Sexuelle Erregung: Die komplexen Mechanismen des Gehirns

Der Orgasmus, der physiologische Höhepunkt sexueller Erregung, ist ein komplexes Zusammenspiel neurophysiologischer, hormoneller und psychischer Mechanismen. Er ist gekennzeichnet durch intensive, lustvolle Empfindungen, rhythmische Kontraktionen der Beckenbodenmuskulatur und charakteristische Veränderungen in vegetativen, endokrinen und zentralnervösen Systemen. Aber was genau passiert im Gehirn während sexueller Erregung und des Orgasmus? Dieser Artikel beleuchtet die komplexen Mechanismen, die im Gehirn ablaufen, und wie diese unser sexuelles Erleben beeinflussen.

Die Rolle des Gehirns bei der sexuellen Erregung

Auch wenn Sex offensichtlich eine körperliche Angelegenheit ist, entsteht das wahre Feuerwerk im Gehirn. Wenn wir Sex haben, scheint zwar der Unterleib die Regie zu übernehmen - doch dieser Eindruck täuscht. Erst durch ein komplexes Zusammenspiel von Nervenzellen und Botenstoffen wird aus der Turnstunde ein leidenschaftliches Erlebnis. Das Gehirn ist das wichtigste Sexualorgan.

Neurotransmitter und ihre Bedeutung

Eine wichtige Rolle spielen diverse als Neurotransmitter bezeichnete Botenstoffe, wie etwa Dopamin, das auf dem Gipfel der Lust in großen Mengen ausgeschüttet wird. Dopamin aktiviert das Belohnungssystem im Gehirn massiv, wodurch wir in einen Rausch der Euphorie geraten. Die Vorgänge, die sich dabei in unserem Oberstübchen abspielen, gleichen den Effekten von Heroin oder Kokain. Tatsächlich ist Dopamin wohl auch dafür verantwortlich, dass wir uns beim Schmusen mitunter wie Süchtige verhalten.

Einen großen Anteil an der rauschhaften Euphorie von Verliebten hat das Noradrenalin. Der in der Nebenniere gebildete Neurotransmitter hebt auch die Laune, erhöht unsere Aufmerksamkeit, vertreibt Hunger und Müdigkeit und dämpft Schmerzen. Wie körpereigene Schmerzmittel wirken die so genannten Endorphine. Beim Sex fördern sie die Entspannung und helfen so vor allem Frauen, zum Höhepunkt zu gelangen. Für viele Frauen spielt das Loslassen-Können eine große Rolle. Je mehr sie dem Partner vertraut und sich von ihm begehrt fühlt, desto leichter klappt es mit dem Höhepunkt.

Dass der Körper nach dem Höhepunkt wieder herunterfährt und - zumindest beim Mann - eine Weile nicht für sexuelle Stimuli empfänglich ist, liegt an einem Neurotransmitter, der nach dem Orgasmus vermehrt ausgeschüttet wird. Der Hirnbotenstoff Serotonin steigert zwar das Wohlempfinden, kann aber gleichzeitig die Erregung blockieren. Serotonin hemmt Ejakulationsreflexe; erhöhte synaptische Spiegel (z. B. Neuromodulatoren (u. a.

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Der Hypothalamus als Dreh- und Angelpunkt

Dreh- und Angelpunkt unserer Lust ist der Hypothalamus. Die Hirnregion stellt eine Verbindung zwischen Nervensystem und Hormonen her. Lange Zeit war dieser Teil unseres Denkorgans vor allem dafür bekannt, dass er uns ermöglicht, in Angst- und Stresssituationen blitzschnell zu reagieren. Doch nicht nur Bedrohung aktiviert den Hypothalamus, sondern auch Zärtlichkeit. Berührungssignale beim Sex steigern seine Aktivität stetig weiter - bis sie in der Freisetzung großer Mengen des Bindungshormons Oxytozin beim Orgasmus gipfelt. Nach dieser Entladung nimmt die Aktivität des Hypothalamus schlagartig ab.

Das Belohnungssystem des Gehirns

Auch das Belohnungssystem des Gehirns ist beim Sex aktiv. Zwei Hirnbereiche, der Nucleus accumbens und der Nucleus caudatus, sowie der Botenstoff Dopamin regulieren Motivation und Lust. Sie reagieren auf ganz unterschiedliche Reize und lassen uns nach den verschiedensten Belohnungen streben: einem guten Essen etwa, Geld - oder einer Droge die direkt auf die Dopamin-Ausschüttung im Hirn wirkt.

