Das geteilte Gehirn einfach erklärt

Die Vorstellung von der Funktionsweise des Gehirns und seiner beiden Hälften hält sich hartnäckig: Die linke Hälfte sei rational, die rechte emotional. Doch die moderne Forschung zeigt ein komplexeres Bild. Dieser Artikel beleuchtet die Erkenntnisse der Wissenschaft, insbesondere die der Split-Brain-Forschung, um ein umfassendes Verständnis des Gehirns zu ermöglichen.

Bilaterale Symmetrie und Spezialisierung

Der menschliche Körper ist bilateral symmetrisch aufgebaut, mit spiegelbildlichen Hälften entlang der Längsachse. Das Gehirn bildet hier keine Ausnahme. Groß- und Kleinhirn sind durch eine tiefe Längsfurche in zwei Hälften geteilt, und auch tieferliegende Hirnregionen weisen einen symmetrischen Aufbau auf.

Evolutionär gesehen hängt diese Symmetrie eng mit der Entstehung einer Kopfregion mit Gehirn zusammen. Die Ausbildung einer Längsachse bei mobilen Tieren definierte ein "Vorne" und "Hinten" und schuf die Grundlage für ein "Rechts" und "Links", die Basis der Bilateralsymmetrie. Interessanterweise versorgt jede Hirnhälfte vornehmlich die Muskulatur der gegenüberliegenden Körperhälfte und empfängt von dort Sinnesreize.

Embryonale Entwicklung und Plastizität

Im Mutterleib entwickelt sich das Gehirn aus Erweiterungen des vorderen Neuralrohrs, den Hirnbläschen. Obwohl sich die beiden Endhirnhälften ähneln, sind sie nicht identisch. Schon bei äußerer Betrachtung fallen Unterschiede auf, beispielsweise bei Teilen des Temporallappens. Auch funktionelle Zentren können sich bevorzugt in einer Hemisphäre ausbilden, ein Phänomen, das als Lateralisation bezeichnet wird. So befindet sich das motorische Sprachzentrum (Broca-Areal) meist in der linken Hälfte.

Beide Hemisphären arbeiten jedoch eng zusammen. Von einer strikten Spezialisierung der Hemisphären, insbesondere für höhere geistige Funktionen, kann also nur eingeschränkt gesprochen werden. Die enorme Plastizität des Gehirns, besonders in jungen Jahren, ermöglicht es, dass selbst Zentren, die als streng seitenbezogen gelten, umstrukturiert werden können, um Informationen aus anderen Regionen zu verarbeiten.

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Split-Brain-Forschung: Einblick in getrennte Realitäten

Die Durchtrennung des Balkens (Corpus callosum), der Verbindung zwischen den beiden Hirnhälften, wurde früher bei Patienten mit schwerer Epilepsie durchgeführt, um die Ausbreitung von Anfällen zu verhindern. Diese Operation, Callosotomie genannt, wird auch heute noch selten angewendet. Die Forschung an sogenannten Split-Brain-Patienten, insbesondere durch den Neurobiologen Roger Sperry, der dafür 1981 den Nobelpreis erhielt, offenbarte faszinierende Einblicke in die Spezialisierung der Hirnhälften.

Sperry und sein Assistent Michael Gazzaniga entwickelten Tests, bei denen den Patienten Bilder auf zwei Bildschirmen präsentiert wurden, wobei sie einen Punkt in der Mitte fixieren mussten. Wenn ein Bild (z.B. eine Tasse) kurz auf dem rechten Bildschirm gezeigt wurde, konnten die Patienten es benennen. Erschien jedoch auf dem linken Bildschirm das Bild einer Gabel, konnten sie diese nicht benennen. Mit der linken Hand konnten sie aber das Wort aufschreiben, in einer Liste auf das richtige Wort tippen oder die Gabel durch Fühlen unter mehreren verdeckten Gegenständen heraussuchen. Fragte man die Patienten anschließend, was sie da niedergeschrieben hatten, hatten sie keine Ahnung.

Sperry schloss daraus, dass die Hirnhälften außerordentlich spezialisiert sind: Die linke Seite sei eher für Analytisches und Sprachliches zuständig, die rechte Seite sei besser in räumlicher Wahrnehmung und Musik. Bei Split-Brain-Patienten können die beiden Hirnhälften jedoch nicht mehr miteinander kommunizieren. Die Informationen aus dem linken Gesichtsfeld gelangen so nur in die rechte Hirnhemisphäre.

