In Deutschland leben schätzungsweise 1,8 Millionen Menschen mit Demenz. Um diesen Menschen eine optimale, wissenschaftlich fundierte Therapie zu ermöglichen, wurde die "Living Guideline Demenzen" der medizinischen Fachgesellschaften DGN (Deutsche Gesellschaft für Neurologie) und DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde) ins Leben gerufen. Diese Leitlinie wird jährlich aktualisiert, um die neuesten Erkenntnisse und Behandlungsempfehlungen zu integrieren. Die jüngste Aktualisierung umfasst sechs neue und sechs überarbeitete Empfehlungen.
Bedeutung der Leitlinie und ihre Aktualisierung
Angesichts der Tatsache, dass jährlich fast 450.000 Menschen in Deutschland neu an Demenz erkranken, ist die Bedeutung einer aktuellen und umfassenden Leitlinie unbestreitbar. Obwohl Demenz nicht heilbar ist, kann eine gute medizinische, pflegerische und therapeutische Versorgung das Fortschreiten der Krankheit verlangsamen, die Symptomlast verringern und die Lebensqualität der Betroffenen sowie ihrer Angehörigen verbessern.
Die S3-Leitlinie Demenzen wird seit 2023 kontinuierlich als "Living Guideline" veröffentlicht, um eine optimale Diagnostik und Therapie nach dem aktuellen Wissensstand zu gewährleisten. Mehr als 40 Fachgesellschaften, Verbände und Organisationen haben unter der Federführung der DGN und DGPPN an der Aktualisierung mitgewirkt. Dabei wurden neue Evidenzen gesammelt, gesichtet und alle Empfehlungen der Living Guideline überprüft.
Neue Empfehlungen und Überarbeitungen
Von den bisher 109 Empfehlungen wurden sechs überarbeitet. Zudem wurden sechs neue Empfehlungen in die Leitlinie aufgenommen, sodass diese nun insgesamt 115 Empfehlungen zur Diagnostik und Behandlung von Menschen mit Demenzen umfasst.
Biomarker-Diagnostik im Blut
Eine der wichtigsten Neuerungen ist die Empfehlung zur Biomarker-Diagnostik im Blut. Bisher wurden Biomarker zur Bestimmung von Amyloid-Ablagerungen oder anderen Alzheimer-Indikatoren durch die Untersuchung der Rückenmarksflüssigkeit (Liquor) oder mithilfe von Bildgebungsverfahren (Positronenemissionstomographie) ermittelt.
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"Neue Studien zeigen gute diagnostische Werte für die ersten blutbasierten Biomarker für die Alzheimer-Erkrankung", erklärt Prof. Dr. Richard Dodel von der DGN. Allerdings betont er auch, dass diese Tests weiter evaluiert werden müssen, bevor sie in den klinischen Alltag Einzug halten und die bisherige Diagnostik ersetzen können. Die Leitlinie empfiehlt den Einsatz der Blutmarker daher derzeit nur in Verbindung mit bereits etablierten Verfahren und nur durch Expertinnen und Experten für Biomarker-Diagnostik.
Psycho- und soziotherapeutische Therapieoptionen
Im Bereich der psycho- und soziotherapeutischen Therapieoptionen wurden ebenfalls neue Empfehlungen in die Living Guideline aufgenommen. So wird jetzt eine kognitive Verhaltenstherapie zur Behandlung der Depression auch bei leichter kognitiver Störung empfohlen. Zudem wird in der Aktualisierung neu auch die Musiktherapie vorgeschlagen.
Prof. Dr. Frank Jessen, Ko-Herausgeber der Leitlinie für die DGPPN, erklärt: "Uns stehen glücklicherweise viele Optionen bereit, Patientinnen und Patienten ganzheitlich zu behandeln und so auch mögliche depressive Symptome bei einer Demenz zu lindern. Das kann deutlich zu einer Verbesserung der Lebensqualität beitragen."
Palliative Versorgung
Ein gänzlich neues Kapitel der Leitlinie widmet sich der palliativen Versorgung. "Erstmals empfehlen wir an Demenz erkrankten Personen und ihren Angehörigen auch Maßnahmen der palliativen Versorgung, um schwerem Leid vorzubeugen und es zu lindern. Dafür sind eine frühzeitige Erkennung, sorgfältige Einschätzung und Behandlung von Schmerzen und anderen Problemen körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art wichtig", so Frank Jessen.
Obwohl der Zeitpunkt für den Beginn der Palliativversorgung derzeit nicht klar definiert ist, betont Jessen, dass das frühzeitige Gespräch darüber helfen kann, sicherzustellen, dass die Wünsche und Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten berücksichtigt werden.
