Das Altern ist ein Thema, das oft verdrängt wird. Der Psychologe Andreas Kruse hat sich jedoch über Jahrzehnte intensiv mit den Veränderungen des Menschen am Lebensende auseinandergesetzt. Seine Arbeit beleuchtet nicht nur die Herausforderungen, sondern auch die Potenziale des Alters, insbesondere im Kontext von Demenzerkrankungen.
Altern als vielschichtiger Prozess
Sich alt zu fühlen, ist ein subjektiver Zustand, der eng mit erlebten Verlusten verbunden ist. Laut Andreas Kruse tritt dieses Gefühl auf, wenn Menschen auf körperlicher, seelischer und geistiger Ebene tiefgreifende Veränderungen und einen nachlassenden inneren Antrieb erfahren. Interessanterweise fühlen sich Menschen, die körperlich stark belastet, aber geistig rege sind, oft nicht alt. Ebenso verhält es sich mit Personen, die trotz geistiger Einschränkungen Lebensfreude empfinden.
Potenziale des Alters: Eine Gegenperspektive zum Belastungsszenario
Die demografischen Prognosen, die einen steigenden Anteil älterer Menschen vorhersagen, werden oft als Bedrohung dargestellt. Andreas Kruse stellt diesem "Belastungsszenario" die These entgegen, dass die Potenziale des Alters unterschätzt und vernachlässigt werden. Dies gilt insbesondere für die Arbeitswelt und die Zivilgesellschaft. Kruse entwickelt Kriterien für eine alters- und pflegefreundliche Kultur, die diese Potenziale fördert und die gesellschaftliche Teilhabe auch in schwierigen Situationen wie Demenzerkrankungen sichert.
Schwerpunkte seiner Forschung
Kruse's Forschung umfasst folgende Schwerpunkte:
- Der einseitige Belastungsdiskurs über Alter: Eine kritische Auseinandersetzung mit der Fokussierung auf die negativen Aspekte des Alters.
- Die Potenzial- und die Verletzlichkeitsperspektive: Eine ausgewogene Betrachtung der Stärken und Schwächen älterer Menschen.
- Potenziale des Alters in der Arbeitswelt: Die Nutzung der Erfahrung und Kompetenzen älterer Arbeitnehmer.
- Alter und Verantwortung: Die Rolle älterer Menschen in Bezug auf Lebensverhältnisse, Zugang zum öffentlichen Raum, Generativität und Produktivität.
- Intragenerationelle und intergenerationelle Gerechtigkeit: Die Sicherstellung von Gerechtigkeit innerhalb und zwischen den Generationen.
- Altersfreundliche Kultur: Die Schaffung einer Gesellschaft, die die Bedürfnisse und Potenziale älterer Menschen berücksichtigt.
- Eine spezifische Verletzlichkeit im Alter: Demenz: Die besondere Herausforderung, die Demenz für Betroffene und Gesellschaft darstellt.
- Pflegefreundliche Kultur: Die Entwicklung einer Kultur, die eine würdevolle und umfassende Pflege ermöglicht.
Demenz als wachsende Herausforderung
Die Zahl der Menschen mit Demenz steigt rasant. In Deutschland leiden bereits heute 1,3 Millionen Menschen an einer demenziellen Erkrankung. Experten rechnen mit einem Anstieg auf über zwei Millionen Betroffene bis 2050. Bisher gibt es jedoch keine schlüssigen Konzepte für eine angemessene und würdevolle Versorgung von Demenzkranken, geschweige denn ein tragfähiges Finanzierungsmodell.
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Die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Debatte
Cornelia Goesmann, Vizepräsidentin der Bundesärztekammer (BÄK), mahnt, dass weder das Gesundheitswesen noch die Gesellschaft ausreichend auf die steigende Zahl Demenzkranker vorbereitet sind. Sie beobachtet eine Tabuisierung und Verleugnung der Problematik. Goesmann appelliert, die Probleme des langen Lebens nicht länger zu verdrängen und denjenigen, die bei der Pflege Schwerstarbeit leisten, höchste Anerkennung zu zollen.
