Irreversible Nervenschädigungen im Unterkiefer sind nach zahnärztlichen Eingriffen, insbesondere bei der Verwendung von Lokalanästhesie, selten. Trotzdem ist es wichtig, Patienten über mögliche Komplikationen und Behandlungsalternativen aufzuklären. Dieser Artikel beleuchtet die Ursachen von Nervenschädigungen im Unterkiefer, insbesondere im Zusammenhang mit zahnärztlichen Eingriffen, und diskutiert mögliche Behandlungsoptionen.
Ursachen für Nervenschädigungen im Unterkiefer
Für Sensibilitätsstörungen des Nervus lingualis und Nervus alveolaris inferior werden verschiedene Ursachen diskutiert. Zu den häufigsten Ursachen gehören:
- Dentale Leitungsanästhesie: Eine Verletzung des Nervs kann durch die Injektion des Lokalanästhetikums in die Umgebung des Nervenstammes oder in den Nerv selbst entstehen. Der Nerv kann mechanisch durch die Kanülenspritze irritiert werden.
- Wurzelkanalbehandlungen: Bei endodontischen Behandlungen von Molaren im Unterkiefer kann es zu einer Verletzung des Nervus alveolaris inferior kommen. Eine Überinstrumentierung kann den Nerv direkt verletzen, während das Überpressen der Wurzelkanalfüllung ein Kompressionstrauma oder ein neurotoxisches Trauma durch Spüllösungen bzw. Sealer verursachen kann.
- Chirurgische Eingriffe:
- Implantationen: Bei der Insertion von enossalen Implantaten kann es zu Nervschädigungen kommen, insbesondere wenn die Implantatlänge falsch gewählt wurde oder der Trigeminusnerv während des Einsetzens des Implantats oder beim Bohren des Lochs für den Stift verletzt wird.
- Weisheitszahnentfernungen: Iatrogene Sensibilitätsstörungen des Nervus alveolaris inferior und des Nervus lingualis können bei der operativen Weisheitszahnentfernung auftreten. Diese können durch direktes scharfes oder stumpfes Trauma, postoperative Ödem- und Hämatombildung sowie Wundinfektionen verursacht werden.
- Unterkieferfrakturen: Frakturen des Unterkiefers, meist durch Unfälle verursacht, sind häufig mit Verletzungen des Nervus alveolaris inferior verbunden.
- Andere lokale Faktoren: Traumata, verdrängende Läsionen wie Neoplasien oder Zysten, lokale Infektionen, iatrogene Läsionen nach Zahnentfernung, Zahntransplantation, Wurzelkanalbehandlung, Anästhesieinjektion, implantologischen Eingriffen, orthodontischer oder präprothetischer Chirurgie sowie impaktierte Zähne können ebenfalls zu Nervschädigungen führen.
- Systemische Ursachen: Bakterielle und virale Entzündungen, Sarkoidose, multiple Sklerose, Metastasen, Leukämie und Lymphome können ebenfalls Ursachen für Sensibilitätsstörungen sein.
Prävalenz und Risikofaktoren
Die Literatur gibt eine Prävalenz von reversiblen Sensibilitätsstörungen nach zahnärztlichen Eingriffen mit 0,1 Prozent an, während die Häufigkeit von Dauerschädigungen unter 0,01 Prozent liegt. Eine eigene Untersuchung von 1.560 Leitungsanästhesien ergab eine temporäre Sensibilitätsstörung in 0,06 Prozent der Fälle. Das vollständige Abklingen der Symptome kann je nach Ausmaß der Schädigung zwischen wenigen Tagen und mehreren Monaten dauern.
Risikofaktoren für Nervschädigungen umfassen:
- Anatomische Nähe des Nervs: Die Wurzelspitzen der Unterkiefermolaren haben häufig eine enge Lagebeziehung zum Kanal des Nervus alveolaris inferior.
- Alter und Wurzelausbildung: Bei Weisheitszahnentfernungen sind ältere Patienten (> 25 Jahre) und Patienten mit voll ausgebildeten Wurzeln einem höheren Risiko ausgesetzt.
- Tiefe Verlagerung der Weisheitszähne: Postoperative Sensibilitätsstörungen treten häufiger auf, wenn die Weisheitszähne tief verlagert sind oder die Wurzelspitze den Mandibularkanal auf dem präoperativen Röntgenbild überlagert.
- Erfahrung des Operateurs: Die Erfahrung des Operateurs spielt eine wichtige Rolle bei der Vermeidung von Nervschädigungen.
- Analgosedierung oder Operationen in ITN: Bei Operationen unter Analgosedierung oder Intubationsnarkose kommt es vermehrt zu Druckschäden des Nervus lingualis, da hier unter anderem der Zungenretraktor eingesetzt wird.
- Bestimmte Medikamente: Die Behandlung mit Bisphosphonaten kann sich negativ auf den Kieferbereich auswirken und das Risiko von Osteonekrosen erhöhen, was wiederum Sensibilitätsstörungen verursachen kann.