Das "Alien Hand Syndrom"

Das "Alien Hand Syndrom" (AHS) ist ein weiteres faszinierendes Beispiel für die Auswirkungen einer gestörten Kommunikation zwischen den Hirnhälften. Betroffene Personen können eine ihrer Hände nicht mehr kontrollieren, und diese Hand scheint ein Eigenleben zu führen. Häufig werden die Handlungen dieser Hand als opponierend empfunden.

Dieses Phänomen tritt nach Verletzungen oder fehlerhaften Entwicklungen der Kommunikationsstränge zwischen den Großhirnhälften auf, beispielsweise durch Tumore oder die Durchtrennung des Corpus callosum. Nach der Durchtrennung der Verbindungskabel zwischen den Großhirnrinden weiß die eine Hirnhälfte nicht mehr, was die andere denkt. Es können zwei mechanisch getrennte "Persönlichkeiten" entstehen, die sich sogar bekämpfen können.

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Die Rolle des Corpus Callosum

Die beiden Hemisphären sind durch die Fisssura longitudinalis, eine Längsspalte, voneinander getrennt. Verbunden sind die beiden Gehirnhälften nur durch wenige kleine Leitungen, die sogenannten Kommissuren. Die größte und stärkste Verbindung zwischen den Hemisphären ist der Corpus callosum mit etwa 200 Millionen Nervenfasern.

Bei bestimmten Erkrankungen wie Epilepsie wird in seltenen Fällen der Corpus callosum operativ gekappt. Dadurch verbleiben die „fehlerhaften elektrischen Signale“, die bei Epilepsie von einem Punkt ausgehend das Gehirn fluten, in einer Hemisphäre. Man schneidet sozusagen eine Brandschneise, um das Lauffeuer des Epilepsieanfalls auszubremsen und zu verhindern, dass es sich im ganzen Gehirn ausbreitet. Patienten mit dieser Art von Eingriff werden auch Split-Brain-Patienten genannt.

Konfabulation und der Interpretier-Mechanismus

Bei Experimenten mit Split-Brain-Patienten kann ein spannendes Phänomen beobachtet werden: Wenn einem Split-Brain-Patienten ein Gegenstand mit der rechten Gehirnhälfte, also der ohne Sprachzentrum, gezeigt wird und er dann aufgefordert wird, einen Gegenstand aus einer Gruppe von Gegenständen auszuwählen, wählt er den richtigen Gegenstand. Er kann jedoch nicht erklären, warum.

Das Gehirn versucht nun eine schlüssige Geschichte zu kreieren, um zu erklären, warum es den Gegenstand nicht benennen kann. Dieser Effekt wird auch Konfabulation genannt. Die neu kreierte Realität wird vom Patienten für wahr gehalten.

Dieses Talent kreativen Erzählens wird auch als Interpretier-Mechanismus bezeichnet. Die linke Hemisphäre erfindet plausible Erklärungen für Verhaltensweisen, die von der rechten Hemisphäre gesteuert werden, auch wenn sie die wahren Gründe nicht kennt. Dieses Phänomen zeigt, wie das Gehirn versucht, ein kohärentes Bild der Welt zu erzeugen, selbst wenn Informationen fehlen.

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Plastizität und Anpassung

Das Gehirn ist keine starre Struktur. Die Architektur des Gehirns kann sich im Laufe des Lebens verändern, um besser für verschiedene Aufgaben gerüstet zu sein. Die Funktion des Gehirns beeinflusst die Gehirn-Architektur, welche wiederum die Funktion beeinflusst.

Man weiß, dass sich das Gehirn von Split-Brain-Patienten an diesen Sonderzustand anpassen kann. Ein Patient lernte nach 13 Jahren auch mit der rechten Hemisphäre zu sprechen und Gegenstände zu benennen. Sehr wahrscheinlich hat sein Gehirn neue Wege geformt und andere, kleinere, nicht durchtrennte Kommissuren als Brücke genutzt, um Informationen zum Sprachzentrum zu senden. Bei Kindern ist diese Eigenschaft der Plastizität noch stärker ausgeprägt. Es kommen Kinder auf die Welt, die von Geburt an keinen Corpus callosum besitzen. Jedoch lernen diese schon früh andere Brücken zu nutzen, und der Effekt des Split-Brain kann bei ihnen nur vermindert oder überhaupt nicht mehr beobachtet werden.

