Sexuelle Enthemmung nach Schlaganfall: Ursachen, Auswirkungen und Therapieansätze

Ein Schlaganfall kann das Leben eines Menschen grundlegend verändern. Neben körperlichen Einschränkungen wie Lähmungen oder Sprachstörungen können auch Veränderungen im Verhalten und der Persönlichkeit auftreten. Eine solche Veränderung ist die sexuelle Enthemmung, die für Betroffene und deren Angehörige eine große Herausforderung darstellen kann. Dieser Artikel beleuchtet die Ursachen, Auswirkungen und Therapiemöglichkeiten dieser komplexen Problematik.

Ursachen sexueller Enthemmung nach Schlaganfall

Sexuelle Enthemmung nach einem Schlaganfall kann verschiedene Ursachen haben, die oft ineinandergreifen:

  • Direkte Hirnschädigung: Ein Schlaganfall kann direkt Hirnareale schädigen, die für die Steuerung von Verhalten, Impulskontrolle und sozialen Kognitionen verantwortlich sind. Besonders betroffen sind hierbei der frontale und temporale Kortex, der Hypothalamus und die Amygdala. Schädigungen in diesen Bereichen können zu einer verminderten Fähigkeit führen, sexuelle Impulse zu kontrollieren und soziale Normen einzuhalten.
  • Neurobiologische Veränderungen: Studien haben gezeigt, dass Veränderungen in der Aktivität bestimmter Hirnregionen, wie z.B. des orbitofrontalen Kortex und des anterioren zingulären Kortex, mit sexueller Enthemmung in Verbindung stehen können. Diese Areale spielen eine wichtige Rolle bei der Bewertung von Reizen, der motivationalen Hinwendung und Verhaltensausrichtung sowie der hedonistischen Bewertung von Sexualität.
  • Veränderungen in der Impulskontrolle: Demenzkranke Menschen lassen sich mit zunehmender Demenz immer stärker vom Gefühl leiten. Sie folgen daher jedem Impuls sofort, ohne sich zu fragen, ob dies angemessen ist. Wenn etwa ein demenziell veränderter Pflegekunde durch die körperliche Nähe einer weiblichen Pflegekraft erregt wird, folgt er diesem Reiz sofort.
  • Medikamente: Einige Medikamente, die nach einem Schlaganfall eingesetzt werden, wie z.B. Antidepressiva (insbesondere SSRI), Antiepileptika, Schmerzmittel (insbesondere Opiate) und Antihypertensiva, können sexuelle Funktionsstörungen verursachen oder verstärken. Sie können den Sexualtrieb vermindern, die genitale Empfindlichkeit beeinträchtigen sowie Erektions- und Ejakulationsschwierigkeiten verursachen.
  • Psychische Faktoren: Depressionen, Angststörungen und Veränderungen im Körperbild, die häufig nach einem Schlaganfall auftreten, können ebenfalls zu sexuellen Problemen beitragen. Betroffene fühlen sich möglicherweise weniger attraktiv oder haben aufgrund ihrer körperlichen Einschränkungen Schwierigkeiten, sexuelle Aktivitäten auszuüben.
  • Vergessen von Konventionen: Konventionen in Bezug auf das Ausleben der Sexualität sind erlernt und Ihr demenziell veränderter Pflegekunde vergisst sie schlichtweg.
  • Werteverlust: Werte und Normen haben für demenzerkrankte Personen keine direkte Bedeutung mehr. Daher können sie auch nicht mehr danach handeln.
  • Situationsverkennung: Während der Körperpflege entsteht eine Nähe, die sonst nur in intimen Beziehungen vorkommt. Sie berühren Ihre Pflegekunden an Stellen, die sonst nur der Partner berühren darf. Pflegekraft und demenzerkrankter Pflegekunde spielen in diesem Fall sozusagen in unterschiedlichen Theaterstücken. Die Pflegekraft sieht eine pflegebedürftige Person vor sich, die Hilfe benötigt. Ihr demenziell veränderter Pflegekunde hingegen empfindet sich als jung und leistungsfähig. Entsprechend versteht er die Pflegehandlung als sexuelle Aufforderung.

Formen sexueller Enthemmung

Sexuelle Enthemmung kann sich in verschiedenen Formen äußern:

  • Enthemmtes sexuelles Verhalten: Dies kann sich in unangemessenen sexuellen Äußerungen, Berührungen oder Annäherungsversuchen äußern.
  • Hypersexualität: Ein gesteigerter Sexualtrieb und eine erhöhte sexuelle Aktivität können auftreten.
  • Paraphilien: In seltenen Fällen können sich paraphile Neigungen entwickeln oder verstärken.
  • Sexuelle Aggressivität: In einigen Fällen kann es zu sexuellen Übergriffen kommen.

