Blickwendung bei epileptischen Anfällen: Ein umfassender Überblick

Epileptische Anfälle stellen eine Herausforderung in der neurologischen Diagnostik dar. Die korrekte Identifizierung der Anfallsart ist entscheidend für die Wahl der geeigneten Therapie und die Verbesserung der Lebensqualität der Betroffenen. Dieser Artikel bietet einen umfassenden Überblick über verschiedene Anfallsarten, ihre Charakteristika und differenzialdiagnostische Überlegungen.

Was ist ein epileptischer Anfall?

Ein epileptischer Anfall ist ein vorübergehendes Ereignis, das durch eine plötzliche, unkontrollierte elektrische Entladung von Nervenzellen im Gehirn verursacht wird. Diese Entladung kann zu einer Vielzahl von Symptomen führen, die von kurzen Bewusstseinspausen bis hin zu heftigen Krämpfen reichen.

Häufigkeit von Epilepsie und epileptischen Anfällen

Epileptische Anfälle sind relativ häufig. Bis zu fünf Prozent der Bevölkerung erleiden irgendwann in ihrem Leben einen epileptischen Anfall. Epilepsien im eigentlichen Sinne sind seltener, betreffen aber noch immer etwa 0,7 Prozent der Bevölkerung. Eine Epilepsie liegt vor, wenn mehrere epileptische Anfälle ohne vermeidbare Auslösefaktoren aufgetreten sind bzw. wenn sich nach einem ersten epileptischen Anfall in der neurologischen Untersuchung Hinweise auf ein hohes Wiederholungsrisiko ergeben.

Klassifikation epileptischer Anfälle

Die Internationale Liga gegen Epilepsie (ILAE) klassifiziert epileptische Anfälle basierend auf ihrem Ursprung und ihrer Ausbreitung im Gehirn. Grundsätzlich unterscheidet man zwischen fokalen und generalisierten Anfällen.

Fokale Anfälle

Fokale Anfälle beginnen in einem begrenzten Bereich des Gehirns. Die Symptome hängen davon ab, welcher Bereich des Gehirns betroffen ist. Fokale Anfälle können sich auf beide Hirnhemisphären ausbreiten und zu einem generalisierten tonisch-klonischen Anfall werden.

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Fokale Anfälle werden weiter unterteilt in:

  • Fokale Anfälle mit erhaltenem Bewusstsein: Der Betroffene ist während des Anfalls bei Bewusstsein und kann sich an das Ereignis erinnern.
  • Fokale Anfälle mit Bewusstseinsstörung: Das Bewusstsein ist während des Anfalls beeinträchtigt. Der Betroffene kann verwirrt sein oder nicht auf Ansprache reagieren.

Je nachdem, ob der Anfall mit oder ohne motorische Symptome einhergeht, wird zusätzlich unterschieden in:

  • Motorischer Beginn: Automatismen, Atonie, klonische oder tonische Zuckungen, epileptische Spasmen, hyperkinetische oder myoklonische Bewegungen.
  • Nicht-motorischer Beginn: Autonome, kognitive oder emotionale Symptome, Innehalten, sensible oder sensorische Phänomene.

Generalisierte Anfälle

Generalisierte Anfälle betreffen von Anfang an beide Hirnhemisphären. Es gibt keinen Hinweis auf einen lokalen Beginn im Gehirn.

Zu den generalisierten Anfällen gehören:

  • Tonisch-klonische Anfälle (Grand-mal-Anfälle): Dies ist die bekannteste Anfallsform. Der Betroffene verliert das Bewusstsein, versteift sich (tonische Phase) und zuckt anschließend am ganzen Körper (klonische Phase).
  • Absencen (Petit-mal-Anfälle): Kurze Bewusstseinspausen von wenigen Sekunden Dauer, oft mit raschem Lidschlag oder Blickwendung nach oben.
  • Myoklonische Anfälle: Kurze, unwillkürliche Zuckungen einzelner Muskeln oder Muskelgruppen.
  • Atonische Anfälle: Plötzlicher Verlust des Muskeltonus, der zu Stürzen führen kann.
  • Klonische Anfälle: Rhythmische Zuckungen am ganzen Körper.
  • Tonische Anfälle: Versteifung der Muskulatur.
  • Epileptische Spasmen: Plötzliche, kurze Kontraktionen der Muskulatur, oft bei Säuglingen und Kleinkindern.