Die neuronale Landkarte der sexuellen Erregung

Barry Komisaruk von der Rutgers University erklärt, dass die Aktivität des Gehirns während des Orgasmus größer ist als zu jeder anderen Zeit - sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Die erste Gehirnregion, die aktiv wird, ist der genitale sensorische Cortex, der in der Scheitelmitte sitzt (Lobulus paracentralis). Die verschiedenen Geschlechtsorgane stimulieren jeweils unterschiedliche Regionen des genitalen Cortex. Je mehr erotisch sensible Körperregionen gleichzeitig stimuliert werden, desto größer ist die im genitalen Cortex aktivierte Region, und desto intensiver kann ein Orgasmus werden.

Der genitale Cortex aktiviert das limbische System, zum Beispiel den Hippocampus und die Amgygdala, die beide bei der Emotionsverarbeitung eine Rolle spielen. Die Amygdala trägt auch dazu bei, dass Herzfrequenz und Blutdruck jetzt ansteigen. Während sich der Orgasmus aufbaut, löst das Kleinhirn vielfältige Muskelspannungen aus. In der Insula und im Gyrus cinguli beobachten wir derweil Aktivität, die wir sonst sehen, wenn jemand Schmerz empfindet. Das ist interessant, weil die Schmerzempfindlichkeit während des Orgasmus eigentlich deutlich nachlässt. Dazu trägt sicherlich auch das Schmerzunterdrückungssystem des Gehirns bei, das ebenfalls stark während des Orgasmus aktiviert wird: das periaquäduktale Grau und die Raphe-​Kerne, die Serotonin ins Rückenmark schicken. Es kann aber auch sein, dass die Insula und der Gyrus cinguli selbst eine schmerzhemmende Wirkung während des Orgasmus haben - im Hirnscanner sieht man keinen Unterschied zwischen Hemmung und Aktivierung. Ihre Wirkung auf die Gesichtsmuskeln scheint allerdings ähnlich zu sein wie beim Schmerz: das orgasmische Gesicht ähnelt stark dem schmerzverzerrten.

Auf dem Höhepunkt des Orgasmus spielen vor allem der Nucleus accumbens und der Hypothalamus eine Rolle. Der Nucleus accumbens ist Teil des Lustzentrums des Gehirns und reagiert sehr empfindlich auf Dopamin. Die Zellen im vorderen Teil des Hypothalamus produzieren Oxytocin, das auch als „Kuschelhormon“ bekannt ist und zum starken orgasmischen Wohlgefühl beitragen mag. Auch Oxytocin treibt Herzschlag und Blutdruck in die Höhe, und es sorgt auch dafür, dass sich die Pupillen beim Orgasmus weiten.

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Wenn der Orgamus dann vorbei ist, hört das Hirnfeuerwerk schlagartig auf. Und bei Männern - aber nicht Frauen! - bleibt es auch erstmal still. Sie erleben eine so genannte Refraktärzeit. Während dieser können sie eine erneute Stimulation der Genitalien zwar spüren, doch im Orgasmussystem im Gehirn tut sich derweil nichts.

Unterschiede zwischen Mann und Frau

Ob sich die Erregungsmuster im Hirn von Mann und Frau unterscheiden, wird noch erforscht. Einige Untersuchungen deuten darauf hin, als gesichert können diese Erkenntnisse jedoch noch nicht angesehen werden. Beobachtet wurde zum Beispiel ein Unterschied in der Amygdala. Bei Frauen, so berichteten niederländische Forscher, sei die Amgydala während des Höhepunkts regelrecht lahmgelegt.

Neuroplastizität und Sexualität

Jede Berührung, jeder Gedanke und jede intime Verbindung, die Sie erleben, hinterlässt eine leise, aber dauerhafte Spur in Ihrem Inneren. Diese Spuren formen nicht nur Ihre Erinnerungen, sondern gestalten auch aktiv die physische Landschaft Ihres Gehirns. Dies ist der Kern der Neuroplastizität - die bemerkenswerte Fähigkeit des Gehirns, sich selbst umzugestalten. In Bezug auf die Sexualität bedeutet dies, dass Ihr sexuelles Erleben und Verhalten keine starre, angeborene Eigenschaft ist. Ihre persönlichen sexuellen Vorlieben, Ihre Reaktionen auf Berührungen und die Art und Weise, wie Sie emotionale und körperliche Nähe erleben, sind das Ergebnis eines langen Lernprozesses. Das bedeutet, dass Ihre Sexualität zutiefst persönlich und formbar ist.

