Das erschöpfte Gehirn: Eine wissenschaftliche Kritik

Die moderne Gesellschaft stellt hohe Anforderungen an unser Gehirn. Leistungsdruck, ständige Erreichbarkeit und eine Reizüberflutung können zu mentaler Erschöpfung führen. In seinem Buch „Das erschöpfte Gehirn“ untersucht Dr. Michael Nehls die Ursachen und Folgen dieser Entwicklung und präsentiert mögliche Lösungsansätze. Der folgende Artikel fasst die Kernaussagen des Buches zusammen, beleuchtet sie kritisch und stellt sie in einen wissenschaftlichen Kontext.

Einführung in die Thematik

Die Kapazität unseres Gehirns ist begrenzt. Jeder kennt das Gefühl, dass es nach einem langen Tag schwer ist, sich zu konzentrieren, schwierige Entscheidungen zu treffen oder sich in andere hineinzuversetzen. Dr. med. Michael Nehls geht der Frage nach, warum immer mehr Menschen lebensnotwendige Veränderungen ihres Lebensstils schwerfallen, warum sie selten die richtigen Entscheidungen treffen oder, wenn doch, diese dann oft nicht umsetzen. Er beschreibt den Versuch, eine grundlegende Antwort darauf zu finden.

Die zwei Denksysteme: System I und System II

Bewusste Veränderung erfordert ein auf Wissen oder Erfahrung basierendes Überdenken verschiedener Optionen, um alternative Entscheidungen treffen zu können und entsprechend zu handeln, sprich etwas Neues zu wagen. Doch bei immer mehr Menschen herrscht geradezu eine Angst vor Neuem und damit auch vor abweichendem Verhalten vom Gewohnten, auch wenn dieses dringend erforderlich wäre. Selbst wenn die Notwendigkeit zu einer Veränderung als unabdingbar erkannt wird, mangelt es häufig an Willensstärke bei der Umsetzung. Die Angst vor Veränderung zu überwinden, benötigt mentale Energie, die offensichtlich viel zu oft nicht aufgebracht werden kann.

Um zu verstehen, welche Form von Energie unsere Exekutivzentrale benötigt, beschreibt Nehls die zwei unterschiedlichen Denksysteme: System I und System II. System I entspricht dem „Abspulen“ von erlernten, repetitiven Verhaltensweisen, also der Dinge, die wir tagtäglich tun, ohne noch groß darüber nachzudenken. Es umfasst das gesamte Repertoire an stereotypen Denk- und Verhaltensmustern. Diese sind gewissermaßen reine kortikale Reflexe. Sie erfordern in der Regel wenig Konzentration und deshalb auch so gut wie keine mentale Energie. Deshalb kann System I als Default (Voreinstellung) unseres Denkapparats ständig aktiv sein. System I ist schnell und effektiv und schützt uns, wenn wir beispielsweise im Affekt handeln müssen, um uns vor einer akuten Gefahr zu schützen. Denken wir mit System I, machen wir aber auch leicht Fehler, sobald wir vor neuen Aufgaben stehen, die tatsächliches Nachdenken erfordern. Um solche Herausforderungen adäquat zu meistern, nutzt unsere Exekutivzentrale das wesentlich langsamere, nachdenkende System II.

System-II-Denken (also das Vergleichen von Verhaltensoptionen im Hinblick auf ihre möglichen Auswirkungen, die Entscheidung für eine neue Verhaltensweise sowie deren Umsetzung) ist anstrengend und benötigt viel mentale Energie. Diese ist jedoch limitiert, weshalb unser Gehirn System II nur im Bedarfsfall, also im Zweifel bzw.

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Der Frontalhirn-Akku: Der Hippocampus als Energiespeicher

Bis zur Veröffentlichung des Buches „Das erschöpfte Gehirn“ im Jahr 2022 gab es keine plausible Erklärung dafür, welche Form von mentaler Energie System II benötigt. Völlig unklar war auch, wo diese gespeichert wird, weshalb sie limitiert ist und wie sie regeneriert wird. Da diese Limitierung unser Denken, Entscheiden und Handeln beeinflusst, mit oft lebenswichtigen Konsequenzen, ist es jedoch von großer Bedeutung, die Natur dieser Energie zu kennen. Ein Mangel an mentaler Energie hat auch qualitative Auswirkungen: Man ist in System I, im oben genannten Zombie-Modus, gefangen. Man reagiert anstatt zu agieren, ist weniger bereit, über den Tellerrand zu schauen und alternative Betrachtungen anzustellen, selbst wenn es dringend nötig wäre. Letztendlich verliert man eine grundlegende Fähigkeit, die uns Menschen eigentlich auszeichnet: im Bedarfsfall System II einschalten und sich sinnvoll an sich verändernde Situationen anpassen zu können. Stattdessen verharrt man in stereotypem Denken und neigt zu Vorurteilen.

