Das menschliche Gehirn, das komplexeste Organ, das die Natur hervorgebracht hat, ist mit etwa 100 Milliarden Nervenzellen und einer noch größeren Anzahl von Kontaktpunkten ausgestattet. Diese verleihen ihm bemerkenswerte Fähigkeiten, die selbst die modernsten Supercomputer noch nicht erreicht haben. Eine der herausragendsten Fähigkeiten ist die Lernfähigkeit. Doch wie genau lernt unser Gehirn, und welche Faktoren beeinflussen diesen Prozess?
Neuroplastizität: Die Grundlage des Lernens
Lernen manifestiert sich als neuronale Veränderung von Strukturen und Funktionen im Gehirn, ein Phänomen, das als Neuroplastizität bekannt ist. Das Gehirn entwickelt sich von der Geburt an über viele Jahre und reift bis etwa Mitte zwanzig. In den ersten Lebensjahren und während der Kindheit durchläuft das Gehirn zahlreiche strukturelle Veränderungen. Bei der Geburt verfügen wir über einen Überschuss an neuronalen Verbindungen, von denen etwa die Hälfte im Laufe der Entwicklung durch einen Prozess namens "Pruning" abgebaut wird. Dieses gezielte Zurückschneiden überschüssiger Verbindungen ermöglicht die Differenzierung und Verstärkung der verbleibenden Verbindungen, wodurch effizientere und spezialisierte Netzwerke entstehen. Während Erwachsene bereits über ausdifferenzierte Netzwerke verfügen, die durch den Ausbau wichtiger und den Abbau ungenutzter Verbindungen geprägt sind, bleibt die Neuroplastizität ein Leben lang erhalten.
Sensible Perioden in der Gehirnentwicklung
Der Prozess des "Prunings" korreliert in der Pädagogik mit den sensiblen Perioden in der Entwicklung eines Kindes. Dies sind einzigartige Phasen, in denen das Kind in bestimmten Bereichen besonders schnell und effizient lernt. In diesen Phasen nehmen Kinder passiv die Statistiken ihrer Umwelt wahr und erkennen einfache Ereignisketten. Unwichtige oder unzusammenhängende Informationen werden verworfen, während relevante Informationen gespeichert werden, um sich in der jeweiligen Umgebung zurechtzufinden. Obwohl sich sensible Perioden zeitlich nicht klar eingrenzen lassen, da sie für verschiedene Hirnbereiche unterschiedlich auftreten und kein abruptes Ende haben, beschreiben sie individuelle Höhepunkte der Lernfähigkeit. Das Lernen in den jeweiligen Bereichen bleibt auch in späteren Lebensphasen möglich, jedoch nicht mehr so effizient wie in der Kindheit.
Die Bedeutung frühkindlicher Erfahrungen
Frühkindliche Erfahrungen spielen eine entscheidende Rolle für die Entwicklung des menschlichen Gehirns. Werden sensible Phasen verpasst, kann dies zu Defiziten in bestimmten Fähigkeiten führen. So können beispielsweise Menschen, die in frühen Lebensphasen nicht sehen konnten und erst später operiert wurden, grundlegende Unterschiede erkennen, haben aber Schwierigkeiten, Gesichter in verschiedenen Kontexten wiederzuerkennen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Funktion vollständig fehlt, sondern dass die sensible Phase für die Entwicklung eines Expertensystems verpasst wurde. Dies gilt auch für Bereiche wie Sprache, Motorik oder das Erlernen eines Musikinstruments.
Wie das Gehirn beim Lernen funktioniert
Das Gehirn ist ein Meister des Registrierens, Erinnerns und Neusortierens von Informationen. Es lernt nicht nur bewusst in der Schule oder Universität, sondern auch beiläufig, beispielsweise beim Spielen. Dabei werden komplexe Bewegungsabläufe, soziale Fähigkeiten und Interaktionsmuster erlernt. Eine kleine Struktur im Gehirn, der Hippocampus, ist für das Lernen und Erinnern verantwortlich. Er nimmt Informationen auf, speichert sie kurzzeitig ab und leitet sie in die Großhirnrinde weiter.
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Neuronale Mechanismen des Lernens
Informationen und Eindrücke aus der Umwelt werden als elektrische oder biochemische Impulse über Neuronen geleitet. Die Kontaktstellen an den Neuronen, die Synapsen, verändern sich beim Lernen. Bestehende Verbindungen werden verbessert oder neue Verknüpfungen im Gehirn geschaffen. Es entsteht eine Gedächtnisspur. Je öfter diese Spur aktiv gebraucht wird, desto besser erinnern wir uns an die abgespeicherte Information.
