Dürfen Demenzkranke wählen? Eine umfassende Betrachtung des Wahlrechts im Kontext von Demenz

Die Frage, ob Menschen mit Demenz wählen dürfen, ist komplex und wirft eine Reihe ethischer, rechtlicher und praktischer Fragen auf. In Deutschland leben knapp 1,6 Millionen Demenzkranke, von denen die meisten wahlberechtigt sind. Angesichts der steigenden Zahl von Demenzerkrankungen und der alternden Bevölkerung gewinnt dieses Thema zunehmend an Bedeutung.

Das Wahlrecht als grundlegendes Bürgerrecht

Das Wahlrecht ist ein persönliches und elementares Bürgerrecht, das in Deutschland jedem volljährigen Staatsbürger zusteht. Es ermöglicht die Teilhabe am politischen Leben und die Mitgestaltung der Gesellschaft. Auch Menschen mit Demenz dürfen grundsätzlich an Wahlen teilnehmen und ihre Stimme abgeben. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft (DAlzG) betont, dass die Ausübung des persönlichen Wahlrechts eine Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft bedeutet.

Gesetzliche Regelungen und Einschränkungen

Das Bundeswahlgesetz sieht vor, dass eine klare Willensentscheidung des Wahlberechtigten vorliegen muss. Menschen im Koma oder in einem Zustand, in dem sie ihren Willen nicht mehr selbstständig bilden oder artikulieren können, sind faktisch von der Wahl ausgeschlossen. Bis 2019 durften Menschen mit Demenz nicht wählen, wenn für sie eine umfassende rechtliche Betreuung bestand, die "alle Angelegenheiten" umfasste. In solchen Fällen wurde die Person aus dem Wählerverzeichnis gestrichen. Diese Regelung wurde jedoch kritisiert und aufgehoben, da sie als nicht vereinbar mit der UN-Konvention zum Schutz der Rechte behinderter Menschen angesehen wurde.

Aktuell gilt, dass eine Demenzerkrankung allein kein Grund für einen Wahlrechtsausschluss ist. Erst wenn ein Gericht eine endgültige Betreuung "in allen Angelegenheiten" anordnet, wird die oder der Kranke aus dem Wählerverzeichnis gestrichen. Diese volle Betreuung ist jedoch eher selten.

Unterstützung bei der Stimmabgabe

Menschen mit Demenz, die Unterstützung beim Wählen benötigen, dürfen diese in Anspruch nehmen, solange das Wahlgeheimnis gewahrt bleibt. Angehörige oder Pflegende dürfen den Betroffenen Hilfe anbieten und sie beim Ausfüllen des Wahlscheins nach ihren Wünschen unterstützen. Es ist jedoch nicht erlaubt, die Wahlentscheidung des Demenzkranken zu beeinflussen oder zu manipulieren. Jede Form der Beeinflussung oder Manipulation ist strafbar und kann mit bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden. Das Wahlrecht kann weder an eine andere Person delegiert noch stellvertretend ausgeübt werden.

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Herausforderungen und Missbrauchsmöglichkeiten

Die Unterstützung von Demenzkranken bei der Stimmabgabe birgt auch Herausforderungen und Missbrauchsmöglichkeiten. Angehörige, Pfleger und Betreuer stehen vor schwierigen Entscheidungen, wenn sie den vermeintlichen Wählerwillen eines Demenzkranken erfüllen sollen. Der Bundesverband der Berufsbetreuer warnt vor "massenweisen Missbrauchsmöglichkeiten", da Wahlbenachrichtigungen oft kommentarlos auf dem Nachtschränkchen landen und jeder, der Zugang hat, sie an sich nehmen kann. Es gibt Berichte über Fälle, in denen in einer Einrichtung alle Stimmen auf eine Partei entfallen, was auf Manipulation hindeutet.

Auch bei der häuslichen Pflege durch Angehörige kann es vorkommen, dass bewusst oder unbewusst die Grenze überschritten wird, an der Hilfe in Wahl- und Urkundenfälschung übergeht. Viele Angehörige beantragen die Briefwahlunterlagen und füllen sie so aus, wie der Demenzkranke ihrer Meinung nach gewählt hätte. Dies ist gesetzlich verboten.

Individuelle Lösungen und Stellvertreterwahlrecht

Angesichts der Herausforderungen und Missbrauchsmöglichkeiten fordern Experten individuellere Lösungen und eine Überprüfung des Wahlrechts für Demenzkranke. Der amerikanische Jurist und Bioethiker Richard Bonnie von der University of Virginia kritisiert, dass in Deutschland "die Gefahr eines übergroßen Ausschlusses" bestehe und fordert eine Einzelfallprüfung.