Hemisphärische Spezialisierung: Mehr als nur Logik und Kreativität

Es ist ein weit verbreiteter Mythos, dass die linke Gehirnhälfte für Logik und die rechte für Kreativität zuständig ist. Die Realität ist komplexer. Zwar gibt es eine gewisse Spezialisierung, aber beide Hemisphären sind am Denken und Fühlen beteiligt.

Die rechte Hemisphäre ist spezialisiert auf gefühlsmäßiges und konkretes Denken, Anfassen und Begreifen, ganzheitliches Arbeiten, Integration, Musik, Geräusche, Farben, Gerüche, Schriftbilder, Formen, Bilder, Gestalten, räumliches Nebeneinander, Sehen, Fühlen, Deuten und Verstehen sowie Intuition und Kreativität.

Die linke Hemisphäre ist spezialisiert auf logisches und abstraktes Denken, Bildung von Begriffen, analytisches Arbeiten, Analysieren, Buchstaben, Zahlen, Einzelheiten, Fakten, zeitliches Nacheinander, Hören, Sprechen, Schreiben und Lesen sowie Befolgung von Regeln und Anweisungen.

Das Zusammenspiel von rechter und linker Gehirnhälfte ist für uns von großer Bedeutung. Das rechte Zentrum lässt uns erst die volle Bedeutung von Sätzen, nicht nur das Gesagte, sondern das Gemeinte verstehen.

Das Ungleichgewicht der Hemisphären

Der Psychiater und Neurowissenschaftler Iain McGilchrist argumentiert, dass seit dem Beginn der Industrialisierung das Verhältnis der Hemisphären in der Schaltzentrale unseres Körpers ins Ungleichgewicht geraten sei. Die linke Hälfte, die eher schematisches, rationales Denken steuere, habe mittlerweile die Vorherrschaft übernommen. Für McGilchrist hat beispielsweise die weltweite Finanzkrise ihre Ursache in linkshemisphärischem Denken.

McGilchrist sieht die linke Hemisphäre als ursprünglichen Gesandten der rechten. Er glaubt sogar, dass der Kampf zwischen den Gehirnhälften den Gang der Geschichte mitbestimmt hat. In der klassischen Antike und in der europäischen Renaissance und Aufklärung seien die Hemisphären im Gleichgewicht gewesen. Nach diesen Blütezeiten unserer Zivilisation jedoch habe jedes Mal die linke Gehirnhälfte die Oberhand gewonnen. Die Gesellschaft wurde immer starrer und machtorientierter und verlor an geistiger Regheit.

Kritik an McGilchrists Theorie

McGilchrists Theorie blieb nicht unangefochten, speziell in ihren kulturhistorischen Verzweigungen. Viel zu spekulativ sei sie, um noch als harte Wissenschaft zu gelten, kritisieren manche. Und die Erkenntnisse der Hirnforschung seien „viel zu grob, um die psychologischen und kulturellen Folgerungen zu stützen, die McGilchrist zieht“, befand der englische Philosoph A. C. Grayling.

Onur Güntürkün, der sich an der Universität Bochum mit Hemisphärenforschung beschäftigt, hält es zwar für „ legitim und möglich“, die Unterschiede zwischen den Gehirnhälften als Persönlichkeitsunterschiede zu betrachten. „Aber wenn Sie sagen, das geht mir zu weit, ist das auch legitim“, meint Güntürkün.

Iain McGilchrist bestreitet nicht, dass seine Theorie von den zwei Persönlichkeiten eine Metapher ist. Und Metaphern haben nun mal eine begrenzte Tragweite.

