Es hält sich hartnäckig die Annahme, dass jede Gehirnhälfte ihre eigenen spezifischen Aufgaben hat. Immer wieder ist von der „emotionalen rechten Gehirnhälfte“ und der „analytischen linken Gehirnhälfte“ die Rede. So soll bei analytisch denkenden und rechnenden Menschen die linke Gehirnhälfte ausgeprägter sein, während bei kreativen Menschen die rechte Gehirnhälfte dominant sei. Doch wie viel Wahrheit steckt in diesem Mythos? Dieser Artikel beleuchtet die Funktionen und Anatomie der linken Gehirnhälfte und räumt mit einigen gängigen Missverständnissen auf.
Anatomie des Gehirns: Zwei Hälften, eine Einheit
Das menschliche Gehirn besteht anatomisch gesehen aus zwei Hälften, welche man als linke und rechte Hemisphäre definiert. Das Wort „Hemisphäre“ beschreibt in der Geographie und in der Astronomie eine Hälfte der Erde. Wörtlich übersetzt bedeutet der Begriff „Halbkugel“. Das Gehirn hat - genau wie der restliche Körper - zwei Hälften.
Auf den ersten Blick erscheint das menschliche Gehirn vollkommen symmetrisch. Die Evolution hat den menschlichen Körper, zumindest von außen betrachtet, sehr symmetrisch gestaltet. Doch dieser Eindruck täuscht. Obwohl das Gehirn in zwei Hälften geteilt ist, ist es nicht genau spiegelbildlich. Auf den ersten Blick sieht der menschliche Körper symmetrisch aus: zwei Arme, zwei Beine, zwei Augen, zwei Ohren, selbst Nase und Mund scheinen sich bei den meisten Menschen in beiden Gesichtshälften an einer imaginären Achse zu spiegeln. Und schließlich das Gehirn: Es ist in zwei Hälften geteilt, die ungefähr gleich groß sind, und auch die Furchen und Wülste folgen einem ähnlichen Muster.
Diese Hälften funktionieren jedoch nicht so isoliert voneinander, wie viele denken. Stattdessen arbeiten sie zusammen und stehen in ständigem Kontakt miteinander. Dabei sind sie in der Mitte durch einen Balken verbunden.
Jede Hemisphäre besteht wiederum aus verschiedenen anatomischen Strukturen und Regionen, welche für diverse kognitive Funktionen verantwortlich sind. Die Oberfläche der Gehirnhemisphären ist mit Windungen und Furchen bedeckt, welche man in der medizinischen Fachsprache als Gyri und Sulci bezeichnet. Diese Windungen und Furchen vergrößern die Oberfläche des Gehirns, wodurch mehr Neuronen und synaptische Verbindungen auf kleinem Raum wirken können. Das Gehirn ist in ein Großhirn und ein Kleinhirn gegliedert. Dementsprechend spricht man sowohl von den Großhirn-, als auch den Kleinhirnhemisphären.
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Lateralisierung: Spezialisierung der Gehirnhälften
Die Aufgaben des Gehirns verteilen sich nicht auf eine rechte und eine linke Seite, sondern auf verschiedene Areale. Und diese Areale finden sich meistens sowohl links als auch rechts über das Gehirn verteilt. Aber wir müssen uns nicht komplett vom Bild der zwei Gehirnhälften verabschieden. Ein paar Unterscheidungen lassen sich nämlich immer noch machen. Die beiden Hemisphären sind auf unterschiedliche Funktionen spezialisiert. So wird beispielsweise die Aufmerksamkeit bei den meisten Menschen überwiegend in der rechten Hemisphäre verarbeitet, die Sprache überwiegend in der linken. Die Hemisphäre, in der sich die Sprachzentren (es gibt mehrere) befinden, wird als dominante Hemisphäre bezeichnet.
Es gibt also Unterschiede zwischen den beiden Gehirnhälften, doch übernehmen sie auch viele ähnliche Funktionen. Aus Gründen der Effizienz kann eine Gehirnhälfte eine bestimmte Aufgabe stärker übernehmen, während ihr Gegenstück für eine andere Funktion dominanter ist.
Ein klassisches Beispiel für Lateralisierung in der Kognition ist die Steuerung und das Verarbeiten von Sprache, wobei die Ausprägung hier individuell variiert. Wichtige Zentren dafür sind das Wernicke- und das Broca-Areal, die eher in der linken Gehirnhälfte lokalisiert sind. Neue Untersuchungen zeigen jedoch, dass auch die rechte Gehirnhälfte eine wichtige Rolle bei der Sprachverarbeitung spielt und die Ausprägung der Unterschiede nicht in jedem Menschen gleich ist. Eine weitere Form der Lateralisierung zeigt sich in bestimmten Aspekten der Aufmerksamkeit, für die eher die rechte Gehirnhälfte entscheidend ist. Der Grad der Lateralisierung variiert jedoch individuell und verändert sich mit den Jahren.
