Die neurologische Krankenversorgung in Deutschland zu verbessern, sieht die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e. V. (DGN) als ihre gesellschaftliche Verantwortung. Die DGN fördert Wissenschaft, Forschung, Lehre sowie Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN ist Mitgliedergesellschaft und zugleich Dachgesellschaft der sogenannten Schwerpunktgesellschaften, die sich speziellen Erkrankungen und Themen in der Neurologie widmen. Die Geschäftsstelle hat ihren Sitz in der Bundeshauptstadt Berlin. Die DGN ist Mitglied der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) seit 1962.
Die Rolle der AWMF und der DGN
Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) spielt eine zentrale Rolle bei der Entwicklung und Herausgabe von Leitlinien in der Medizin. Diese Leitlinien dienen als Orientierungshilfe für Ärzte und andere medizinische Fachkräfte, um eine evidenzbasierte und qualitativ hochwertige Patientenversorgung zu gewährleisten. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) ist eine von zahlreichen Fachgesellschaften, die unter dem Dach der AWMF Leitlinien für ihren jeweiligen Fachbereich entwickeln.
Zielorientierung der Leitlinien
Die Leitlinien haben nicht nur die persönliche Erfahrung der Leitlinienentwickler zu berücksichtigen, sondern die möglichst umfassende und kritische Würdigung der Literatur weltweit einzubeziehen.
Die Bedeutung von Evidenzbasierung und Konsens
Die Entwicklung von AWMF-Leitlinien folgt einem strengen methodischen Ansatz, der auf den Prinzipien der evidenzbasierten Medizin basiert. Dies bedeutet, dass die Empfehlungen in den Leitlinien auf der Grundlage der besten verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz formuliert werden. Dabei werden sowohl randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) als auch andere Studienformen berücksichtigt.
Neben der Evidenzbasierung spielt auch der Konsens zwischen Experten eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Leitlinien. Um einen Konsens zu erzielen, werden in der Regel multidisziplinäre Expertengruppen gebildet, die sich aus Vertretern verschiedener Fachrichtungen zusammensetzen. Diese Expertengruppen diskutieren die verfügbare Evidenz und entwickeln gemeinsam Empfehlungen, die von allen Mitgliedern getragen werden.
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Beispiele für AWMF-Leitlinien mit Beteiligung der DGN
Die DGN ist federführend oder beteiligt an der Entwicklung zahlreicher AWMF-Leitlinien, die verschiedene neurologische Erkrankungen und Themenbereiche abdecken. Zu den wichtigsten Leitlinien gehören:
- S3-Leitlinie Diagnostik und Therapie der traumatischen und nicht-traumatischen Querschnittlähmung: Diese Leitlinie soll Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie der traumatischen und nicht-traumatischen Querschnittlähmung für das Gesundheitssystem in Deutschland, Österreich und der Schweiz zur Verfügung zu stehen. Sie basiert auf der besten veröffentlichten Evidenz sowie Experten-Konsensus und soll bestmögliche klinische Empfehlungen für die Diagnosestellung und die Therapie der traumatischen und nicht-traumatischen Querschnittlähmung beinhalten. Sie soll dem Arzt und auch dem Patienten eine informierte Entscheidung im Hinblick auf Therapieoptionen ermöglichen und deckt Themen auf, die aufgrund von kontroversen Diskussionen und/oder mangelhafter Datenlage weiterer Forschung bedürfen.
- S3-Leitlinie zum Management von Schmerz, Delir, Stress und Angst auf der Intensivstation: Das Management von Schmerz, Delir, Stress und Angst sind integrale Bestandteile einer intensivmedizinischen Therapie und beeinflussen das Behandlungsergebnis maßgeblich. Die Weiterentwicklung von Konzepten und die neu verfügbare Evidenz macht eine Überarbeitung der bestehenden S3-Leitlinie in vielen Bereichen notwendig.
- S3-Leitlinie Adulte Weichgewebesarkome: Das primäre Ziel der vorliegenden S3-Leitlinie „Adulte Weichgewebesarkome“ ist die Entwicklung von Empfehlungen für eine evidenzbasierte Diagnostik und Therapie in Abhängigkeit von Histologie und Tumorstadium. Dies gilt für die adäquate Bildgebung, die histologische Sicherung, die chirurgische Primärtherapie, die medikamentöse Behandlung, insbesondere deren zeitliche und modulare Kombinationen in den verschiedenen Stadien der Erkrankung, und die spezielle Tumornachsorge.
Weitere Beispiele für AWMF-Leitlinien anderer Fachgesellschaften
Neben den von der DGN federführend betreuten Leitlinien gibt es zahlreiche weitere AWMF-Leitlinien, die für Neurologen relevant sein können. Dazu gehören beispielsweise:
- S3-Leitlinie Vorhofflimmern: Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie - Herz- und Kreislaufforschung e.V.