Die Kommunikation zwischen den Hirnhälften nach der Durchtrennung des Balkens

Die Split-Brain-Forschung hat seit den Anfängen viele Gebiete der Neurowissenschaften bereichert und tut das noch immer. Das betrifft nicht nur die funktionelle Asymmetrie, zu der noch manches entdeckt wurde. Wir verstehen inzwischen auch, wie die beiden Hirnseiten nach Durchtrennung des Balkens kommunizieren. Die Erkenntnisse beleuchten die Sprachverarbeitung, die Mechanismen der Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, aber auch die Gehirnorganisation, und sie sagen womöglich etwas über den Sitz falscher, nur eingebildeter Erinnerungen. Am vielleicht faszinierendsten ist jedoch, was sie zu den Vorstellungen vom Bewußtsein und von der Evolution der Funktionsweise des Gehirns beitragen.

Die frühen Studien warfen viele interessante Fragen auf, so auch die, ob die beiden separierten Großhirnhälften sich noch irgendwie einander mitteilen können und falls ja, was dies für das Denken und Handeln bedeutet. Der Balken ist zwar die mächtigste neuronale Brücke (Kommissur) zwischen den beiden Seiten, jedoch gibt es noch einige andere. Normalerweise durchtrennt man bei der geschilderten Operation nur den Balken und läßt die übrigen, kleineren Kommissuren intakt.

Welche Rolle sie haben könnten, hat man anhand des Aufmerksamkeitssystems geprüft, das zielgerichtete Wahrnehmung ermöglicht. Eine Reihe von Strukturen in der Großhirnrinde, dem Cortex, und in tiefergelegenen, entwicklungsgeschichtlich älteren Teilen des Endhirns sind daran beteiligt. Anfang der achtziger Jahre erkannte Jeffrey D. Holtzman von der Cornell-Universität in Ithaca (New York), daß jede Hirnhälfte eines Split-Brain-Patienten bei räumlicher Wahrnehmung auch auf bestimmte Stellen beispielsweise im Blickfeld zu achten vermag, die eigentlich zur Sinnessphäre der Gegenseite gehören. Das legt nahe, daß das Aufmerksamkeitssystem, zumindest das für räumliche Informationen, beiden Hemisphären gemeinsam ist. Offenbar bleibt über die kleineren Kommissuren irgendeine Verbindung bestehen.

Besonders interessant war diese Studie, weil sie nahelegte, daß es quasi nur begrenzte Ressourcen für Aufmerksamkeit gibt. Holtzman vermutete, daß um so mehr von diesen Ressourcen beansprucht wird, je schwerer oder anspruchsvoller die Aufgabe ist - und daß eine Hemisphäre dann immer mehr die Hilfe tieferer Bereiche des Endhirns oder der anderen Seite einfordern muß. Wichtig war in diesem Zusammenhang seine Entdeckung von 1982, daß bei den Operierten beide Seiten tatsächlich voneinander abhängen: Je mehr Aufmerksamkeit eine Seite leisten muß, um so schwerer fällt es der anderen, gleichzeitig andere Aufgaben zu erfüllen.

Nach neueren Arbeiten von Steve J. Luck von der Universität von Iowa in Iowa City, Steven A. Hillyard und seinen Kollegen von der Universität von Kalifornien in San Diego und Ronald Mangun von der Universitiät von Kalifornien in Davis bleibt ein weiterer Aspekt der Aufmerksamkeit trotz durchtrennten Balkens gewahrt. Sie ließen die Testpersonen ein Gesichtsfeld nach einem Muster oder Gegenstand absuchen, und bei einigen dieser visuellen Detektionsaufgaben schnitten Split-Brain-Patienten besser ab als andere Probanden. Offensichtlich hemmt das unversehrte Gehirn die Suchmechanismen, über die jede Hemisphäre von Natur aus verfügt. Gerade die linke Hemisphäre bewältigt solche Aufgaben mit Bravour. Wie Alan Kingstone von der Universität von Alberta in Edmonton (Kanada) herausfand, verfügt sie über geradezu pfiffige Suchstrategien - die rechte nicht. Die linke schneidet besser ab, wenn es gilt, unter einer Anzahl gleicher Posten einen etwaigen nicht dazugehörigen auf möglichst effiziente Weise zu finden. Es scheint, als könne im intakten Gehirn die kompetentere linke Hemisphäre das Aufmerksamkeitssystem nun für sich allein beanspruchen.

Es gibt noch mehr Belege für eine gewisse Verständigung zwischen den beiden Großhirnseiten nach dem Balkenschnitt, doch manche vermeintlichen Verbindungen erwiesen sich als Scheineffekte.