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Nicht berücksichtigte Empfehlungen
Nicht in die Aktualisierung der Living Guideline aufgenommen wurden Empfehlungen zu einer möglichen Behandlung mit den in anderen Ländern bereits zugelassenen Antikörpern Lecanemab und Donanemab. Obwohl das Expertengremium der European Medicine Agency (EMA) die Zulassung von Lecanemab empfohlen hat, ist das Zulassungsverfahren seitens der EU-Kommission noch nicht abgeschlossen, sodass der Wirkstoff noch nicht zur Verfügung steht.
Digitale Verfügbarkeit und zukünftige Aktualisierungen
Die Leitlinie Demenzen wird turnusgemäß aktualisiert. Die nächste Aktualisierung wird in einem Jahr erwartet. Seit 2023 wird die Leitlinie nicht mehr ausschließlich als Textdokument veröffentlicht, sondern auch in digitaler Form auf der nicht kommerziellen Plattform MAGICApp. Dies ermöglicht allen Interessierten einen unmittelbaren Zugriff auf die Leitlinie und jede einzelne Empfehlung.
Die Rolle der S3-Leitlinie im Kontext der Demenzversorgung
Die S3-Leitlinie "Demenzen" stellt umfassende evidenzbasierte Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie von Demenzerkrankungen zur Verfügung. Sie repräsentiert den höchsten Evidenzgrad in der Klassifikation der medizinischen Leitlinien in Deutschland und basiert auf einer systematischen Überprüfung der wissenschaftlichen Literatur. Die GRADE-Methodik wird verwendet, um die Qualität der Evidenz zu bewerten, die in "hoch", "moderat", "niedrig" und "sehr niedrig" eingestuft wird.
Diagnostik
Die Leitlinie betont die Bedeutung einer gründlichen Diagnostik, die neben der klinischen Untersuchung auch neuropsychologische Tests und bildgebende Verfahren einschließt. Es wird empfohlen, strukturelle Bildgebung (z. B. cMRT) zur Differentialdiagnose von Demenzerkrankungen einzusetzen.
Therapie
Die Leitlinie gibt Empfehlungen zu verschiedenen Therapieansätzen, einschließlich medikamentöser und nicht-medikamentöser Therapien.
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Technische Unterstützungssysteme
Der Einsatz technischer Unterstützungssysteme (z. B. Apps, Sensoren) kann dazu beitragen, die Selbstständigkeit von Menschen mit Demenz zu fördern und die pflegenden Angehörigen zu entlasten.
Weitere Aspekte der Demenzversorgung
Neben den medizinischen Aspekten sind auch soziale und psychologische Faktoren von großer Bedeutung für die Lebensqualität von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen.
Beziehungsgestaltung in der Pflege
Menschen sind soziale Wesen, und dies gilt besonders für Menschen mit Demenz, die trotz kognitiver Beeinträchtigungen emotionale Beziehungen brauchen. Der Expertenstandard fördert Akzeptanz, Vertrauen und Respekt in der Beziehungsgestaltung.
Erhaltung und Förderung der Mobilität
Mobilität ist eine grundlegende Voraussetzung für die Selbstständigkeit und Lebensqualität pflegebedürftiger Menschen. Bewegungsmangel und Mobilitätseinbußen sind zentrale Risikofaktoren für schwerwiegende Gesundheitsprobleme und tragen maßgeblich zur Entstehung von Pflegebedürftigkeit bei. Der Expertenstandard "Erhaltung und Förderung der Mobilität in der Pflege" hat das Ziel, die Mobilität von pflegebedürftigen Menschen zu erhalten und zu fördern, um deren Selbstständigkeit, Lebensqualität und gesellschaftliche Teilhabe zu verbessern.
Vermeidung von freiheitseinschränkenden Maßnahmen
Die Leitlinie zur Vermeidung von freiheitseinschränkenden Maßnahmen (FEM) in der beruflichen Altenpflege fokussiert sich auf verschiedene Interventionen und deren Wirksamkeit. Es werden sowohl personenzentrierte als auch umgebungsbezogene Ansätze beleuchtet. Spezielle Betreuungseinheiten können die Anwendung von FEM reduzieren und psychomotorische Verhaltensweisen positiv beeinflussen.
Einwilligung in medizinische Maßnahmen
Die Leitlinie zur "Einwilligung von Menschen mit Demenz in medizinische Maßnahmen" zielt darauf ab, die Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung von Demenzkranken in medizinischen Entscheidungssituationen zu sichern. Die Leitlinie bietet umfassende Empfehlungen zur Aufklärung, zur Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit und zur Assistenz bei Entscheidungen.