Steuerung über Kreuz
So ist zum Beispiel das Gesichtsfeld in eine linke und rechte Hälfte unterteilt, wobei die Information aus der linken Gesichtsfeldhälfte zur rechten Gehirnhälfte und die aus der rechten Gesichtsfeldhälfte zur linken Gehirnhälfte geleitet wird. Außerdem wird die Information der linken Hand an die rechte Gehirnhälfte und die der rechten Hand an die linke Gehirnhälfte geleitet. Die Sinneswahrnehmung ist somit lateralisiert. Ebenfalls klar lateralisiert ist die Kontrolle der motorischen Funktionen: Die rechte Gehirnhälfte steuert die linke Körperhälfte und die linke Gehirnhälfte die rechte. Steuerung über Kreuz: Die linke Gehirnhälfte steuert die rechte Körperseite und umgekehrt.
So ist die linke Gehirnhälfte für die Steuerung und Reizverarbeitung der rechten Körperhälfte zuständig.
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Sprachzentrum
Im 19. Jahrhundert beschrieben Paul Broca und Karl Wernicke die an der Sprache beteiligten Bereiche der linken Hemisphäre: das Broca-Areal und das Wernicke-Areal.
Sprache wird im Gehirn hauptsächlich im sogenannten Broca-Areal und im Wernicke-Areal verarbeitet. Bei den meisten Menschen ist die linke Hemisphäre dominant für Sprache und Motorik der geschickteren Hand. Bei über 90 Prozent der Menschen ist die linke Hemisphäre die dominante. Bei Linkshändern kann jedoch auch die rechte Hemisphäre dominant sein.
Es gibt zudem einige Gehirnareale, die bei den meisten Menschen nur in einer Gehirnhälfte liegen. Das ist zum Beispiel beim Broca- und Wernicke-Areal der Fall. Diese beiden Regionen sind für die Sprache verantwortlich und liegen bei Rechtshändern größtenteils in der linken Hemisphäre. Das Broca-Areal ist dabei hauptsächlich für die Sprachproduktion verantwortlich.
Die linke Gehirnhälfte wird oft mit logischem und rationalem Denken in Verbindung gebracht. Im Großhirn ist die Hirnrinde der linken Gehirnhälfte für die Sprache verantwortlich.
Weitere Funktionen der linken Hemisphäre
Abgesehen von diesen Beispielen sind die meisten Gehirnareale in beiden Hälften zu finden. Es handelt sich bei diesen Arealen um Gehirnlappen. Zu diesen Lappen gehört der Frontallappen, der Parietallappen, der Temporallappen, der Occipitallappen und der Insellappen.
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Betrachtet man die Anatomie des Gehirns, zeiget sich, dass bestimmte Gehirnareale der linken und rechten Hemisphäre unterschiedlich dick ausgeprägt sind. Analysen der Mikrostruktur offenbaren zudem Unterschiede im Aufbau der kortikalen Schichten zwischen den beiden Hemisphären.
Was passiert bei Ausfall der linken Gehirnhälfte?
Wenn die linke Gehirnhälfte (Hemisphäre) ausfällt, kann dies zu einer Vielzahl von kognitiven, emotionalen und motorischen Beeinträchtigungen führen. Am häufigsten treten jedoch Sprachschwierigkeiten auf, welche regelmäßig zu Störungen in der Worterkennung führen können. Eine Hemiparese kann links oder rechts auftreten, je nachdem, welche Gehirnhälfte vom Schlaganfall betroffen ist. Die Steuerung der Muskulatur durch das Gehirn erfolgt über Kreuz.
Die rechte Gehirnhälfte: Ergänzung zur linken Hemisphäre
Auch der nicht-dominanten (d.h. in der Regel rechten) Hemisphäre werden spezifische Funktionen zugeschrieben. Die rechte Hemisphäre spielt eine dominante Rolle bei der räumlichen Aufmerksamkeitslenkung. Die rechte Gehirnhälfte (Hemisphäre) dient in erster Linie der räumlichen Wahrnehmung. Fällt sie aus oder ist beschädigt, ist die Orientierungslosigkeit in der Regel die Folge. Darüber hinaus ist die rechte Hemisphäre an der Ausführung von Kreativität, verschiedener Emotionen und der Verarbeitung von Musik beteiligt.
Die Trennung ist jedoch nicht so scharf, wie die einfache Zuordnung bestimmter Fähigkeiten zur linken oder rechten Hemisphäre vermuten lässt.
Mythos „Links- oder Rechtshirnig“
Für die weitverbreitete Vorstellung, dass Menschen eher mit der linken oder rechten Hemisphäre „denken“ gibt es keine wissenschaftliche Grundlage. Es gibt keine “Rechtshirnigkeit” und keine “Linkshirnigkeit”, denen man bestimmte Eigenschaften zuschreiben könnte. Es ist nicht möglich, Persönlichkeiten durch eine Spezialisierung der einen Gehirnhälfte zu definieren, die Vorrang vor der anderen hätte.