Auswirkungen sexueller Enthemmung

Sexuelle Enthemmung nach einem Schlaganfall kann weitreichende Auswirkungen haben:

  • Belastung für Betroffene: Betroffene schämen sich oft für ihr Verhalten und leiden unter sozialer Isolation.
  • Belastung für Angehörige: Angehörige sind oft überfordert und hilflos im Umgang mit dem veränderten Verhalten des Partners oder Elternteils.
  • Probleme in der Partnerschaft: Sexuelle Enthemmung kann zu Konflikten und Spannungen in der Partnerschaft führen.
  • Ethische und rechtliche Fragen: Sexuelle Übergriffe stellen ethische und rechtliche Probleme dar, insbesondere wenn die betroffene Person nicht mehr in der Lage ist, ihre Handlungen zu kontrollieren.
  • Herausforderungen in der Pflege: In Pflegeeinrichtungen kann sexuelle Enthemmung zu schwierigen Situationen führen, insbesondere wenn Pflegekräfte sexuell belästigt werden.

Diagnostik

Um die Ursachen sexueller Enthemmung zu ermitteln und eine geeignete Therapie zu planen, ist eine umfassende Diagnostik erforderlich:

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  • Anamnese: Eine detaillierte Anamnese, die auch die sexuelle Vorgeschichte und das aktuelle sexuelle Verhalten umfasst, ist wichtig. Angehörige können hier wertvolle Informationen liefern.
  • Neurologische Untersuchung: Eine neurologische Untersuchung dient dazu, die Art und das Ausmaß der Hirnschädigung zu beurteilen.
  • Neuropsychologische Tests: Neuropsychologische Tests können Aufschluss über kognitive Defizite und Verhaltensauffälligkeiten geben.
  • Bildgebende Verfahren: Mittels Magnetresonanztomographie (MRT) oder Computertomographie (CT) können strukturelle Veränderungen im Gehirn sichtbar gemacht werden.
  • Psychiatrische Untersuchung: Eine psychiatrische Untersuchung dient dazu, psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen zu erkennen.
  • Hormonelle Untersuchung: In einigen Fällen kann eine hormonelle Untersuchung sinnvoll sein, um hormonelle Ursachen auszuschließen.

Therapieansätze

Die Therapie sexueller Enthemmung nach einem Schlaganfall ist komplex und erfordert einen multidisziplinären Ansatz. Im Folgenden werden einige Therapieansätze vorgestellt:

  • Medikamentöse Therapie: Medikamente können eingesetzt werden, um den Sexualtrieb zu reduzieren oder psychische Begleiterkrankungen zu behandeln. Antidepressiva (insbesondere SSRI) können helfen, Depressionen und Angststörungen zu behandeln, aber auch den Sexualtrieb reduzieren. In einigen Fällen können Antiandrogene eingesetzt werden, um den Testosteronspiegel zu senken und den Sexualtrieb zu reduzieren. Bei manchen Patienten können Antipsychotika helfen, enthemmtes Verhalten zu kontrollieren.
  • Psychotherapie: Eine Psychotherapie kann Betroffenen helfen, mit ihren Gefühlen und Verhaltensweisen umzugehen. Kognitive Verhaltenstherapie kann eingesetzt werden, um unangemessene Gedanken und Verhaltensweisen zu verändern. Sexualtherapie kann helfen, sexuelle Probleme zu bewältigen und die sexuelle Funktion zu verbessern.
  • Verhaltenstherapie: Verhaltenstherapeutische Maßnahmen können eingesetzt werden, um unangemessenes Verhalten zu reduzieren und erwünschtes Verhalten zu fördern. Dies kann z.B. durch positive Verstärkung oder durch das Setzen von Grenzen erreicht werden.
  • Soziales Kompetenztraining: Ein soziales Kompetenztraining kann Betroffenen helfen, soziale Situationen besser einzuschätzen und angemessen zu reagieren.
  • Ergotherapie: Ergotherapie kann Betroffenen helfen, ihre körperlichen Fähigkeiten zu verbessern und ihre Selbstständigkeit im Alltag zu erhalten.
  • Physiotherapie: Physiotherapie kann helfen, Spastik zu reduzieren und die Beweglichkeit zu verbessern.
  • Kommunikationstraining: Bei Sprachstörungen kann ein Kommunikationstraining helfen, die Verständigung zu verbessern.
  • Umfeldgestaltung: Eine strukturierte und reizarme Umgebung kann helfen, Überstimulation zu vermeiden und das Verhalten zu stabilisieren.
  • Angehörigenberatung: Angehörige benötigen Unterstützung und Beratung im Umgang mit dem veränderten Verhalten des Betroffenen. Sie können lernen, Grenzen zu setzen und angemessen zu reagieren.
  • Schutzmaßnahmen: In Fällen von sexueller Aggressivität sind Schutzmaßnahmen erforderlich, um die Sicherheit von Betroffenen und anderen Personen zu gewährleisten. Dies kann z.B. durch eine engmaschige Überwachung oder durch die Unterbringung in einer geschützten Umgebung erreicht werden.
  • Aufklärung: Falls Ihr Pflegekunde die Situation verkennt, kann es ausreichen, dass Sie ihm die Pflegehandlung genau erklären. Oder aber Sie statten sich mit „medizinischen“ Attributen wie z. B. einem weißen Kittel oder einem Stethoskop aus. Falls Ihr Pflegekunde aus einer mangelnden Impulskontrolle heraus handelt, versuchen Sie ihn abzulenken. Geben Sie ihm etwas in die Hand, das ihn interessieren könnte.