- S3-Leitlinie Kreuzschmerzen: Ziel ist die Verbesserung der Versorgung von Patienten mit Kreuzschmerzen in Deutschland durch verbesserte Koordination der verschiedenen Sektoren und Fachdisziplinen. Federführend ist das NVL-Programm von BÄK, KBV, AWMF.
- S3-Leitlinie Supportive Therapie in der Onkologie: Mit der interdisziplinären Leitlinie Supportive Therapie wird die Grundlage für inhaltlich gezielte ärztliche Aus-, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen geschaffen und damit eine Verbesserung bzw. Optimierung der Versorgung angestrebt. Federführend ist die Deutsche Krebsgesellschaft e.V. (DKG).
- S3-Leitlinie Onkologische Bewegungstherapie: Das Ziel der geplanten Querschnittsleitlinie ist die wissenschaftlich begründete Definition von Standards bei den wichtigsten Themen der Onkologischen Bewegungstherapie. Mit Hilfe der geplanten Leitlinie soll die wissenschaftliche Evidenz von Sport- und Bewegungstherapie bei onkologischen Patienten aus u.a. 800 RCTs systematische zusammengefasst und aufbereitet werden, und medizinischem Fachpersonal und Patienten zur Verfügung gestellt werden. Federführend ist die Deutsche Krebsgesellschaft e.V. (DKG).
- S3-Leitlinie Opioidinduzierte Obstipation: Die Leitlinie gibt Behandelnden und Patientinnen/Patienten mit CNTS-Orientierungshilfen über den möglichen Nutzen und Schaden von opioidhaltigen Analgetika. Ärzte erhalten konkrete Handlungsvorschläge für die Durchführung und Beendigung einer Therapie mit opioidhaltigen Analgetika. Unter Berücksichtigung der Kriterien der evidenzbasierten Medizin entsprechen die Empfehlungen dem besten Stand der Erkenntnisse aus Wissenschaft (beste aktuell verfügbare Evidenz) und den Erfahrungen der klinischen Praxis. Federführend ist die Deutsche Schmerzgesellschaft e.V.
- S3-Leitlinie Invasive Beatmung: Die Leitlinie verfolgt das Ziel, evidenzbasierte Empfehlungen für die Indikation und Durchführung invasiver Beatmung sowie damit zusammenhängender begleitender Maßnahmen zu geben. Wir streben an, mit der Leitlinie zur besseren Etablierung protektiver Beatmungskonzepte im klinischen Alltag beizutragen. Federführend ist die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin e.V. (DGAI).
- S2k-Leitlinie Prolongiertes Weaning: Diese Leitlinie verfolgt das Ziel, konsentierte Aussagen zur Diagnostik und therapeutischen Strategien bei Patienten im prolongierten Weaning zu vermitteln. In der Leitlinie werden Definitionen, Epidemiologie und Weaning-Kategorien, die zugrundeliegende Pathophysiologie, Strategien zur Prävention von prolongiertem Weaning, das gesamte Spektrum der verfügbaren Therapiestrategien, die Weaning-Einheit, die Überleitung in eine außerklinische Beatmung und schließlich Empfehlungen zu Therapieentscheidungen am Ende des Lebens bei prolongiertem bzw. Federführend ist die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin e.V. (DGP).
- S3-Leitlinie Extracranielle Carotisstenosen: Zielsetzung der Leitlinie ist die Sicherstellung einer evidenzbasierten, flächendeckenden, optimalen Versorgung von Patienten mit extracraniellen Carotisstenosen in Deutschland. Sie soll entsprechend der Definition von Leitlinien zur Entscheidungsfindung für Arzt und Patient bei diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen dienen. Federführend ist die Deutsche Gesellschaft für Gefäßchirurgie und Gefäßmedizin - Gesellschaft für operative, endovaskuläre und präventive Gefäßmedizin e.V. (DGG).
- S3-Leitlinie Periphere Nervenverletzungen: Die erwähnte Unsicherheit über adäquate Diagnostik und Therapie führt zu einer großen Variationsbreite in der Versorgungsqualität von Patienten mit peripheren Nervenverletzungen. Ziel dieser Leitlinie ist es daher, verlässliche und allgemein akzeptierte Definitionen des Notwendigen und Angemessenen in Prävention, Diagnostik und Therapie zu geben. Federführend sind die Deutsche Gesellschaft für Handchirurgie e.V. (DGH), die Deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie e.V. (DGNC), die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN), die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie e.V. (DGOOC), die Deutsche Gesellschaft der Plastischen, Rekonstruktiven und Ästhetischen Chirurgen e.V. (DGPRÄC) und die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie e.V. (DGU).
- S2k-Leitlinie Katastrophenmedizinische Schadenslagen: Ziel der Leitlinie ist die Erstellung von präklinischen Behandlungsleitlinien und Handlungsempfehlungen für katastrophenmedizinische Schadenslagen (inklusive der Versorgungsstufen 3 und 4) zur Sicherung der adäquaten medizinischen Versorgung von Verletzten, Erkrankten und Betroffenen als interdisziplinäre und bundesweit einheitliche Basis. Federführend ist die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin e.V. (DGAI).