Diese Auffassung schreibt sogar die linke Gehirnhälfte den Männern und die rechte Gehirnhälfte den Frauen zu, die oft intuitiver sind. Dies ist jedoch ein Mythos, der sich nicht auf gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse stützt.
Zusammenspiel der Hemisphären
Beide Gehirnhälften sind essenziell und arbeiten eng zusammen. Beide Hemisphären sind an fast allen kognitiven Prozessen beteiligt und arbeiten eng zusammen, auch wenn bei bestimmten Aufgaben eine Hemisphäre die Führung übernimmt.
Dass jede Hemisphäre auch für sich allein arbeiten kann, zeigen Untersuchungen an Menschen, bei denen die Verbindung zwischen den beiden Hemisphären unterbrochen wurde.
Unterschiede in der Hirnasymmetrie
Funktionsaufteilung von Mensch zu Mensch verschieden. Doch diese so genannte Lateralisation, also die Tendenz, dass Hirnregionen Funktionen eher in der linken oder rechten Hirnhälfte verarbeiten, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich ausgeprägt - und zwar nicht nur bei den wenigen, bei denen das Gehirn spiegelverkehrt zu dem der Mehrheit spezialisiert ist. Selbst bei diejenigen, bei denen die Funktionen im Gehirn prinzipiell klassisch angeordnet sind, ist die Asymmetrie unterschiedlich stark ausgeprägt. Frühere Studien hatten gezeigt, dass sich das wiederum auf die Fähigkeiten selbst auswirken kann. Zu wenig asymmetrisch ausgebildete Sprachareale auf der linken Hirnseite werden zum Beispiel als eine mögliche Ursache für Legasthenie vermutet. Auch bei Krankheiten wie Schizophrenie und Autismus-Spektrum-Störungen oder Hyperaktivität bei Kindern wird mit einer zu schwachen Aufgabenteilung zwischen den beiden Hirnhälften in Zusammenhang gebracht.
Es gibt tatsächlich feine Unterschiede darin, wie Hirnregionen unterschiedlicher Funktionen auf der linken und rechten Seite des Gehirns aufreihen. Auf der linken Seite sind es die Regionen zur Sprachverarbeitung, die sich am weitesten entfernt von denen für Sehen und Wahrnehmung liegen. Auf der rechten Seite befindet sich hingegen das Netzwerk für Aufmerksamkeit und Arbeitsgedächtnis am weitesten entfernt von den sensorischen Regionen. Zudem zeigte sich: Die individuellen Unterschiede in dieser Anordnung sind vererbbar. Sie sind damit zum Teil genetisch bedingt. Ein Großteil dieser Asymmetrie im menschlichen Gehirn lässt sich hingegen nicht durch genetische Faktoren erklärt werden. Das könnte wiederum darauf hindeuten, dass der durch die persönliche Erfahrung einer Person, also durch Einflüsse aus ihrer Umwelt, geprägt ist.
Genetische und umweltbedingte Einflüsse
Diese Erkenntnisse legen nahe, dass strukturelle Unterschiede zu funktionellen Variationen führen könnten, wodurch die Organisation des Gehirns dynamisch bleibt. Demgegenüber stehen individuelle Unterschiede, die sich zum Teil auf genetische Komponenten zurückführen lassen. Eine zentrale Herausforderung dieser anatomischen Analysen besteht daher darin, genetische Einflüsse von entwicklungs- und umweltbedingten Faktoren abzugrenzen. "Vermutlich ergibt sich die Asymmetrie unseres Gehirns aus genetischen Faktoren und solchen, die sich aus persönlichen Erfahrungen ergeben", erklärt Bin Wan, Doktorand am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften und Hauptautor der Studie, die jetzt in der Zeitschrift eLife veröffentlicht wurde. Tatsächlich beobachtete das Forschungsteam bei älteren Menschen eine geringere Rechtsasymmetrie. Das Phänomen könnte sich demnach im Laufe des Lebens verändern.
Forschungsperspektiven
"Wir wollen verstehen, welche Rolle diese feinen Unterschiede zwischen linker und rechter Hemisphäre spielen und wie sie mit den verschiedenen Entwicklungsstörungen zusammenhängen könnten", erklärt auch Sofie Valk, Leiterin der Studie und der Forschungsgruppe Kognitive Neurogenetik am Max-Planck-Institut. "Wenn wir verstehen, wie Asymmetrie vererbt wird, lässt sich auch besser einschätzen, welche Bedeutung genetische und umweltbedingte Faktoren generell für dieses Phänomen haben. Vielleicht können wir dann herausfinden, wo etwas schiefläuft, wenn genau dieser Unterschied zwischen links und rechts gestört ist."
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