Umgang mit sexueller Enthemmung in der Pflege

In der Pflege von Menschen mit sexueller Enthemmung ist ein professioneller und respektvoller Umgang wichtig:

  • Ruhe bewahren: Im Umgang mit dem Bewohner bleiben wir stets ruhig.
  • Grenzen setzen: Deutliche und konsequente Grenzen setzen, z.B. indem man dem Bewohner erklärt, dass er fremde Gegenstände nicht ungefragt nutzen darf.
  • Ablenkung: Beschäftigung kann von sexuellen Wünschen ablenken.
  • Beobachtung: Wir dokumentieren genau, in welchen Formen die sexuelle Enthemmung auftritt.
  • Schutz: Sexuelle Übergriffe sind eine Form von Gewalt - auch wenn Ihr Pflegekunde mit Demenz nichts dafür kann. Entsprechend haben Sie als Pflegekraft auch ein Anrecht, sich hiervor zu schützen. Dies bedeutet konkret, dass Sie sich dem Verhalten nicht aussetzen müssen. Sie können etwa die Handlung unterbrechen oder mit Ihrer PDL besprechen, dass andere Kollegen die Pflege des betroffenen Pflegekunden übernehmen.
  • Einheitliches Handeln: Wichtig ist, dass Sie sich im Team auf ein einheitliches Handeln einigen. Ihr demenziell veränderter Pflegekunde kann sich Grenzen nur merken, wenn Sie diese häufig wiederholen. Wenn hingegen jede Pflegekraft unterschiedlich handelt, bieten Sie ihm keine Orientierung bezüglich seines Verhaltens.
  • Respekt wahren: Erhalten Sie sich Ihren Respekt. Häufig ist es schwierig, einem Menschen weiterhin Respekt entgegenzubringen, wenn er sich Ihnen oder anderen gegenüber unangemessen verhält. Bedenken Sie jedoch, dass das Verhalten nichts mit der eigentlichen Persönlichkeit zu tun hat.

Sexuelle Funktionsstörungen nach Schlaganfall

Neben der sexuellen Enthemmung können nach einem Schlaganfall auch sexuelle Funktionsstörungen auftreten:

  • Verminderte Libido: Viele Patienten berichten über einen Verlust des Interesses an Sex.
  • Erektionsstörungen: Erektionsstörungen sind ein häufiges Problem bei Männern nach einem Schlaganfall.
  • Orgasmusstörungen: Frauen und Männer können Schwierigkeiten haben, einen Orgasmus zu erreichen.
  • Schmerzen beim Geschlechtsverkehr: Spastik oder Lähmungen können zu Schmerzen beim Geschlechtsverkehr führen.

Diese Funktionsstörungen haben aber meistens keine einzelne Ursache, sondern werden mit dem biopsychozialen Modell erklärt.

Therapie sexueller Funktionsstörungen

  • Medikamentöse Therapie: Sildenafil (Viagra) wird oft zur Therapie der erektilen Dysfunktion (Erektionsstörung) verwendet.
  • Psychotherapie: Eine Psychotherapie kann helfen, sexuelle Probleme zu bewältigen und die sexuelle Funktion zu verbessern.
  • Hilfsmittel: Hilfsmittel wie Gleitmittel oder Lagerungskissen können den Geschlechtsverkehr erleichtern.

Partnerschaft nach Schlaganfall

Ein Schlaganfall kann die Partnerschaft stark beeinflussen. Symptome wie Aphasie (Sprachstörungen), Spastik (Muskelsteifheit), Lähmungen oder Schluckstörungen bringen neue Herausforderungen mit sich, die das tägliche Miteinander und die gewohnten Rollen in der Partnerschaft verändern können.

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Tipps für eine gesunde Partnerschaft nach Schlaganfall

  • Offene Kommunikation: Sprechen Sie offen über Ihre Gefühle, Ängste und Bedürfnisse.
  • Geduld: Seien Sie geduldig miteinander und geben Sie sich Zeit, sich an die neue Situation anzupassen.
  • Unterstützung suchen: Nehmen Sie professionelle Hilfe in Anspruch, z.B. Paartherapie oder Selbsthilfegruppen.
  • Gemeinsame Aktivitäten: Unternehmen Sie weiterhin gemeinsame Aktivitäten, die Ihnen Freude bereiten.
  • Intimität pflegen: Versuchen Sie, Intimität und Nähe in Ihrer Beziehung zu erhalten, auch wenn sich das Sexualleben verändert hat.

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