Tierversuche und die Übertragbarkeit auf den Menschen

Die Forschung über die Rolle des Balkens bei verschiedenen Hirnfunktionen hat an unerwarteter Stelle die Grenzen der Übertragbarkeit von Tierversuchen aufgezeigt. So untersuchen Neurowissenschaftler seit vielen Jahren die Gehirne von Affen und anderen Tieren, weil sie wissen möchten, wie das menschliche Gehirn arbeitet. Gemeinhin herrschte bis in die jüngste Zeit die Überzeugung - die auch der Begründer der Evolutionstheorie Charles Darwin (1809 bis 1882) nachdrücklich vertrat -, die Gehirne unserer nächsten Verwandten seien dem unseren in der Organisation und der Funktionsweise weitgehend gleich.

Doch wie die Split-Brain-Studien deutlich machen, muß das nicht immer zutreffen. Trotz der bemerkenswerten Übereinstimmung mancher Strukturen und Abläufe gibt es zahlreiche Unterschiede. Ein gutes Beispiel ist die vordere Kommissur, eine kleinere Verbindung zwischen rechts und links, die unterhalb des Balkens verläuft. Affen, bei denen dieses schmale Faserbündel bei der Split-Brain-Operation verschont blieb, können weiterhin visuelle Information zur anderen Hirnseite geben - was beim Menschen überhaupt nicht gelingt. Die gleiche Struktur kann somit bei verschiedenen Spezies andere Funktionen haben, und man sollte bei der Übertragung von Befunden äußerst vorsichtig sein.

Individuelle Unterschiede und Plastizität

Selbst eine vorschnelle Verallgemeinerung von Mensch zu Mensch kann fehlgehen. Zu unseren ersten eindrucksvollen Befunden an Split-Brain-Patienten gehörte die Beobachtung, daß die linke Hemisphäre Sprache zwanglos verarbeiten und von ihren Erfahrungen reden konnte; die rechte Seite war weniger beweglich, doch wies auch sie Spuren eines Sprachvermögens auf: Unter anderem konnte sie Wörter Bildern zuordnen, buchstabieren, reimen und Objekte kategorisieren. Wir fanden rechts zwar niemals Hinweise auf eine Syntax und einen vernünftigen Satzbau, doch wir gewannen den Eindruck, daß dort immerhin ein recht eindrucksvoller Wortschatz vorhanden sei.

Im Lauf der Jahre ist nun klargeworden, daß unsere ersten Fälle Ausnahmen waren, denn bei den meisten Menschen kann die rechte Hemisphäre nicht einmal einfachste sprachliche Aufgaben bewältigen. Das besagen auch neurologische Befunde von Schlaganfallpatienten: Die Folgen eines linksseitigen Hirninfarkts sind für das Sprachvermögen wesentlich fataler.

Allerdings sind auch hierin die Plastizität und die individuellen Unterschiede groß. Einer der Split-Brain-Patienten, J. W., lernte später auch von der rechten Hemisphäre her zu sprechen - dreizehn Jahre nach der Operation. Er vermag nun über Inhalte zu reden, die seinem linken oder auch seinem rechten Gehirn präsentiert werden.

Von einem bisher einzigartigen Fall berichtet Kathleen B. Baynes von der Universität von Kalifornien in Davis. Die linkshändige Patientin sprach nach der Operation - nicht weiter ungewöhnlich - aus der linken Hemisphäre heraus. Doch zu schreiben vermochte sie ausschließlich von rechts aus, von der stummen Seite her. Das bestätigt die These, daß das Schreibvermögen nicht an die Fähigkeit zur phonologischen Repräsentation gebunden sein muß. Anders ausgedrückt scheint es sich um ein eigenständiges System zu handeln, eine Erfindung von Homo sapiens, und es braucht nicht Teil des ererbten Systems für gesprochene Sprache zu sein.

