Das Gehirn heilt sich selbst: Mechanismen der Neuroplastizität und Regeneration

In der Welt der Neurowissenschaften ist das menschliche Gehirn ein faszinierendes und komplexes Organ. Lange Zeit ging man davon aus, dass das Gehirn nach Abschluss der Entwicklung im Erwachsenenalter starr und unveränderlich sei. Diese Vorstellung hat sich jedoch grundlegend gewandelt. Dank bahnbrechender Forschungsergebnisse wissen wir heute, dass das Gehirn über eine bemerkenswerte Fähigkeit zur Selbstheilung und Anpassung verfügt, die als Neuroplastizität bezeichnet wird.

Ein Blick in die Geschichte: Freud und die Anfänge der Psycho-Neurobiologie

Bereits im späten 19. Jahrhundert versuchte Sigmund Freud, die neurobiologischen Grundlagen des Seelenlebens zu ergründen. Seine Bemühungen scheiterten jedoch an den begrenzten Erkenntnissen der damaligen Zeit über die Funktionen des Gehirns und die neuronale Informationsverarbeitung. Trotzdem hielt Freud bis zu seinem Tod an der Notwendigkeit einer neurobiologischen Fundierung seiner Lehre fest.

In den letzten Jahren haben Fortschritte in der bildgebenden Diagnostik, Neuropharmakologie und Neurogenetik neue Einblicke in die Entstehung psychischer Erkrankungen und die Wirkung psychotherapeutischer Methoden ermöglicht. Die enge Zusammenarbeit zwischen Neurobiologen, Psychologen, Psychiatern und Psychotherapeuten hat sich als unverzichtbar für die Planung, Durchführung und Auswertung psychoneurobiologischer Untersuchungen erwiesen.

Die Grundlagen der Psyche: Gene, Epigenetik und frühkindliche Erfahrungen

Fest steht, dass alles normale und krankhafte seelische Geschehen untrennbar an Hirnprozesse gebunden ist. Die Psyche und Persönlichkeit des Menschen entwickeln sich in engem Zusammenhang mit der Entwicklung des Gehirns, insbesondere des limbischen Systems. Das Gehirn verarbeitet verschiedene Einflüsse und setzt sie in Zustände psychischen Erlebens und in Verhalten um.

Zu diesen Einflüssen gehören:

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  • Gene: DNA-Abschnitte, die für die Bildung von Proteinen notwendig sind und auf klassische Weise vererbt werden. Es gibt jedoch keine einzelnen Gene für Persönlichkeitsmerkmale oder psychische Erkrankungen, sondern stets eine Vielzahl von Genen.
  • Epigenetik: Besonderheiten der Aktivierung von Genen, die teils vererbt, teils über Umwelteinflüsse modifiziert werden. Traumatische Erfahrungen der Mutter während der Schwangerschaft können beispielsweise die Entwicklung des Stressverarbeitungssystems im Gehirn des Kindes negativ beeinflussen.
  • Frühkindliche Erfahrungen: Erfahrungen in den ersten zwei bis drei Jahren nach der Geburt prägen die Ausgestaltung der Gefühlswelt des Säuglings und Kleinkindes, die Entwicklung der nichtsprachlichen Kommunikation und die Bindungsfähigkeit. Psychische Defizite der Bindungsperson können an das Kleinkind weitergegeben werden.
  • Psychische Erfahrungen: Erfahrungen in Familie, Kindergarten, Schule usw. passen das egozentrierte Fühlen, Denken und Handeln des Kleinkindes den Erfordernissen des familiären und gesellschaftlichen Zusammenlebens an. Es entwickeln sich Fähigkeiten zur Kooperation, Empathie, zum Einhalten gesellschaftlich-moralischer Regeln und zur Berücksichtigung der Konsequenzen eigenen Handelns.
  • Kognitiv-sprachliche Ebene: Entwicklung parallel zur oberen limbischen Ebene ab dem dritten und vierten Jahr mit dem Ausreifen kognitiver und sprachlicher Fähigkeiten. Hier lernen wir auch, von uns selbst ein „praktikables“ Bild zu entwickeln und wie wir uns darstellen sollen, um akzeptiert zu werden.

Psychoneurale Systeme: Stressverarbeitung, Selbstberuhigung und Bindung

Unser Seelenleben wird durch psychoneurale Systeme bestimmt, die in höchst individueller Weise auf den genannten Ebenen des Gehirns ablaufen. Das erste und wichtigste davon ist die Stressverarbeitung, die die Fähigkeit umfasst, sich aufregen und anschließend wieder abregen zu können. Dieses System wird in seiner vorgeburtlichen Entwicklung stark beeinträchtigt durch negative Einflüsse über das traumatisierte Gehirn der werdenden Mutter oder durch frühe nachgeburtliche Störungen im Rahmen einer negativen Bindungserfahrung.