- Konzentration des Anästhetikums: Es wurde beobachtet, dass die Schädigung des Nervs am ehesten von der Konzentration des Anästhetikums abhängt (Cave: Nachinjektion).
Diagnose
Die Diagnose von Nervschädigungen im Unterkiefer umfasst in der Regel:
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- Klinische Untersuchung: Beurteilung der Empfindungsqualität der Unterlippe, Überprüfung der Spitz-Stumpf-Diskriminanz, Untersuchung der Vitalität der Zähne und der Sensibilität der Gingiva.
- Neurologische Untersuchung: Bewertung des neurologischen Status anhand der geschädigten Äste des Trigeminusnervs.
- Bildgebung: Röntgenaufnahmen oder digitale Volumentomographie (DVT) zur Beurteilung der Lage des Nervs und möglicher Ursachen der Schädigung. Die digitale Volumentomographie (DVT) ermöglicht eine präzise Bestimmung des Verlaufs des Kanals und somit auch indirekt der Lage des Nervs. Auch aktuelle DVT-Geräte mit Low-Dose-Funktion sind strahlungsarme Alternativen. Eine aussichtsreiche Alternative für die Zukunft könnte die Darstellung mittels Magnetresonanztomographie (MRT) sein, die den Vorteil der Strahlungsfreiheit bietet und eine Visualisierung des eigentlichen Nervs ermöglicht
- Elektrophysiologische Tests: Somatosensorisch evozierte Potenziale und Kieferöffnungsreflex zur Objektivierung und Bewertung der Nervschädigung.
Behandlungsoptionen
Die Behandlung von Nervschädigungen im Unterkiefer hängt von der Ursache und dem Ausmaß der Schädigung ab. Zu den möglichen Behandlungsoptionen gehören:
- Konservative Therapie:
- Abwarten der spontanen Regeneration: In vielen Fällen, insbesondere bei leichten Verletzungen (Neuropraxie), kann eine spontane Verbesserung der Beschwerden innerhalb von zwei bis drei Monaten beobachtet werden.
- Medikamentöse Therapie: Antiphlogistika, Antibiotika und Kortikosteroide zur Unterdrückung von Entzündungen und Vorbeugung von Infektionen. Kortikosteroide (z.B. Decortin) können für drei bis vier Tage in folgender Dosierung verabreicht werden: 1. Tag 20 mg, 2.Tag 10 mg, 3. Tag 5 mg.
- Vitaminpräparate: Gabe von Vitaminpräparaten (meist Vitamin B) und Ernährungszusätzen zur Unterstützung der Nervregeneration.
- Physiotherapie: Akupunktur, gezielte Massage, Elektrophorese und Ultraschalltherapie zur Beschwerdelinderung. Neuere Behandlungsmethoden sind die Akupunktur mit elektrischer Nadelstimulation und die aktivierte Akupunktur mit elektrischer Nadelstimulation.
- Medikamentöse Kombinationsbehandlung: In einigen Fällen kann eine medikamentöse Kombinationsbehandlung mit Prednison (Kortikosteroid) in der ersten Woche und Pregabalin (Antiepileptikum) über die ersten drei Wochen in Betracht gezogen werden.
- Chirurgische Therapie:
- Dekompression des Nervs: Bei Kompression des Nervs durch überstopftes Wurzelkanalfüllmaterial oder andere Ursachen kann eine operative Dekompression des Nervs erforderlich sein. Die zeitnahe operative Entfernung des Materials ist indiziert, um bleibende toxische Schäden des Nerven zu vermeiden.
- Nervtransplantation: Bei Kontinuitätsunterbrechung des Nervs kann eine Nervtransplantation in Betracht gezogen werden. Die Möglichkeit einer mikroneurochirurgischen Rekonstruktion des Nervus alveolaris inferior sollte initial nur bei einer sichtbaren Durchtrennung in Betracht gezogen werden. Ansonsten lässt sich bei mehr als 50 Prozent der Nervläsionen eine spontane Verbesserung der Beschwerden innerhalb der ersten zwei bis drei Monate beobachten. Ein solcher Eingriff ist in der Regel deshalb frühestens nach einer zweimonatigen Beobachtungsdauer zu überlegen, kann aber nicht vorhersagbar eine Rehabilitation der Gefühlssensation zur Folge haben. Außerdem werden Fälle beschrieben, bei denen es selbst nach 18 bis 24 Monaten noch zu einer spontanen Verbesserung der Beschwerden gekommen ist. Aus diesem Grund empfehlen wir ein regelmäßiges Recall innerhalb der ersten zwei Jahre. Dieses Nachsorgeintervall sollte in folgenden Zeiträumen stattfinden: Diagnose Sensibilitätsstörung - eine Woche - vier bis sechs Wochen - drei Monate - sechs bis neun Monate - zwölf Monate - 18 Monate - zwei Jahre.
- Resektion des Nervensegmentes: Bei Nervschädigungen chemisch-toxischer Genese kann die Resektion des Nervensegmentes mit anschließender Nervtransplantation die Therapie der Wahl darstellen.
