Herz-Kreislauf-Erkrankungen, wie der Herzinfarkt, sind in Deutschland weiterhin die Todesursache Nummer eins. Um das Risiko einer Patientin oder eines Patienten, eine solche Erkrankung zu entwickeln, präziser einschätzen zu können, greifen Kardiologen auf Bewertungssysteme zurück.
Risikoberechnungssysteme: SCORE2 und SCORE2-OP
Zwei dieser Bewertungssysteme sind SCORE2 und SCORE2-OP, die 2021 von der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) veröffentlicht wurden. SCORE2 (Systematic COronary Risk Evaluation) dient der Erstellung einer Punktbewertung für Menschen im Alter von 40 bis 69 Jahren. Diese Systeme helfen dabei, das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, wie beispielsweise einen Herzinfarkt, einzuschätzen.
Datengrundlage und Anwendungsbereich von SCORE2
Die Datengrundlage des SCORE2 basiert auf 45 europäischen Studien aus 13 Ländern mit über 670.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Laut Prof. Harm Wienbergen, Leiter des Bremer Instituts für Herz- und Kreislaufforschung, wurde hier eine riesige Datenbank von Statistikern zusammengefasst. Angepasste Risikokalkulationen sind für unterschiedliche Länder verfügbar.
Der SCORE2 ist speziell für Menschen gedacht, die bisher keine Erkrankung hatten. Er ist nicht sinnvoll für Menschen, die bereits Symptome von Gefäßerkrankungen aufweisen oder einen Herzinfarkt oder einen Hirnschlag erlitten haben. Auch für Patientinnen und Patienten mit Diabetes mellitus oder familiärer Hypercholesterinämie ist der SCORE2 nicht anwendbar, da hier bereits ein erhöhtes Risiko vorliegt.
Interpretation der SCORE2-Ergebnisse
Für eine erste Einschätzung des persönlichen Risikos kann der SCORE2-Rechner des Bundesverbands Niedergelassener Kardiologen genutzt werden. Wenn Sie jünger als 50 Jahre sind und der SCORE2 eine Wahrscheinlichkeit zwischen 2,5 und 7,5 Prozent anzeigt, liegt ein hohes Risiko vor und es sollte eine Behandlung der Herz-Kreislauf-Risikofaktoren erwogen werden. Im Alter von 50 bis 69 Jahren gilt dies bei einem Ergebnis von fünf bis zehn Prozent. Alle Ergebnisse mit noch höheren Prozentzahlen weisen auf ein sehr hohes Risiko hin, das mit Ihrem Arzt oder Ihrer Ärztin besprochen werden sollte. Ab 70 Jahren liegt grundsätzlich ein erhöhtes Risiko vor.
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Einschränkungen und individuelle Faktoren
Der SCORE2 wurde in großen klinischen Studien bestimmt und hat gezeigt, dass er eine gute Vorhersagekraft für Herz-Kreislauf-Erkrankungen besitzt. Es ist jedoch wichtig zu bedenken, dass es sich um eine rein statistische Risikobewertung handelt und gegebenenfalls individuelle Faktoren nicht vollständig berücksichtigt werden. Weitere Risikofaktoren wie genetisch-familiäre Vorbelastungen oder ein hohes Körpergewicht fließen nicht in SCORE2 ein. Auch psychosozialer Stress kann das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöhen.
Bedeutung für Vorsorge und Behandlung
Ärztinnen und Ärzte erhalten durch den SCORE2 eine Einschätzung des individuellen Risikos ihrer Patientinnen und Patienten für Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall. Anhand der Risiko-Informationen und einem ausführlichen Patientengespräch können dann gezielte Vorsorge- und Behandlungsstrategien entwickelt werden. So kann beispielsweise der Zielwert für das LDL-Cholesterin am individuellen Risiko orientiert werden.
Beeinflussbare Risikofaktoren und Lebensstiländerungen
Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko einer Herz-Krankheit, dagegen sind Menschen machtlos. Cholesterinspiegel, Rauchen und Blutdruck können jedoch durch einen gesünderen Lebensstil positiv beeinflusst werden. Auch bei älteren Menschen lohnt sich die Vorbeugung noch.
Da bei Patient:innen häufig gleichzeitig verschiedene Risikofaktoren vorliegen und miteinander interagieren, wird für die Auswahl der geeigneten Therapie eine systematische Einschätzung des individuellen kardiovaskulären Risikoprofils empfohlen.
