziehungsgestaltung: Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zum Patienten.
  • Schmerzmanagement: Behandlung von Schmerzen, um Unruhe und Aggressivität zu reduzieren.
  • Ernährung: Sicherstellung einer ausgewogenen Ernährung und ausreichender Flüssigkeitszufuhr.
  • Regelmäßiger Tagesablauf: Strukturierung des Tagesablaufs mit festen Zeiten für Mahlzeiten, Aktivitäten und Ruhephasen.
  • Sexualberatung: Beratung von Angehörigen und Pflegekräften durch einen Sexualtherapeuten oder -berater.

2. Medikamentöse Maßnahmen

Medikamente sollten nur dann eingesetzt werden, wenn nicht-medikamentöse Maßnahmen nicht ausreichend wirksam sind oder wenn eine akute Gefährdungssituation vorliegt.

  • Antidementiva: Acetylcholinesterase-Inhibitoren wie Galantamin, Donepezil und Rivastigmin können in einigen Fällen nichtkognitive Symptome wie Enthemmung reduzieren.
  • Antidepressiva: Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) können bei Depressionen und Angstzuständen hilfreich sein, die mit sexuellen Verhaltensstörungen einhergehen können.
  • Neuroleptika: Atypische Neuroleptika wie Risperidon, Olanzapin und Quetiapin können bei schweren Verhaltensstörungen wie Aggressivität und psychotischen Symptomen eingesetzt werden. Allerdings sollten sie aufgrund ihres Nebenwirkungsprofils nur kurzfristig und in niedriger Dosierung verwendet werden.
  • Antiandrogene: In einigen Fällen können Antiandrogene zur Reduzierung des sexuellen Triebs eingesetzt werden.
  • Stimmungsstabilisierer: Carbamazepin kann bei agitiertem und aggressivem Verhalten wirksam sein.

Es ist wichtig, die medikamentöse Behandlung sorgfältig zu überwachen und die Dosis bei Bedarf anzupassen.

Umgang mit sexuellen Verhaltensstörungen bei Demenz

Der Umgang mit sexuellen Verhaltensstörungen bei Demenz kann für Angehörige und Pflegekräfte sehr belastend sein. Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass das Verhalten des Patienten krankheitsbedingt ist und nicht auf böswillige Absicht zurückzuführen ist.

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1. Schutz der Betroffenen

Sexuelle Übergriffe sind eine Form von Gewalt, auch wenn der Demenzkranke nichts dafür kann. Pflegekräfte haben das Recht, sich davor zu schützen.

2. Klare Grenzen setzen

Demenzkranke können sich Grenzen nur merken, wenn diese häufig wiederholt werden. Es ist wichtig, im Team auf ein einheitliches Handeln zu einigen.

3. Respekt bewahren

Auch wenn es schwerfällt, sollte man dem Patienten weiterhin Respekt entgegenbringen und bedenken, dass sein Verhalten nichts mit seiner eigentlichen Persönlichkeit zu tun hat.

4. Unterstützung suchen

Angehörige und Pflegekräfte sollten sich nicht scheuen, professionelle Hilfe und Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Es gibt zahlreiche Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen, die Unterstützung und Informationen anbieten.

5. Rechtliche Aspekte

In bestimmten Fällen können rechtliche Aspekte relevant werden, insbesondere wenn der Patient sexuell übergriffig wird. Es ist ratsam, sich in solchen Fällen rechtlich beraten zu lassen.

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