Anfallsformen im Detail

Absence-Anfälle (Petit-mal)

Bei einem Absence-Anfall (Petit-mal) steht ein abrupter Aufmerksamkeitsverlust gegenüber der Umgebung im Vordergrund, der jedoch ohne Bewusstlosigkeit einhergeht. Es handelt sich um die mildeste Ausprägung generalisierter Anfälle. Sie können sowohl bei der frühkindlichen Absence-Epilepsie als auch bei der Absence-Epilepsie des Schulkindesalters (Pyknolepsie) sowie beim Janz-Syndrom auftreten. Je nach Ausprägung unterteilt man die typischen Absencen in zwei Untergruppen: in die einfachen und in die komplexen Absencen.

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Bei den einfachen Absencen ist nur eine Bewusstseinspause zu bemerken, während bei den komplexen Absencen noch vielfältige weitere Merkmale hinzukommen. Bei den einfachen Absencen handelt es sich um eine plötzlich beginnende und endende Bewusstseinspause, die einige Sekunden selten bis zu einer halben Minute lang andauert. Der Blick ist starr und leer, die Gesichtszüge sind ausdruckslos. Das Kind hält bei der gerade durchgeführten Tätigkeit inne und nimmt diese nach Beendigung der Absence wieder auf. Tritt eine Absence während des Sprechens auf, so wird die Sprache unterbrochen oder das Kind spricht langsamer; geht es gerade, dann bleibt es wie angewurzelt stehen: isst es gerade, so führt es das Essen nicht zum Mund. In Schulheften kann man unterbrochene Schriftzüge erkennen. Gewöhnlich reagiert das Kind nicht auf Ansprache.

Bei den komplexen Absencen geht die Bewusstseinsstörung mit Begleiterscheinungen einher. Diese können sich in Form von leichten beidseitigen rhythmischen Zuckungen, vorwiegend im Bereich des Gesichtes (Augenlider, Mundwinkel), der Schultern und Arme, äußern. Es kommt vor, dass einzelne Muskelpartien erschlaffen, so dass etwa der Kopf absinkt oder der Rumpf zusammensackt. Aber auch eine Anspannung der Körpermuskulatur tritt bei manchen Anfallsformen auf, wobei der Kopf nach hinten gezogen wird und der Blick nach oben gerichtet ist (Sternguckerzeichen).

Die atypischen Absencen sind durch ausgeprägtere Begleiterscheinungen als die typischen Absencen gekennzeichnet. Beginn und Ende treten nicht so abrupt auf. Ein besonderes Kennzeichen der atypischen Absencen ist ihre Neigung, immer häufiger hintereinander aufzutreten, bis schließlich ein Anfall in den nächsten übergeht. Dieser gefährliche Zustand wird Absence-Status genannt. Nach einem tagelangen Absence-Status büßen einige der Kinder schon erlernte Fähigkeiten wieder ein.

Klonische Anfälle

Diese Anfälle sind durch wiederholte Zuckungen gekennzeichnet, ohne nachfolgende Verkrampfung der Muskulatur. Die Anfälle dauern gewöhnlich nur kurz an. Klonische Anfälle treten vor allem bei sehr jungen Kindern auf, insbesondere bei Neugeborenen.

Tonische Anfälle

Beim tonischen Anfall kommt es zu einer allgemeinen Versteifung der Muskulatur. Überwiegt die Verkrampfung der Beugemuskeln, kommt es zu einer Beugehaltung des Körpers, wobei die Arme gebeugt oder gestreckt oder emporgehoben werden. Überwiegt dagegen die Verkrampfung der Streckmuskulatur, kann hieraus eine Überstreckung des ganzen Körpers resultieren. Die Dauer solcher Anfälle beträgt bis zu 30 Sekunden. Tonische Anfälle treten bevorzugt aus dem Schlaf heraus auf und haben dann häufig eine milde Form: Kurzes Überstrecken des Kopfes, der sich dabei ins Kopfkissen drückt, verbunden mit einem kurzen Öffnen der Augen. Diese kurzen Anfälle aus dem Schlaf heraus können leicht übersehen werden. Wenn die tonische Verkrampfung der Brust- und Bauchmuskulatur zu einem kurzen gepressten Schrei führt, werden Eltern oder Beobachter auf die Anfälle aufmerksam. Treten tonische Anfälle aus dem Wachzustand beim Gehen oder Stehen auf, führen sie zu schweren abrupten Stürzen mit erheblicher Verletzungsgefahr.