Unerkanntes hohes kardiovaskuläres Risiko
Patient*innen können unerkannt ein hohes kardiovaskuläres Risiko aufweisen, wenn z. B. ihre kardiovaskuläre Erkrankung noch nicht diagnostiziert worden ist - was bei dem typischerweise zunächst asymptomatischen Verlauf häufig vorkommt. In solchen Fällen sind adäquate Therapiemaßnahmen wichtig.
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Weitere Bewertungssysteme: "arriba" und Procam-Scores
Neben SCORE2 gibt es weitere Bewertungssysteme wie "arriba" und die Procam-Scores. "arriba" ist ein Beratungsinstrument, das vor allem in deutschen Hausarztpraxen eingesetzt wird. Ärztinnen und Ärzte tragen dabei unter anderem Alter und Geschlecht ein, ob jemand raucht, Blutdruck- und Cholesterinwerte. Das so ermittelte Risiko können sie für den Patienten oder die Patientin in Form von Smileys darstellen - und ebenso, wie es gesenkt werden kann. Dabei können verschiedene Maßnahmen verglichen werden: etwa, wie viel Änderungen des Lebensstils oder Arzneien bringen. Am Ende entscheiden medizinisches Personal und Betroffene gemeinsam. "arriba" basiert auf Daten, die in Framingham erhoben wurden, einer 70.000-Einwohner-Stadt nahe Boston (USA).
Die Procam-Studie, die 1978 in Münster startete, umfasste rund 31.000 Männer und 19.000 Frauen. Im Abstand von vier Jahren wurde ermittelt, wer einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall erlitten hatte. Insgesamt 51 Faktoren erhoben die Forscherinnen und Forscher, vom Körpergewicht über das familiäre Risiko bis zu Cholesterinwerten. Ähnliche Elemente wie bei der Framingham-Studie kristallisierten sich dabei als die wichtigsten Risikofaktoren heraus. Sie bildeten die Basis für die sogenannten Procam-Scores. Die gibt es, inzwischen aktualisiert, getrennt für das Herzinfarkt- und das Schlaganfall-Risiko.
Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Testsysteme
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben die Genauigkeit der Prognosen für verschiedene Scores verglichen, doch ihre Studien ergeben kein einheitliches Bild. Was die viel benutzten arriba und Procam betrifft, gibt es einige Unterschiede. In arriba wird zum Beispiel die Einstellung eines Diabetes abgefragt, bei Procam wird der Cholesterinwert aufgegliedert.
Die Bestimmung des sogenannten Herzalters anhand des Procam-Scores ist eine weitere Möglichkeit. Der virtuelle Wert gibt wieder, inwieweit das Risiko vom durchschnittlichen im betreffenden Alter abweicht.
Grenzen der Risikoberechnung
Alle der international rund 300 Scores haben eines gemeinsam: Sie können niemals alle Risikofaktoren für Schlaganfälle und Herzinfarkte erfassen. Deshalb sind die Prognosen der Tests nie ganz genau, unter- oder überschätzen das tatsächliche Risiko. Messfehler können ein Übriges tun, etwa durch eine nicht standardisierte Art der Blutdruckmessung. Aus diesen Gründen stößt jeder Score an seine Grenzen. Für Fachpersonal heißt das, dass es auch andere Faktoren im Blick behalten sollte.
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Blutwerte als Indikatoren für das Schlaganfallrisiko
Blutwerte liefern wichtige Einblicke in den Gesundheitszustand eines Menschen und können Rückschlüsse darauf zulassen, ob das Herz gefährdet ist. Eine akute Durchblutungsstörung lässt sich beispielsweise durch einen erhöhten Troponin-Wert erkennen.
Wichtige Blutwerte und ihre Bedeutung
- Gesamtcholesterin: Hohe Cholesterinwerte sind ein wichtiger Risikofaktor für das Entstehen von Ablagerungen in unseren Gefäßen (Plaques), die wiederum einen Herzinfarkt oder Schlaganfall begünstigen.
- HDL-C: Die Höhe des Wertes hängt teilweise von der Veranlagung und teilweise vom (gesunden) Lebenswandel ab. Da dieser Blutfettbestandteil mit am Abtransport von Cholesterin aus dem Blut in die Leber beteiligt ist, deuten zu niedrige Werte auf ein erhöhtes Atherosklerose-(Gefäßverkalkung) Risiko.
- LDL-C: Die Höhe des Wertes hängt stark von der Veranlagung (Vererbung) ab. Der konkrete Zielwert hängt hierbei vom individuellen kardiovaskulären Risiko ab.