Nehls postuliert, dass der Hippocampus der „Frontalhirn-Akku“ ist. Die Nutzung von System II erfordert ein schnelles und effizientes Abspeichern unserer Gedanken. Dafür ist der Hippocampus zuständig. Es ist zu vermuten, dass eine intensive Nutzung von System II den Speicherplatz des Hippocampus an seine Grenzen bringt, schließlich ist seine Aufnahmekapazität limitiert. Je größer sein Volumen, desto mehr Kapazität besitzt sein Speicher. Ist der hippocampale Gedankenspeicher voll, ist System II nur noch nutzbar, wenn vorherige Erinnerungen überschrieben werden, was natürlich nicht sinnvoll ist, weshalb dies molekulare Mechanismen weitgehend verhindern. Dazu passt auch die Erkenntnis, dass bei Ego-Depletion die Fähigkeit, über das episodisch-emotionale Gedächtnis, also mithilfe des Hippocampus, spezifische Erinnerungen abzurufen, deutlich reduziert ist. System-I-Verhalten ist durch Ego-Depletion infolge einer hippocampalen Speicherlimitierung jedoch nicht beeinträchtigt. Wenn es sich beim Hippocampus tatsächlich um den gesuchten Frontalhirn-Akku handelt, wie Nehls postuliert, dann besteht seine Energie aus den zur Speicherung unserer System-II-Gedanken noch freien hippocampalen Synapsen. Diese sind direkt über einen „Informations-Highway“, die superschnellen, sogenannten Von-Economo-Neurone (VENs), mit dem Frontalhirn verbunden. VENs besitzen übrigens auch alle sozial höher entwickelten Säugetiere (Wale, höhere Primaten und Elefanten), die vermutlich System-II-fähig sind.

Aufgrund dieser Theorie können wir nun erklären, was passiert, wenn sich der Frontalhirn-Akku durch Denken „entlädt“: Die freien hippocampalen Synapsen werden durch die gespeicherten Gedanken besetzt. Es ist nun aber auch verständlich, wie er sich im Tiefschlaf wieder „auflädt“ bzw. sich regeneriert, nämlich indem die hippocampal zwischengespeicherten Gedanken auf die neokortikale „Festplatte“ übertragen werden, wodurch die hippocampalen Synapsen wieder frei sind für neue System-II-Gedanken. Damit ist nun auch klar, was seine Speicherkapazität limitiert, also weshalb unser Ego im Tagesverlauf depletiert. Ist die Speicherkapazität jedoch chronisch reduziert, bleibt das menschliche Denken auf System I beschränkt. Man ist dann nur noch in der Lage, im „Zombie-Modus“ zu denken bzw. zu reagieren.

Die Bedeutung der adulten Hippocampalen Neurogenese

Unzählige Studien zeigen, dass wir das genetische Potenzial besitzen, die Speicherkapazität des Hippocampus lebenslang zu steigern. Tatsächlich verfügt er als einzige Hirnregion über die Fähigkeit, bis ins hohe Alter täglich Tausende neuer Hirnzellen zu produzieren. Dieser als adulte hippocampale Neurogenese bezeichnete Vorgang ist von weitreichender Bedeutung, sowohl für uns als Individuen als auch für die Menschheit als Ganzes. Mit lebenslang wachsendem Frontalhirn-Akku verfügt der Mensch stets über ausreichend mentale Energie.

Die Aktivierung des hippocampalen „Kapazitätssteigerungsprogramms“ beruht auf evolutionsgeschichtlicher Logik. Unter den Lebensbedingungen in der sehr langen altsteinzeitlichen Phase als Fischer und Sammler entwickelte das Gehirn des Homo sapiens, also des weisen Menschen, seine vermutlich höchste Leistungsfähigkeit. Zumindest hatte sein Gehirn ein über 10 % größeres Volumen als der heutige Durchschnitt. Hoher sozialer Selektionsdruck, kombiniert mit einer für das Hirnwachstum optimalen Ernährung, erwirkte letztendlich eine genetische Anpassung an diese geistfördernden Lebensumstände: Über Jahrzehntausende wurden pescetarische Ernährung, körperliche Aktivität, soziales Miteinander und einige andere Bedingungen letztendlich zu Notwendigkeiten, die auch heute noch erfüllt sein müssen, damit sich unser Frontalhirn-Akku optimal entwickeln und lebenslang weiter seine Kapazität steigern kann.

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Ursachen für die Erschöpfung des Gehirns

Allerdings weicht unsere moderne Lebensweise in allen Lebensbereichen in erheblichem Maß von dem ab, was unser Gehirn zur Entfaltung und Aufrechterhaltung dieser Funktionen benötigt. Dazu gehört ein verbreiteter Mangel an essenziellen Nährstoffen, an körperlicher Aktivität, an ausreichend Tiefschlaf, an sozialen Interaktionen und sogar an Lebenssinn. Hinzu kommt oft ein Zuviel an Stress (Disstress) und an gehirnschädigenden Giftstoffen wie Alkohol, Feinstaub, ungesunden Fetten, Zucker etc.