Das System der Stressverarbeitung steht in enger Wechselwirkung mit dem System der Selbstberuhigung, das mit dem Neurotransmitter Serotonin zu tun hat, sowie mit der Ausschüttung hirneigener Belohnungsstoffe, der sogenannten endogenen Opioide. Beide Systeme zusammen bestimmen die Bedrohungsempfindlichkeit und Frustrationstoleranz eines Menschen.

Das dritte System ist das der Bindung und Sozialität, das an die Ausschüttung des „Bindungshormons“ Oxytocin gebunden ist. Innerhalb einer fürsorglichen und liebevollen Bindungserfahrung werden Oxytocin, Serotonin und endogene Opioide in hohem Maße sowohl im Säugling beziehungsweise Kleinkind als auch in der Bezugsperson ausgeschüttet, und dies ist dazu geeignet, eventuelle Defizite in der Stressregulation und im Selbstberuhigungssystem zumindest teilweise auszugleichen.

Die normale oder gestörte Ausbildung dieser drei Systeme bedingt die Entwicklung dreier weiterer psychoneuraler Systeme:

  • Impulskontrolle: Wie sehr werde ich von unmittelbaren Motiven getrieben, wie sehr lerne ich, soziale Regeln zu beachten, soziale Fähigkeiten auszubilden?
  • Belohnungsempfänglichkeit und Belohnungserwartung: Wie stark suche ich die Belohnung, den Erfolg, das Risiko, den Kick?
  • Realitätsbewusstsein und Risikowahrnehmung: Wie genau kann ich Situationen und Risiken einschätzen, wie sehr vermag ich aus (insbesondere negativen) Konsequenzen meiner Handlungen lernen?

Die ganz individuelle Art und Weise, wie sich die genannten sechs psychoneuralen Systeme bei einem Menschen ausbilden, bestimmen seine Persönlichkeit und damit sein Seelenleben.

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Psychische Erkrankungen und Psychotherapie: Die Rolle der limbischen Zentren

Psychische Erkrankungen wie Phobien, Angststörungen und Depression, aber auch Persönlichkeitsstörungen beruhen auf Defiziten in Ausbildung und Interaktion der genannten psychoneuralen Systeme. Diese Defizite werden dann als unbewusste oder bewusste Konflikte wirksam und führen zu bestimmten Reaktionen wie Vermeidung, Umdeutung, Verleugnung, Verdrängung, Abspaltung usw. Sie können sich tief in die bewussten und unbewussten Anteile des limbischen Systems, vor allem Amygdala und Basalganglien, eingraben und sind dann wie alle Gewohnheiten nur schwer zu ändern - in aller Regel nicht aus eigener Kraft, sondern durch psychotherapeutische Maßnahmen.

Eine erfolgreiche Psychotherapie sollte einhergehen mit einer sichtbaren Veränderung der gestörten Aktivität der genannten limbischen Zentren. Allerdings wirken die gängigen Psychotherapien in der Regel nur bei etwa einem Drittel der Patienten gut bis sehr gut, bei einem weiteren Drittel nur mäßig und beim dritten Drittel überhaupt nicht. Dies ist wesentlich dadurch begründet, dass keine selbst der bewährten Therapiemethoden bei allen Patienten gleichermaßen gut wirkt und dass der jeweilige Therapieerfolg vom individuellen Ausmaß der Vorbelastung und der verfügbaren psychischen Ressourcen abhängt.

Die unspezifischen Effekte einer therapeutischen Allianz, die durch Vertrauen und gemeinsamen Glauben an die Wirkung der Therapie entsteht, führen zu einer verstärkten Ausschüttung von Oxytocin, endogenen Opioiden und Serotonin sowie zu einer verminderten Ausschüttung von Cortisol und anderen Stresshormonen. Insbesondere wird die Neubildung von Nervenzellen in Gehirnzentren wie dem Hippocampus und den Basalganglien angeregt, die für Lernen und Umlernen kritisch sind.

Die Grenzen der Regeneration: Warum das Gehirn ein Sonderfall ist

Im Gegensatz zu anderen Organen wie Haut oder Knochen, die sich nach Verletzungen gut regenerieren können, ist das Gehirn anfälliger für bleibende Schäden. Dies liegt an der komplexen Struktur des Gehirns und der Breite der Aufgaben, die es zu bewältigen hat. Hinzu kommt, dass das Gehirn der Sitz unserer Persönlichkeit, unseres Ichs und unserer individuellen Geschichte ist.

Bei neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen und insbesondere bei Verletzungen des Gehirns gehen Inhalte verloren, da das Gehirn ein Speicher ungeheurer Informationsmengen ist. Selbst wenn die Rekonstruktion von strukturellen Schäden des Gehirns möglich würde, wären viele Inhalte und Funktionen mit der untergegangenen alten Struktur unwiederbringlich verloren.