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Generalisierte tonisch-klonische Anfälle (Grand-mal-Anfälle)

Die häufigsten generalisierten Anfälle sind die generalisierten tonisch-klonischen Anfälle, die oft noch als Grand-mal-Anfälle bezeichnet werden. Der typische Grand-mal-Anfall läuft in der Regel in mehreren Stadien ab:

  • Präkonvulsive Phase: Das Kind ist Stunden oder Tage vor dem Anfall unruhig, stimmungslabil, missmutig oder reizbar. Es schläft unruhig und klagt über Bauchschmerzen. Öfters wird der Anfall durch ein vages, schlecht beschreibbares Vorgefühl (auch als Aura bezeichnet) eingeleitet. Kleinere Kinder kommen oft ängstlich zur Mutter gelaufen und sagen: „Ich hab’s…“ oder „es kommt“. Andere Kinder halten im Spiel versonnen ein, werden schlaff und fallen um.
  • Konvulsive Phase: Typischerweise beginnt der Anfall mit der einsetzenden Bewusstlosigkeit, die oft mit einem gepressten Schrei verbunden ist. Es kommt zu einer Versteifung sämtlicher Gliedmaßen (tonisches Anspannen). Bei aufrechter Körperhaltung stürzt der Patient und kann sich verletzen. Der Gesichtsausdruck ist entstellt, die Gesichtsfarbe zunächst blass, später bläulich. Diese Anspannungsphase hält etwa 10 bis 30 Sekunden lang an, gelegentlich auch länger. Im darauffolgenden klonischen Stadium treten symmetrische Zuckungen am ganzen Körper auf, die besonders an Kopf, Armen und Beinen sichtbar sind und etwa 40-60 Sekunden andauern. Zu Beginn des Anfalls zeigt sich ein kurzer Atemstillstand, später eine verlangsamte und erschwerte Atmung. Es wird schaumiger Speichel abgesondert. Gelegentlich beißen sich die Betroffenen auf die Zunge, nässen oder koten ein.
  • Postkonvulsive Phase: Am Ende des Anfalls fallen die Kinder von der Bewusstlosigkeit in einen tiefen Nachschlaf, der bei einigen von ihnen nur sehr kurz anhält, bei anderen aber viele Stunden dauern kann.

Sturzanfälle (Astatische/Atonische Anfälle)

Sturzanfälle werden auch als astatische (atonische) Anfälle bezeichnet. Es handelt sich um Anfälle, bei denen das Kind plötzlich zu Boden stürzt.

Ursachen von Epilepsie und epileptischen Anfällen

Epileptische Anfälle werden verursacht durch eine ungesteuerte, synchrone Übererregung von Nervenzellen im Gehirn. Die Ursachen für diese Übererregung können vielfältig sein:

  • Strukturelle Ursachen: Schädigungen des Gehirns durch Schlaganfall, Schädel-Hirn-Trauma, Hirntumoren, Hirnoperationen oder ZNS-Infektionen.
  • Genetische Ursachen: Vererbung einer Veranlagung zu epileptischen Anfällen.
  • Metabolische Ursachen: Stoffwechselstörungen, die die Funktion des Gehirns beeinträchtigen.
  • Immunvermittelte Ursachen: Autoimmunerkrankungen, die das Gehirn angreifen.
  • Infektiöse Ursachen: ZNS-Infektionen wie Meningitis oder Enzephalitis.
  • Unbekannte Ursachen: In vielen Fällen kann die Ursache der Epilepsie nicht gefunden werden.

Diagnose von Epilepsie und epileptischen Anfällen

Die Diagnose eines epileptischen Anfalls bzw. einer Epilepsie beruht auch heute noch ganz überwiegend auf der Beschreibung der Anfallsereignisse. Deshalb ist es von außerordentlicher Wichtigkeit, dass außer dem Patienten auch ein Angehöriger, der die Anfälle beobachtet hat, bei der Anamneseerhebung anwesend ist.

Zur Diagnostik gehören:

  • Anamnese: Detaillierte Befragung des Patienten und von Zeugen des Anfalls.
  • Neurologische Untersuchung: Untersuchung der neurologischen Funktionen des Patienten.
  • EEG (Elektroenzephalogramm): Messung der Hirnströme, um epileptiforme Aktivität festzustellen.
  • Bildgebung des Gehirns (CT oder MRT): Um strukturelle Ursachen der Epilepsie auszuschließen oder zu identifizieren.
  • Labordiagnostik: Um metabolische oder infektiöse Ursachen auszuschließen.