Berufsbetreuer Klaus Förter-Vondey hält es für notwendig, eine Form von Stellvertreterwahlrecht zumindest zu prüfen. Ein "transparentes Verfahren zur Willensbestimmung" könnte eingeführt werden, bei dem Betreuer, Angehörige und Freunde auf Anordnung eines Gerichts zusammen mit dem Betreuten versuchen, eine Wahlentscheidung zu fällen. Dabei würden der Lebenslauf des Betroffenen, Wertvorstellungen, frühere und aktuelle Meinungsäußerungen herangezogen.

Die Rolle der Politik

Bisher finden solche Forderungen in der Politik keinen Widerhall. Es wäre jedoch sinnvoll, im Wahlkampf Angehörige über das Wahlrecht aufzuklären und Hilfe bei der Bewertung der Wahlfähigkeit anzubieten. Zudem könnten die Parteien angesichts der neuen Volkskrankheit über die Qualität der Betreuung, Hilfen für Pflegende und die Investitionen in Alzheimerforschung streiten.

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Die wachsende Bedeutung der Wählergruppe Demenzkranke

Bei der Bundestagswahl ist knapp jeder fünfte Wahlberechtigte älter als 70 Jahre. Demenz ist da längst keine Spezialfrage mehr. Wie mit ihr umgegangen wird, kann wahlentscheidend sein. US-Wissenschaftler Bonnie weist darauf hin, dass im Rentnerparadies Florida im Jahr 2000 die Entscheidung zwischen George W. Bush und Al Gore massiv von Unregelmäßigkeiten bei der Stimmabgabe der zahlreichen Demenzkranken beeinflusst worden sei.

Weil die Lebenserwartung stetig steigt, aber das Risiko für Demenz ab 70 Jahren stark zunimmt, könnte die Zahl der Betroffenen bis 2050 auf vier Millionen Menschen anschwellen. Das entspräche einem Anteil von über fünf Prozent an den Wahlberechtigten. Damit könnten die Demenzkranken zumindest theoretisch eine eigene Partei in den Bundestag wählen.

Praktische Hinweise für Angehörige und Betreuer

  • Information und Aufklärung: Informieren Sie sich umfassend über das Wahlrecht von Menschen mit Demenz und die damit verbundenen gesetzlichen Regelungen.
  • Unterstützung anbieten: Bieten Sie dem Demenzkranken Unterstützung bei der Stimmabgabe an, ohne seine Wahlentscheidung zu beeinflussen.
  • Wahlgeheimnis wahren: Achten Sie darauf, dass das Wahlgeheimnis gewahrt bleibt und die Stimmabgabe in einer vertraulichen Umgebung stattfindet.
  • Eigene Grenzen erkennen: Seien Sie sich Ihrer eigenen Grenzen bewusst und holen Sie sich gegebenenfalls Unterstützung von Fachleuten.
  • Missbrauch verhindern: Melden Sie Verdachtsfälle von Wahlmanipulation oder Missbrauch.

Weitere rechtliche Aspekte im Umgang mit Demenz

Neben dem Wahlrecht gibt es weitere rechtliche Aspekte, die im Umgang mit Demenz eine wichtige Rolle spielen:

Geschäftsfähigkeit

Zu Beginn einer Demenzerkrankung sind die Betroffenen in der Regel noch voll geschäftsfähig und können alle Verträge selbstständig abschließen. Mit fortschreitender Erkrankung kann die Geschäftsfähigkeit jedoch eingeschränkt sein. Geschäfte, die von geschäftsunfähigen Personen getätigt werden, sind grundsätzlich nichtig.

Vorsorgevollmacht und Betreuungsverfügung

Mit einer Vorsorgevollmacht kann eine Person im Voraus festlegen, wer sie im Falle einer Demenzerkrankung vertreten soll. In einer Betreuungsverfügung kann eine Person benannt werden, die im Falle der eigenen Entscheidungsunfähigkeit als Betreuer eingesetzt werden soll.

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Patientenverfügung

Die Patientenverfügung ist ein Vorsorgedokument, das im späteren Stadium einer Demenzerkrankung sehr wichtig werden kann. Sie ermöglicht es, im Voraus festzulegen, welche medizinischen Behandlungen gewünscht oder abgelehnt werden.

Rechtliche Betreuung

Liegt keine Vorsorgevollmacht vor und ist eine Person aufgrund einer Demenzerkrankung nicht mehr in der Lage, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln, muss unter Umständen eine rechtliche Betreuung beantragt werden.

Haftung bei Schäden

Personen, die durch eine Vorsorgevollmacht oder als rechtliche Betreuer eingesetzt wurden, können im Falle eines Schadens haftbar gemacht werden.

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