Wie Neuroplastizität unsere Sexualität formt

Die Verknüpfung von Neuroplastizität und Sexualität eröffnet ein tiefes Verständnis für die Entwicklung und Veränderbarkeit unseres intimen Erlebens. Wiederholung von Verhaltensweisen und Gedankenmustern, die häufig wiederholt werden, graben sich tief in die neuronalen Strukturen ein. Erlebnisse, die mit starken Gefühlen wie Lust, Liebe, Angst oder Scham verbunden sind, erzeugen besonders starke und langlebige neuronale Verbindungen. Worauf Sie Ihre Aufmerksamkeit richten, verstärkt die entsprechenden neuronalen Schaltkreise.

Der Psychiater und Forscher Norman Doidge beschreibt das Konzept der „sexuellen Plastizität“, um zu erklären, wie unsere sexuellen Vorlieben entstehen und sich wandeln können. Er argumentiert, dass unsere erotischen Interessen nicht starr festgelegt sind, sondern sich auf einer Art „neuronaler Landkarte“ im Gehirn entwickeln. Diese Karten werden durch unsere Erfahrungen gezeichnet.

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Neurotransmitter und Hormone im Spiel

Die neuroplastischen Veränderungen, die unsere Sexualität formen, werden durch ein komplexes Orchester von Neurotransmittern und Hormonen gesteuert. Dopamin treibt das Verlangen an - die Suche nach sexueller Befriedigung. Oxytocin spielt eine zentrale Rolle bei der sozialen Bindung und fördert Gefühle von Vertrauen, Intimität und Verbundenheit mit einem Partner. Testosteron und Östrogene sind grundlegend für die Libido bei allen Geschlechtern. Serotonin hat eine komplexere Rolle.

Die Prinzipien der Neuroplastizität erklären auch, wie sexuelle Gewohnheiten und Routinen entstehen. Wenn ein Paar immer wieder auf die gleiche Weise intim wird, wird dieser Ablauf zu einem gut ausgetretenen neuronalen Pfad. Das bewusste Ausprobieren neuer Dinge zwingt das Gehirn, neue Verbindungen zu knüpfen und kann die sexuelle Erfahrung wieder aufregender und lebendiger machen.

Sexuelles Trauma und Neuroplastizität

Sexuelles Trauma hinterlässt tiefe Spuren in der neuronalen Organisation des Gehirns und kann zu einer chronischen Aktivierung des Selbsterhaltungssystems führen, wodurch das Bindungssystem gehemmt wird. Es gibt verschiedene Therapieansätze, die helfen können, traumatische Erinnerungen zu verarbeiten und einen Zustand der Sicherheit und Regulation wiederherzustellen, wie z.B. EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing), Trauma-informierte kognitive Verhaltenstherapie (TF-CBT) und somatische Therapien.

Sexuelle Funktionsstörungen und das Gehirn

Die hypoaktive sexuelle Luststörung (HSDD) ähnelt biochemisch der Depression, da beide den Verlust des Interesses an Dingen beinhalten, die Ihnen Freude bereiten, und den Verlust der Motivation, Dinge zu suchen, die lohnend sind. Die HSDD wird zunehmend als Folge eines Ungleichgewichts zwischen erregenden und hemmenden neurologischen Prozessen verstanden. Dies beeinflusst die Fähigkeit von Frauen, auf sexuelle Reize zu reagieren. Neue Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass bei betroffenen Frauen die Aktivität von Neurotransmittern wie Dopamin, die für Erregung verantwortlich sind, vermindert ist. Gleichzeitig sind hemmende Prozesse, die durch Serotonin vermittelt werden, verstärkt aktiv.

Therapeutische Ansätze bei HSDD

Um das sexuelle Verlangen bei Frauen mit HSDD zu verbessern, zielt die Therapie darauf ab, das Gleichgewicht zwischen diesen neurologischen Prozessen wiederherzustellen. Pharmazeutische Ansätze, wie Dopamin-Agonisten, die die erregenden Signalwege stimulieren, zeigen vielversprechende Ergebnisse. Ein weiterer Ansatz ist der Einsatz von Testosteron, welches besonders bei postmenopausalen Frauen positive Effekte auf das sexuelle Verlangen zeigt. Aktuelle bildgebende Verfahren und neurologische Studien haben gezeigt, dass Frauen mit HSDD oft eine überaktive Hemmung in den Belohnungszentren des Gehirns aufweisen.

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