- Trigylzeride: Der Wert kann Hinweis geben, wie sich jemand ernährt und ob er sich ausreichend bewegt.
- Lp(a): Ähnlich wie das LDL-Cholesterin besitzt dieser Blutfettbestandteil das Potenzial, das Entstehen von Gefäßveränderungen (Atherosklerose) und damit von Herzinfarkten zu fördern. Die Höhe des Wertes hängt weitestgehend von der Veranlagung ab.
- Blutzuckerwerte: liefern Hinweise, ob ein Diabetes besteht oder eine Vorstufe davon.
- HbA1C: Dieser Wert gibt den mittleren Blutzuckerspiegel über die letzten etwa 120 Tage wieder (= Langzeitblutzucker) und wird meist in Prozent dargestellt.
- CRP: Stark erhöhte Konzentrationen dieses Proteins in einer Blutprobe sind meist ein Hinweis auf Entzündungs- und Erkrankungsprozesse im Körper.
- INR: das Kürzel steht für International Normalized Ratio und ist ein Maß für die Blutgerinnung.
- PTT: steht für partielle Thromboplastinzeit. Im Labor wird dabei die Gerinnungszeit des abgenommenen Blutes ab Zugabe von Thromboplastin gemessen.
- Mineralstoffe (Elektrolyte): Ein Mangel oder ein Zuviel davon im Blut kann die elektrische Stabilität von Herzzellen beeinträchtigen.
- GFR: steht für die Glomeruläre Filtrationsrate, die ein Maß für die Menge an Blut ist, die die Nieren pro Minute filtern.
- Kreatinin: ist das Abfallprodukt des Muskelproteins Kreatin.
- NT-proBNP: NT-proBNP-Werte ab 125 pg/ml geben einen Hinweis auf eine mögliche chronische Herzschwäche.
- Troponin: Werden Herzmuskelzellen geschädigt und zerstört, werden spezielle Eiweiße freigesetzt.
Normalbereiche und individuelle Unterschiede
Geschlecht, Gewicht, Alter und Lebensstil bedingten, dass sich Laborwerte individuell stark unterscheiden. Um solche Schwankungen zu berücksichtigen, wurde Normalbereiche oder Referenzbereiche festgelegt. Ein Wert außerhalb eines Normbereichs ist in der Regel kein Grund gleich nervös zu werden, sondern muss im Zusammenhang mit der gesamten Gesundheitssituation betrachtet werden.
Beeinflussung der Blutwerte durch Lebensstil und Medikamente
Die Einnahme von bestimmten Nahrungsergänzungsmitteln, Arzneimitteln oder Lebensmitteln kann die Laborwerte beeinflussen. In vielen Fällen können schon durch ein Umstellen der Ernährungsgewohnheiten oder durch mehr Bewegung die Blutwerte wieder in den Normbereich gebracht werden. Das gilt besonders stark für die Triglyzeridwerte, die durch sportliche Aktivität, Verzicht aufs Rauchen, Alkoholabstinenz oder -verzicht und eine fett- und zuckerreduzierte Kost sich häufig schon recht schnell wieder erholen.
Lipoprotein(a) [Lp(a)]: Genetische Determinierung und Risikofaktor
Lipoprotein a oder kurz Lp(a) ist eine spezielle Form des LDL-Cholesterins. Der Wert ist genetisch festgelegt und lässt sich nicht durch den Lebensstil beeinflussen. Ein erhöhter Lp(a)-Wert gilt als Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Lp(a) gilt als bedeutender Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, weil es die Arterienwände schädigt und die Blutgerinnung sowie Gefäßverkalkungen fördert.
Struktur und Funktion von Lp(a)
Lipoprotein(a) [Lp(a)] ist eine lipoproteinhaltige Substanz, die im Blut vorkommt und strukturell dem Low-Density-Lipoprotein (LDL) ähnelt. Die Hauptkomponenten von Lp(a) sind das LDL-Partikel, das aus Cholesterin, Phospholipiden und Apolipoprotein B-100 (ApoB-100) besteht, sowie das additive, spezifische Glykoprotein Apolipoprotein(a) [Apo(a)]. Lp(a) wird in der Leber synthetisiert, wobei seine Konzentration im Blut vorwiegend genetisch determiniert ist.