- Wurzelspitzenresektion: Im Rahmen des Eingriffs erfolgte in Lokalanästhesie zunächst eine vestibuläre Schnittführung Regio 47 mit einer mesialen Entlastung. Nach Elevation eines Mukoperiostlappens wurden die Wurzelspitzen des Zahns 47 mit rotierenden Instrumenten und dann mit dem Piezosurgery-Gerät (Mectron) dargestellt (Abb. 4). Im Anschluss an die Trennung und Entfernung der Wurzelspitzen konnte das verbliebene Wurzelkanalfüllmaterial unter Zuhilfenahme eines Mikroskops und Schonung des Nervus alveolaris inferior aus dem Canalis mandibulae geborgen werden (Abb. 5 bis 7). Eine eindrückliche Dekompression des Nervus alveolaris inferior fand unmittelbar danach spontan statt. Da ein weiteres Trauma des Nerv-Gefäß-Komplexes vermieden werden sollte und die Wurzelkanalfüllung kurz zuvor suffizient durchgeführt worden war, wurde auf eine retrograde Aufbereitung und Füllung verzichtet. Eine Anfärbung der Wurzelspitzen mit Methylenblau zeigte eine dichte Wurzelkanalfüllung. Im postoperativen Kontrollröntgenbild war kein Fremdmaterial mehr im Canalis mandibulae nachweisbar (Abb. 8). Im Anschluss an einen primären Nahtverschluss mit Supramid 5-0 wurden Termine für die Wundkontrolle (nach drei Tagen) und die Nahtentfernung (nach 7 Tagen) vereinbart. Als Schmerzmedikation wurden der Patientin Paracetamol 500 mg 1-1-1 sowie Ibuprofen 400 mg 1-1-1 als Kombinationstherapie empfohlen und mitgegeben.
- Alternative Lokalanästhesie-Verfahren:
- Infiltrationsanästhesie: Die Infiltrationsanästhesie kann vielfach anstelle der Leitungsanästhesie verwendet werden, selbst bei dentoalveolären Eingriffen einschließlich der Insertion von enossalen Implantaten. Um auch über die Dauer des Eingriffs ausreichend lange und tief zu anästhesieren, wird an der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie 4%iges Articainhydrochlorid mit Adrenalin 1:100.000 verwendet.
- Intraligamentäre Anästhesie: Die intraligamentäre Anästhesie (ILA) ermöglicht die Analgesie eines einzelnen Zahnes (Einzelzahnanästhesie). Dabei wird das Anästhetikum in das Ligamentum circulare via Sulcus gingivalis (Zahnfleischfurche) des zu anästhesierenden Zahnes injiziert.
Prophylaktische Maßnahmen
Um Nervschädigungen im Unterkiefer zu vermeiden, sind folgende prophylaktische Maßnahmen wichtig:
- Sorgfältige Planung: Vor chirurgischen Eingriffen an den Wurzelspitzen von Zähnen mit einer möglichen Verbindung oder Überlagerung zum Canalis mandibulae sollte eine dreidimensionale Bildgebung zur präzisen Planung erfolgen.
- Schonende Operationstechnik: Während der Operation müssen gefährdete anatomische Strukturen maximal geschont werden. Bei der Schnittführung dürfen der Nervus lingualis und der Nervus mentalis nicht verletzt werden.
- Vermeidung von Überinstrumentierung: Bei endodontischen Behandlungen sollte eine Überinstrumentierung vermieden und auf die Spülung mit Natriumhypochlorit verzichtet werden, falls eine direkte Kommunikation zwischen Wurzelspitzen und Mandibularkanal besteht.
- Wahl des Sealers: Eugenol- oder paraformaldehydhaltige Sealer sind in der endodontischen Obturation wegen ihres Potenzials der chemischen Zersetzung von Nervaxonen ohnehin nicht mehr empfohlen.
- Alternative Anästhesieverfahren: Infiltrationsanästhesie oder intraligamentäre Anästhesie können in bestimmten Fällen eine Alternative zur Leitungsanästhesie darstellen, um das Risiko einer Nervschädigung zu minimieren.
- Patientenaufklärung: Der Patient muss vor jedem Eingriff über mögliche Risiken und Komplikationen aufgeklärt werden.
Rechtliche Aspekte
Bei der Frage der zahnärztlichen Haftung bei Nervschädigungen durch eine Leitungsanästhesie hat die Rechtsprechung in den letzten Jahren zu mehr Klarheit geführt. Nach dem Urteil des OLG Koblenz greift bei einer Nervschädigung durch Leitungsanästhesie die Arzthaftung, wenn nicht zweifelsfrei belegt werden kann, dass in einer thematisierenden Anhörung des Patienten in der insbesondere die Schwere, Dringlichkeit und die Alternativen des jeweiligen Eingriffs geklärt wurden, der Patient nach ordnungsgemäßer Aufklärung in die Behandlung eingewilligt hat.
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