Infolge einer mittlerweile nahezu völlig artfremden Lebensweise erreicht der Frontalhirn-Akku schon in der Kindheit nicht mehr seine genetisch mögliche Kapazität. Durch die verminderte adulte hippocampale Neurogenese bei gleichzeitig erhöhter Neurodegeneration verliert der Frontalhirn-Akku beim „normalen“ Erwachsenen im Durchschnitt 0,8 bis 1,4 % pro Jahr an Volumen und somit an Speichervermögen bzw. an Energie.

Die Folgen der mentalen Erschöpfung

Die Neurodegeneration unter Stress sowie eine gestörte adulte hippocampale Neurogenese können nahezu vollständig verhindern, dass wir in Situationen, in denen es eigentlich lebenswichtig wäre, System II einschalten. Eine von vornherein unterentwickelte und sich im Laufe des Lebens immer weiter abbauende Speicherkapazität des Frontalhirn-Akkus könnte somit die Ursache einer chronischen Ego-Depletion in der breiten Bevölkerung sein - mit dem Resultat einer dauererschöpften Gesellschaft. Eine System-I- bzw. Zombie-Gesellschaft akzeptiert die zunehmende, durch industrielle Interessen vorangetriebene Veränderung unserer Lebensweise.

Wege zur Regeneration: Strategien für ein starkes Gehirn

Nehls betont die Bedeutung eines gesunden Lebensstils zur Steigerung der Neurogenese im Hippocampus. Dazu gehören:

  • Ernährung: Eine ausgewogene Ernährung mit viel Gemüse, Obst, Fisch und gesunden Fetten ist wichtig. Nehls empfiehlt eine pescetarische Ernährung und betont die Bedeutung von Omega-3-Fettsäuren, die optimalerweise aus Algenöl gewonnen werden sollten. Auch eine ausreichende Versorgung mit Vitamin D ist essenziell.
  • Schlaf: Ausreichend Schlaf ist entscheidend für die Regeneration des Gehirns und die Konsolidierung von Gedächtnisinhalten.
  • Bewegung: Regelmäßige körperliche Aktivität fördert die Durchblutung des Gehirns und stimuliert die Neurogenese.
  • Soziale Interaktion: Soziale Kontakte und ein aktives soziales Leben erhöhen die psychische Resilienz und fördern die Ausschüttung von Oxytocin, einem Hormon, das eine besondere Rolle beim Wachstum neuer Gehirnzellen spielt.
  • Sinnhaftigkeit: Die Fähigkeit, Freude und Sinnerfüllung in dem zu finden, was wir tun, ist entscheidend dafür, wie sich unser Gehirn entwickelt. Das begeisternde Erleben sinnvoller Tätigkeiten spielt eine besonders wichtige Rolle bei der Bildung neuer Nervenzellen im Gehirn, vor allem im Hippocampus.
  • Zeitmanagement: Ein bewusster und sinnvoller Umgang mit Zeit ist wichtig, um Stress zu vermeiden und die Regeneration des Gehirns zu fördern.

Kritik und weiterführende Überlegungen

Nehls' These vom Hippocampus als „Frontalhirn-Akku“ ist ein interessanter Ansatz, um die Mechanismen mentaler Erschöpfung zu erklären. Seine Ausführungen basieren auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und bieten einen umfassenden Überblick über die Faktoren, die die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns beeinflussen.

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Allerdings ist es wichtig zu betonen, dass die Forschung auf diesem Gebiet noch nicht abgeschlossen ist. Die genauen Zusammenhänge zwischen Hippocampus, Frontalhirn und mentaler Energie sind noch nicht vollständig geklärt. Es bedarf weiterer Studien, um Nehls' Theorie zu bestätigen und die Mechanismen der adulten Hippocampalen Neurogenese besser zu verstehen.

Ein weiterer Kritikpunkt betrifft Nehls' teilweise polemische Formulierungen und seine dystopischen Zukunftsszenarien. Seine Kritik an der Digitalisierung und der modernen Lebensweise ist zwar nachvollziehbar, jedoch sollte man die positiven Aspekte dieser Entwicklungen nicht außer Acht lassen. Zudem ist es wichtig, die Komplexität gesellschaftlicher und politischer Zusammenhänge zu berücksichtigen und nicht in simplifizierenden Schuldzuweisungen zu verharren.

Trotz dieser Kritikpunkte liefert „Das erschöpfte Gehirn“ einen wertvollen Beitrag zur Diskussion über mentale Gesundheit und die Herausforderungen der modernen Gesellschaft. Das Buch regt zum Nachdenken an und gibt konkrete Anregungen für einen gesünderen und bewussteren Lebensstil.

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