Aktives und selbstbestimmtes Lernen
Richtiges Lernen sollte aktiv und selbstbestimmt ablaufen. Beim Wissenserwerb wird das Glückshormon Dopamin ausgeschüttet. Wir empfinden Freude, wenn wir Neues kennenlernen. Deshalb fällt uns das Lernen auch leichter, wenn wir für Themen eine Leidenschaft entwickeln oder Spaß am Hinterfragen von Zusammenhängen haben. Die aktive Auseinandersetzung mit der Welt und das Sammeln eigener Erfahrungen sind grundlegende Voraussetzungen für effektives Lernen. Wenn beim Sprachenlernen Wörter mit bestimmten Bewegungen oder Emotionen verbunden werden, spricht das im Gehirn auch visuelle, akustische und sensomotorische Zentren an. Die Schüler können sich an die Wörter leichter erinnern.
Die Rolle von Wiederholung und Emotionen
Wiederholung ist ein wichtiger Faktor für das langfristige Speichern von Informationen. Durch regelmäßiges Wiederholen werden die Synapsen neu aktiviert und die Kontakte zwischen den Nervenzellen verstärkt. Noch einfacher geht es, wenn wir das Lernen mit Geschichten, Bildern oder Anekdoten verknüpfen und wirkliches Interesse am Thema zeigen. Unser Gehirn kann sich besser die Inhalte merken, auf die wir uns beim Lernen intensiv konzentriert haben und die wir uns vorstellen können. Auch Emotionen begünstigen das langfristige Speichern von Informationen im Gedächtnis. Informationen werden oft mit verschiedenen Wahrnehmungen, Gefühlen und Erinnerungen verbunden, was es ermöglicht, neu erlerntes Wissen im Langzeitgedächtnis abzuspeichern.
Die Plastizität des Gehirns im Erwachsenenalter
Entgegen früherer Annahmen ist das Gehirn auch im Erwachsenenalter lernfähig und veränderbar. Es verfügt über die Fähigkeit, sich immer wieder neu zu strukturieren. Neuere Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass auch Erwachsene, die etwas Neues lernen, möglicherweise noch einmal einen gewissen Überschuss an neuronalen Verbindungen produzieren, der anschließend zurückgeschnitten wird, um eine neue Funktion zu etablieren. Im Vergleich zur Kindheit finden diese Prozesse jedoch in einem vielfach kleineren Umfang statt.
Konsequenzen für das Lernen und Lehren
Die Erkenntnisse der Hirnforschung haben wichtige Konsequenzen für die Praxis des Lernens und Lehrens. Kinder brauchen zunächst viele Fakten, auf denen sie aufbauen können. Sie entwickeln individuelle Lernbedürfnisse in unterschiedlichen Phasen ihres Lebens. Um diese zu stillen, muss ihnen ihr Umfeld, einschließlich der Schule, entsprechende Lern- und Entdeckungsmöglichkeiten sowie Wiederholungs- und Vertiefungsmöglichkeiten anbieten.
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Die Bedeutung des lebenslangen Lernens
Auch wenn sensible Perioden für das Lernen bestimmter Fähigkeiten von Bedeutung sind, ist es wichtig zu betonen, dass Lernen in jeder Lebensphase positive Effekte hat. Selbst wenn die Renditen später geringer sind, bleibt der Effekt positiv. Lernen bringt immer Vorteile mit sich und ist niemals schädlich. Es ist daher wichtig, die Chancen, die sich frühzeitig bieten, nicht zu verpassen und Kindern Lernangebote zu machen, wenn sie dazu bereit sind.
Wie man das Gehirn beim Lernen unterstützt
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, das Gehirn beim Lernen zu unterstützen und die synaptischen Verbindungen zu fördern. Dazu gehören:
- Aktives Lernen: Durch aktives Auseinandersetzen mit dem Lernstoff, beispielsweise durch das Stellen von Fragen, das Diskutieren mit anderen oder das Anwenden des Gelernten in praktischen Übungen, werden mehr Gehirnareale aktiviert und die Informationen besser verankert.
- Multisensorisches Lernen: Das Einbeziehen mehrerer Sinne beim Lernen, beispielsweise durch das Betrachten von Bildern, das Hören von Audioaufnahmen oder das Ausführen von Bewegungen, kann die Gedächtnisleistung verbessern.
- Emotionale Verbindung: Das Verknüpfen von Lerninhalten mit positiven Emotionen oder persönlichen Erfahrungen kann das Interesse und die Motivation steigern und das Lernen erleichtern.
- Wiederholung und Übung: Regelmäßiges Wiederholen und Üben des Lernstoffs festigt die neuronalen Verbindungen und verbessert die langfristige Erinnerung.
- Pausen und Entspannung: Ausreichend Pausen und Entspannung sind wichtig, damit das Gehirn die neuen Informationen verarbeiten und festigen kann.
- Gesunde Lebensweise: Eine gesunde Ernährung, ausreichend Schlaf und regelmäßige Bewegung können die Gehirnfunktion und die Lernfähigkeit verbessern.
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