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Zellersatztherapie: Hoffnung bei Parkinson und anderen Erkrankungen

Die Zellersatztherapie bietet Hoffnung für die Behandlung von neurologischen Erkrankungen, bei denen spezifische Gruppen von Nervenzellen betroffen sind. Ein Paradebeispiel ist die Parkinsonkrankheit, bei der der Untergang dopaminerger Nervenzellen zu Bewegungsstörungen führt. Durch die Transplantation von dopaminergen Zellen können die Symptome der Erkrankung gelindert werden.

Auch für die Chorea Huntington und die Multiple Sklerose wird die Zellersatztherapie diskutiert. Allerdings ist die Entwicklung klinischer Routinen, die den praktischen Einsatz der Zelltherapie erlauben, äußerst aufwendig. Zudem steht die Zellersatztherapie in Konkurrenz zu anderen Verfahren wie der Tiefenhirnstimulation, die bei vielen Parkinsonpatienten eine gute Wirkung zeigt.

Stammzellen aus dem Knochenmark: Mehr als nur Blutzellen

Die größte Quelle für Stammzellen im Organismus ist das Knochenmark, in dem Stammzellen lebenslang neue Blutzellen produzieren. Es gab eine Zeitlang die Annahme, dass aus Knochenmark auch Gehirn entstehen könnte. Nach einer Knochenmarktransplantation fand man im Gehirn des Empfängers Nervenzellen mit Merkmalen des Spenders. Es stellte sich jedoch heraus, dass Transdifferenzierung, also die Verwandlung von Blutzellen in Nervenzellen, nicht oder nur extrem selten vorkommt.

Trotzdem scheinen Stammzellen aus dem Knochenmark die Regeneration zu fördern oder zumindest das Fortschreiten der Erkrankung zu hemmen. Ein Teil dieses Prinzips könnte darin liegen, dass die implantierten Zellen zur Neubildung von Gefäßen beitragen und damit die Durchblutung des Gewebes sicherstellen. Zudem könnten die transplantierten Zellen die Kommunikation zwischen dem Immun- und dem Nervensystem verstärken.

Die Bedeutung der Neuroplastizität: Yoga, Stoßwellen und Mind-Body-Medizin

Die Erkenntnis, dass das Gehirn auch im Erwachsenenalter noch neue Nervenzellen bilden kann, hat das Dogma, das Gehirn könne nicht regenerieren, widerlegt. Die Neuroplastizität ermöglicht es dem Gehirn, sich an neue Erfahrungen anzupassen, neue Verbindungen zu schaffen und sich selbst zu verändern.

Verschiedene Faktoren können die Neuroplastizität fördern, darunter:

  • Yoga: Studien haben gezeigt, dass regelmäßige Yoga-Praxis das Volumen der grauen Substanz in Bereichen wie dem Hippocampus, der Amygdala und dem präfrontalen Kortex erhöhen kann. Yoga reduziert Stress, reguliert die Cortisolproduktion und verbessert die emotionale Stabilität.
  • Transkranielle Pulsstimulation (TPS): Bei der TPS werden niederfrequente Stoßwellen über einen Hand-Applikator nicht-invasiv durch die Schädeldecke hindurch in das Gehirngewebe übertragen. Dabei werden Stoffwechselprozesse an den synaptischen Schaltstellen der Nervenzellen aktiviert und regelrecht trainiert, also stimuliert.
  • Mind-Body-Medizin (MBM): Die MBM setzt auf Selbstwirksamkeit und -regulation des Menschen und verbindet mentale und verhaltensmedizinische Ansätze mit Lebensstilstrategien wie Stressregulation, Entspannung usw. Mind-Body-Therapien wie Meditation, Hypnose, Imagination, Yoga, Qigong und Tai-Chi können Selbstheilungsprozesse unterstützen.

Die Rolle des peripheren Nervensystems: Ein Schlüssel zur Regeneration?

Nervenzellen im peripheren Nervensystem (an jeder Stelle im Körper außer dem Gehirn und der Wirbelsäule) sind dazu imstande sich zu regenerieren, obwohl sie dies oft nur sehr schlecht und langsam tun. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass ein spezielles Protein namens Importin Beta an der Schadenstelle im Axon produziert wird. Dieses Protein transportiert Proteine mit „heilenden Botschaften“ zum Zellkern und ermöglicht so die Regeneration des Nervs.

Da das zentrale und das periphere Nervensystem miteinander verbunden sind, könnte die Fähigkeit des Transfers von Substanzen innerhalb des peripheren Nervensystems eines Tages das Sprungbrett zu neuen therapeutischen Mitteln darstellen, die direkt ins Gehirn und in die Wirbelsäule eingeführt werden.

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