Forderungen des Deutschen Ärztetages
Der Deutsche Ärztetag fordert eine breite Debatte über eine angemessene pflegerische und medizinische Versorgung demenziell Erkrankter. Die Isolation Dementer und ihrer Angehörigen müsse beendet werden. Konkrete Forderungen umfassen:
- Stärkung der geriatrischen Rehabilitation
- Aufstockung der Finanzmittel im Pflegebereich
- Bessere Vernetzung aller Akteure
- Förderung alternativer Wohnformen
- Bessere Unterstützung von Familienangehörigen, die Demenzkranke pflegen
- Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements
Lebensqualität als Maßstab
Maßstab für eine gute Versorgung Demenzkranker ist in erster Linie die Lebensqualität der Betroffenen. Andreas Kruse betont, dass die bei fortschreitender Demenz auftretenden kognitiven Einbußen von den meisten Menschen als Bedrohung der Person in ihrer Ganzheit betrachtet werden. Die Begegnung mit Demenzkranken macht deutlich, dass Altern nicht immer gelingen muss, auch dann nicht, wenn man sich lebenslang um eine selbstverantwortliche Lebensführung bemüht hat.
Lücken in der fachärztlichen Versorgung
Kruse sieht insbesondere in der fachärztlichen Versorgung noch Lücken. Nur etwa ein Drittel der Demenzkranken in Pflegeheimen wird von Psychiatern und Neurologen betreut. Er fordert eine Kooperation aller Beteiligten, um die bestmögliche Betreuung Demenzkranker zu gewährleisten.
Therapieansätze und Medikamente
Es gibt verschiedene physisch und psychisch aktivierende Verfahren, die sich in der Behandlung von Demenz bewährt haben. Dazu gehören Realitätsorientierung, Gedächtnistrainingsprogramme, kognitives Training, Validation sowie Erinnerungs- und Selbsterhaltungstherapie. Zudem stehen mit den Azetylcholinesterasehemmern Medikamente zur symptomatischen Behandlung der kognitiven Defizite zur Verfügung.
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Würde und Kompetenzen von Demenzkranken
Der Schutz der Würde des Menschen ist oberstes Gebot. Gerade bei Demenzkranken besteht häufig die Gefahr, dass noch vorhandene Kompetenzen übersehen werden. Neuere Forschungsarbeiten zeigen jedoch, dass Demenzkranke auch im fortgeschrittenen Stadium durchaus in der Lage sind, differenziert auf soziale Situationen zu reagieren. Sie erleben Emotionen und drücken diese aus.
Menschliche Zuwendung und Zeit als Schlüsselfaktoren
Bei einer individuellen und würdevollen Versorgung Demenzkranker sind menschliche Zuwendung und Zeit entscheidende Punkte. Eine gute Betreuung gibt es nicht zum Nulltarif. Die derzeitige Finanzierung stationärer Pflegeeinrichtungen ermöglicht oft nur ein "satt, still, sauber". Daher ist die Steigerung der Finanzmittel im Pflegebereich Grundbedingung für eine würdige und umfassende Versorgung im Alter.
Forderungen nach finanzieller und gesellschaftlicher Unterstützung
Der Deutsche Ärztetag fordert unter anderem eine Aufstockung der Personalbudgets in den Pflegeheimen um 30 Prozent, finanziert aus Steuermitteln und durch die Pflegeversicherung. Auch die haus- und fachärztliche Vergütung der Betreuung von Pflegebedürftigen müsse verbessert werden. Besonders zu fördern seien betreuende Angehörige, und es brauche neue gesellschaftliche Konzepte zu Unterstützungsangeboten sowie eine Stärkung des Ehrenamts.
Rehabilitation und Vernetzung
Handlungsbedarf besteht aus Sicht des Ärzteparlaments besonders bei der Rehabilitation. Geriatrische Patienten haben einen Anspruch auf Rehabilitation, der von den Kostenträgern oft ignoriert wird. Zudem sei eine bessere Vernetzung aller Akteure notwendig. Der Hausarzt sollte als Koordinator im Versorgungsmanagement den Erkrankten und dessen Angehörige beraten und unterstützen.
Forschung und Entwicklung
Der Deutsche Ärztetag verlangt eine Förderung von Forschung und Entwicklung moderner therapeutischer Ansätze in der Demenzbehandlung. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der BÄK, fordert eine Abgabe auf Arzneimittel, um die Erforschung besserer Medikamente zu finanzieren.