- S3-Leitlinie Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit einer Krebserkrankung - Palliativversorgung: Ziel der Leitlinie ist die Verbesserung der Symptomkontrolle von Kindern und Jugendlichen mit Krebserkrankungen in den verschiedenen Behandlungskontexten (sektorenübergreifend stationär und ambulant), sowie die Verbesserung der Versorgungsqualität für die Patienten und ihre Familien sowie die Förderung der Aufmerksamkeit für den Bedarf an palliativmedizinischer Versorgung. Im ersten Schritt fokussiert sich die Arbeitsgruppe auf 4 Themen - Schmerz, Atemnot, Vorausplanung von Therapieentscheidungen (Advanced Care Planning) und Versorgungsstrukturen. Federführend ist die Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH).
Bedeutung der AWMF-Leitlinien für die neurologische Praxis
Die AWMF-Leitlinien stellen einen wichtigen Bezugspunkt für die neurologische Praxis dar. Sie bieten Neurologen eine fundierte Grundlage für ihre Entscheidungen in Bezug auf Diagnostik, Therapie und Prävention neurologischer Erkrankungen. Durch die Anwendung der Leitlinien können Neurologen sicherstellen, dass ihre Patienten eine qualitativ hochwertige und evidenzbasierte Versorgung erhalten.
Verbesserung der Versorgungsqualität
Ein Hauptziel der AWMF-Leitlinien ist die Verbesserung der Versorgungsqualität in der Medizin. Durch die Bereitstellung von evidenzbasierten Empfehlungen sollen die Leitlinien dazu beitragen, dass Patienten die bestmögliche Behandlung erhalten. Dies kann sich in verschiedenen Aspekten der Versorgung widerspiegeln, wie z. B. einer schnelleren und genaueren Diagnosestellung, einer effektiveren Therapie und einer besseren Prävention von Komplikationen.
Unterstützung der Entscheidungsfindung
Die AWMF-Leitlinien sollen Ärzte und andere medizinische Fachkräfte bei der Entscheidungsfindung unterstützen. Sie bieten einen strukturierten Rahmen, der es ermöglicht, die verfügbare Evidenz systematisch zu berücksichtigen und die Vor- und Nachteile verschiedener Behandlungsoptionen abzuwägen. Dies kann insbesondere in komplexen Fällen hilfreich sein, in denen es keine eindeutige Antwort auf die Frage gibt, welche Behandlung die beste ist.
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Förderung der interdisziplinären Zusammenarbeit
Viele AWMF-Leitlinien werden von multidisziplinären Expertengruppen entwickelt, die sich aus Vertretern verschiedener Fachrichtungen zusammensetzen. Dies fördert die interdisziplinäre Zusammenarbeit und den Austausch von Wissen und Erfahrungen. Durch die Berücksichtigung der Perspektiven verschiedener Fachrichtungen können die Leitlinien dazu beitragen, dass Patienten eine umfassende und koordinierte Versorgung erhalten.
Kritik und Limitationen von Leitlinien
Obwohl AWMF-Leitlinien viele Vorteile bieten, gibt es auch Kritik und Limitationen, die berücksichtigt werden müssen.
Mangelnde Flexibilität
Ein Kritikpunkt an Leitlinien ist, dass sie möglicherweise nicht flexibel genug sind, um den individuellen Bedürfnissen jedes Patienten gerecht zu werden. Leitlinien basieren auf der Evidenz, die für die Mehrheit der Patienten gilt, aber es kann Fälle geben, in denen eine Abweichung von den Empfehlungen der Leitlinie gerechtfertigt ist. Es ist wichtig, dass Ärzte die Leitlinien als Orientierungshilfe betrachten und ihre Entscheidungen immer im Einzelfall treffen.
Aktualität
Ein weiteres Problem ist, dass Leitlinien möglicherweise nicht immer auf dem neuesten Stand sind. Die medizinische Forschung entwickelt sich ständig weiter, und neue Erkenntnisse können dazu führen, dass die Empfehlungen in den Leitlinien veraltet sind. Es ist daher wichtig, dass Ärzte sich regelmäßig über die neuesten Entwicklungen in ihrem Fachgebiet informieren und die Leitlinien kritisch hinterfragen.
Interessenkonflikte
Es besteht die Möglichkeit, dass die Entwicklung von Leitlinien durch Interessenkonflikte beeinflusst wird. Beispielsweise könnten Mitglieder der Expertengruppe finanzielle Beziehungen zu Pharmaunternehmen haben, die von den Empfehlungen der Leitlinie profitieren. Es ist wichtig, dass Interessenkonflikte offengelegt werden und dass Maßnahmen ergriffen werden, um ihren Einfluss auf die Leitlinienentwicklung zu minimieren.
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