Epidemiologie von Lp(a)
Die Prävalenz erhöhter Lp(a)-Spiegel variiert weltweit, auch innerhalb Europas. Die Lp(a)-Konzentration ist in der Bevölkerung nicht normal verteilt, sondern stark links verschoben. Es gibt deutliche ethnische Unterschiede der Lp(a)-Werte in der Weltbevölkerung. Äußere Einflüsse wie Alter, Ernährung oder körperliche Aktivität beeinflussen die Lp(a)-Werte praktisch nicht. In Deutschland wird geschätzt, dass etwa 10 bis 20 % der Bevölkerung Lp(a)-Konzentrationen von über 30 mg/dl aufweisen, was als Risikogrenze für eine erhöhte Prädisposition für Herz-Kreislauf-Erkrankungen gilt.
Genetik von Lp(a)
Lp(a)-Spiegel sind in hohem Maße genetisch determiniert. Der Hauptfaktor, der die Höhe der Lp(a)-Konzentration bestimmt, ist das Gen, das für das Apo(a) kodiert, welches sich auf dem Chromosom 6 befindet. Polymorphismen im LPA-Gen, insbesondere die Anzahl von Kringle-IV-Repeats, spielen eine entscheidende Rolle für den Lp(a)-Spiegel.
Bedeutung von Lp(a) im Lipoproteinstoffwechsel
Im Lipoproteinstoffwechsel fungiert Lp(a) als Variante des LDL, unterscheidet sich jedoch durch die Präsenz von Apo(a).
Wann wird der Lipoprotein-a-Wert bestimmt?
Die Konzentration von Lp(a) im Blut wird bestimmt, um das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen einzuschätzen. Allerdings nicht routinemäßig, sondern nur in speziellen Fällen. Zum Beispiel bei Menschen, die:
- vor dem 60. Lebensjahr einen Herzinfarkt erlitten haben oder an Arteriosklerose leiden.
- in ihrer Familie Fälle von frühzeitig auftretenden Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Herzinfarkt und Schlaganfall haben.
- an einer Fettstoffwechselstörung wie Hypercholesterinämie erkrankt sind.
- an Herz-Kreislauf-Erkrankungen leiden, obwohl Risikofaktoren wie LDL-Cholesterin, Blutdruck und Blutzucker im normalen Bereich sind und die Betroffenen auf einen gesunden Lebensstil achten.
Erhöhter Lipoprotein-a-Wert: Was tun?
Es gibt derzeit keine Medikamente, mit denen sich der Lp(a)-Wert senken lässt. Dennoch ist es hilfreich, um das dadurch erhöhte Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu wissen. Denn auch wenn der Lipid-Wert selbst sich kaum verändern lässt, können Maßnahmen ergriffen werden, um andere, beeinflussbare Risikofaktoren zu minimieren. Zum Beispiel:
- LDL-Cholesterin-Wert regelmäßig kontrollieren und Senkung zu hoher Werte ggf. mit Medikamenten wie Statinen
- gesunde Ernährung mit wenig gesättigten Fettsäuren, Zucker und Alkohol
- nicht rauchen
- viel Bewegung
- Übergewicht vermeiden
- Blutzucker regelmäßig kontrollieren
- Blutdruck regelmäßig messen und ggf. Bluthochdruck behandeln
- regelmäßige ärztliche Kontrollen wahrnehmen
Unter bestimmten Voraussetzungen ist auch eine Lipoprotein-Apherese möglich. Das ist ein spezielles Blutreinigungsverfahren (Blutwäsche), bei dem LDL-Cholesterin und Lipoprotein(a) aus dem Blut entfernt werden.
Neue Therapieansätze für erhöhte Lp(a)-Werte
Statine senken zwar sehr gut das Cholesterin, aber leider nicht das Lipoprotein(a). Die vor einigen Jahren auf den Markt gekommenen Spritzen gegen erhöhtes Cholesterin wie Repatha oder Lequio (PCSK9-Hemmer) senken den Lipoprotein(a)-Wert mit 20-30% nur moderat.
Es gibt aber vier neue Medikamente, die zur Zeit in Studien untersucht werden. Lepdisiran ist ein sogenanntes small interfering RNA (siRNA). Es unterbindet in der Leber die Bildung des Lipoprotein (a). Durch eine einzige Spritze konnte das Lp(a) um bis zu 94% gesenkt werden, wobei die Wirkung fast ein Jahr anhielt. Neben Lepodisiran werden zur Zeit mit Olpasiran und Zerlasiran zwei weitere siRNA untersucht. Es besteht also begründete Hoffnung, dass uns in absehbarer Zeit Medikamente zur Verfügung stehen, mit denen der Lipoprotein(a)-Spiegel effektiv gesenkt werden kann.
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