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Das Lebensende bewusst gestalten
Andreas Kruse befasst sich in seiner Arbeit auch mit Menschen, die an ihrem Lebensende stehen, und ihren Bezugspersonen. Er betont die Bedeutung der Palliativversorgung und die Notwendigkeit, Schwerkranke und Sterbende so zu unterstützen, dass sie leben können, bis sie sterben.
Die Rolle der Psychologie und anderer Disziplinen
Kruse betont, dass die Gerontologie ein Feld ist, zu dem verschiedene Wissenschaften gleichberechtigt forschen und Erkenntnisse beisteuern. Neben der Psychologie sind dies Medizin, Pflege, Philosophie, Recht, Soziologie und Theologie.
Innere Situation und bewusste Gestaltung des Lebensendes
Kruse geht zwei Fragen nach:
- In welcher Weise ist die innere Situation, sind Verarbeitung und Bewältigung der Belastungen durch Krankheits- und Symptomverläufe wie auch durch Lebenslage und Umweltbedingungen beeinflusst?
- Wie können Schwerkranke und Sterbende darin unterstützt werden, ihr Lebensende bewusst zu gestalten?
Die Bedeutung von Verletzlichkeit und seelischer Entwicklung
Kruse betont die wechselseitige Verschränktheit von Verletzlichkeit und seelischer Entwicklung sowie das Wechselspiel zwischen Selbst- und Weltgestaltung.
Gesellschaftliche und politische Verantwortung
Kruse ist davon überzeugt, dass in die Palliativversorgung noch deutlich höhere personelle und finanzielle Mittel investiert werden müssen. Die Begleitung Schwerkranker und Sterbender darf nicht als ein "Randgebiet" von Medizin, Pflege und anderen Disziplinen verstanden werden. Auch sollte die individuelle Auseinandersetzung mit diesem Thema rechtzeitig beginnen.
Forschungsprojekt zu biografischen Erfahrungen bei Demenz
Ein Forschungsprojekt unter Beteiligung von Andreas Kruse untersuchte die Bedeutung positiver, belastender und traumatischer Ereignisse für die Pflege und Begleitung von Menschen mit Demenz.
Ziele und Methoden
Das Projekt umfasste drei Teil-Untersuchungen:
- Inwieweit werden Zäsuren (Wendepunkte) im Lebenslauf von demenzkranken Bewohnern auch von Angehörigen und Pflegefachpersonen berichtet?
- Welche Vielfalt biografischer Themen ("Inseln des Selbst") gibt es im Erleben von Menschen mit Demenz, und werden diese von Angehörigen und Pflegefachpersonen erkannt?
- Welche psychologischen Kategorien sind besonders geeignet, um Inseln des Selbst zu erfassen, insbesondere Erinnerungen an hoch-belastende oder traumatische Ereignisse?
Ergebnisse
Die Untersuchungen zeigten, dass zahlreiche Zäsuren, die von Menschen mit leichter oder mittelgradiger Demenz genannt wurden, von Angehörigen und Pflegefachpersonen bestätigt wurden. Durch empathische Gesprächsführung konnten vielfältige Inseln des Selbst identifiziert werden, darunter auch hoch-belastende und traumatische Erlebnisse. Zudem wurde gezeigt, dass diese Art der Gesprächsführung Impulse für die eigene fachliche Identität der Pflegefachpersonen geben kann.
Bedeutung für die Pflegepraxis
Die Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung des Biografie-Ansatzes in der Pflegeforschung und -praxis. Pflegefachpersonen benötigen die Fähigkeit, sich durch empathische Zuwendung in das Erleben von Menschen mit Demenz "einzuschwingen" und zugleich erfahrene Erlebensinhalte einordnen zu können. Die Tatsache, dass lange zurückliegende Ereignisse im hohen Alter wieder thematisch werden können, weist auf die Kontinuität der Persönlichkeit hin.
Psychologische Dimension der Pflege
Die Untersuchungen verdeutlichen die psychologische Dimension der Pflege und ihre Potenziale und Anforderungen. Pflege ist zu einem großen Teil Psychologie.