Differenzialdiagnosen

Es ist wichtig, epileptische Anfälle von anderen Erkrankungen zu unterscheiden, die ähnliche Symptome verursachen können. Zu den wichtigsten Differenzialdiagnosen gehören:

  • Synkopen: Kurzzeitige Ohnmachten aufgrund von Minderdurchblutung des Gehirns.
  • Psychogene nicht-epileptische Anfälle (PNES): Anfälle, die psychisch bedingt sind und nicht auf einer elektrischen Entladung im Gehirn beruhen.
  • Migräne mit Aura: Neurologische Symptome vor oder während einer Migräneattacke.
  • TIA (transitorisch ischämische Attacke): Vorübergehende Durchblutungsstörung im Gehirn.
  • Schlafbezogene Erkrankungen: Narkolepsie, Kataplexie, REM-Schlaf-Verhaltensstörung.
  • Panikattacken: Plötzliche Anfälle von Angst und Panik.

Erste Hilfe bei einem epileptischen Anfall

  • Schutz der betroffenen Person vor Verletzungen.
  • Potenziell gefährdende Gegenstände wegräumen.
  • Ggf. Kopf mit Kissen schützen.
  • Keine Gegenstände im Mundraum (verletzungsträchtig).
  • Beobachtung des Anfallsereignisses.
  • Feststellung der Zeit (Dauer des Anfalls).
  • Ggf. auch Video-Aufzeichnung, falls möglich.
  • Überwachung der Vitalparameter.
  • Ein selbstlimitierender epileptischer Anfall (< 5 min) bedarf keiner medikamentösen Akuttherapie.
  • Länger dauernde Anfälle oder Anfallsserien sollten zu einer Akutmedikation führen (Status epilepticus).
  • Nach dem Anfall: Überwachung, ggf. stabile Seitenlage, ggf. Sauerstoffgabe bei Hypoxie.
  • Transport bzw. Vorstellung in einer neurologischen Klinik.

Therapie von Epilepsie und epileptischen Anfällen

Die Behandlung von Epilepsie zielt darauf ab, die Anfallshäufigkeit zu reduzieren und die Lebensqualität des Patienten zu verbessern. Die wichtigsten Therapieoptionen sind:

  • Medikamentöse Therapie (Antiepileptika): Antiepileptika sind Medikamente, die die Erregbarkeit der Nervenzellen im Gehirn reduzieren und so das Auftreten von Anfällen verhindern. Die Wahl des Medikaments richtet sich nach der Anfallsart, dem Alter des Patienten und anderen individuellen Faktoren.
  • Chirurgische Therapie: Bei manchen Patienten, bei denen die Anfälle nicht ausreichend mit Medikamenten kontrolliert werden können, kann eine Operation in Erwägung gezogen werden. Ziel der Operation ist es, das epileptogene Gewebe im Gehirn zu entfernen.
  • Vagusnervstimulation (VNS): Bei der VNS wird ein kleines Gerät unter die Haut im Brustbereich implantiert, das den Vagusnerv stimuliert. Die VNS kann die Anfallshäufigkeit reduzieren.
  • Ketogene Diät: Eine spezielle Diät, die reich an Fett und arm an Kohlenhydraten ist. Die ketogene Diät kann bei manchen Kindern mit Epilepsie die Anfallshäufigkeit reduzieren.

Komplikationen von Epilepsie und epileptischen Anfällen

Epileptische Anfälle können zu verschiedenen Komplikationen führen, darunter:

  • Verletzungen: Stürze während eines Anfalls können zu Verletzungen wie Knochenbrüchen oder Schädel-Hirn-Trauma führen.
  • Status epilepticus: Ein anhaltender epileptischer Anfall, der länger als fünf Minuten dauert oder eine Serie von Anfällen ohne Wiedererlangen des Bewusstseins zwischen den Anfällen. Der Status epilepticus ist ein medizinischer Notfall, der sofort behandelt werden muss.
  • SUDEP (Sudden Unexpected Death in Epilepsy): Plötzlicher, unerwarteter Tod bei Menschen mit Epilepsie. Die Ursache von SUDEP ist noch nicht vollständig geklärt.
  • Psychische Probleme: Menschen mit Epilepsie haben ein erhöhtes Risiko für Depressionen, Angststörungen und andere psychische Probleme.

Leben mit Epilepsie

Epilepsie kann das Leben der Betroffenen und ihrer Familien stark beeinträchtigen. Es ist wichtig, dass Menschen mit Epilepsie Zugang zu einer umfassenden medizinischen Versorgung und psychosozialen Unterstützung haben.

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