Modularität und Spezialisierung

Trotz der unzähligen Ausnahmen und Gegenbeispiele zeigt die Split-Brain-Forschung aber doch eine hochgradige Lateralisierung auf - also eine Spezialisierung der beiden Hemisphären. Dieses Ergebnis paßt sehr gut in das Bild, das sich in den letzten Jahrzehnten in anderen Zweigen der Hirnforschung herausgebildet hat. Man stellt sich eine Organisation in Modulen vor, in einzelnen Einheiten mit jeweils spezifischer Funktion. Nach diesem Konzept, das in den Kognitions- wie Neurowissenschaften, in der evolutionären Psychologie wie in der Forschung zur Künstlichen Intelligenz verfolgt wird, ist das Gehirn nicht einfach eine unspezialisierte Problemlösungsmaschinerie, bei der jeder Teil im Prinzip alles kann. Vielmehr wäre es ein Ensemble von eigenen Apparaturen, das alles in allem der geistigen Informationsverarbeitung dient.

So gesehen hat die linke Hemisphäre sich bei anspruchsvollen kognitiven Leistungen, etwa dem Problemlösen, als ziemlich dominant entpuppt, und die Balkendurchtrennung scheint diese Fähigkeiten nicht zu beeinträchtigen. Man hat den Eindruck, das linke Gehirn benötigt dazu die immense Kapazität des rechten gar nicht - das übrigens seinerseits bei verzwickten Problemstellungen versagt.

Der Interpretier-Mechanismus und falsche Erinnerungen

Vor fast 20 Jahren haben Joseph E. LeDoux von der New-York-Universität und ich diesen Qualitätsunterschied an Split-Brain-Patienten mit einem recht schlichten Versuch aufgedeckt. Wir wollten wissen, wie die linke Hirnhälfte auf Verhaltensäußerungen der stummen rechten reagiert. Dazu zeigten wir jeder Hemisphäre auf dem Projektionsschirm kurz ein großes Bild und dazu jeweils vier kleine, die auf dem Tisch lagen. Jede Hälfte für sich sollte wählen, welches der kleinen Objekte zum großen gehört. Die linke Hand - als Werkzeug der rechten Hemisphäre - wies dabei auf das vom rechten Hirn gewählte Objekt, die rechte Hand darauf, wofür das sie befehligende linke Hirn sich entschieden hatte. Beide machten ihre Sache ohne weiteres korrekt.

Hinterhältigerweise fragten wir dann die linke Hemisphäre - denn nur sie vermag ja zu antworten -, warum die linke Hand wohl auf jenes Bild zeige. Natürlich konnte sie das gar nicht wissen. Schließlich war die Entscheidung allein Sache der Gegenseite gewesen. Doch sie hatte auf der Stelle eine frisch erfundene, plausible Erklärung parat. Dieses Talent kreativen Erzählens nannten wir Interpretier-Mechanismus.

Die erstaunliche Begabung zum Fabulieren stand im Zentrum neuerer Untersuchungen, bei denen herausgefunden werden sollte, wie dieser in der linken Hemisphäre sitzende Interpret das Gedächtnis beeinflußt. Wie Elizabeth A. Phelps von der Yale-Universität in New Haven (Connecticut), Janet Metcalfe von der Columbia-Universität in New York und Margaret Funnell vom Dartmouth-College in Hanover (New Hampshire) feststellten, unterscheiden die beiden Hemisphären sich in ihrem Umgang mit neuen Items. Normalerweise behält man viel von dem, was man Neues erlebt - beziehungsweise in Tests präsentiert bekommt. Bei Nachfrage ist es auch normal, daß man sich felsenfest an vermeintliche Tatsachen erinnert, die es in Wirklichkeit gar nicht gab. Führt man solche Tests mit Split-Brain-Patienten durch, dann produziert die linke Hemisphäre viele solcher falschen Erinnerungen - ganz im Gegensatz zur rechten, die sich viel mehr an die Wahrheit hält.

Dieser Befund könnte Aufschluß darüber geben, wo und wie Erinnerungstäuschungen entstehen. Es gibt verschiedene Thesen, in welcher Phase des informationsverarbeitenden Zyklus sie aufkommen. Manche Forscher meinen, sie würden sofort entstehen und gleichzeitig mit dem tatsächlichen Ereignis abgespeichert. Andere sind der Ansicht, daß der Fehler erst beim Abrufen der Erinnerung entsteht: Wenn man sich ein Schema der Ereignisse ins Gedächtnis rufe, würde man passende Details dazuerfinden.

Was über die linke Hemisphäre in Erfahrung gebracht wurde, deutet stark darauf hin, daß falsche Erinnerungen nicht nur eine Folge von schlampiger Informationsverarbeitung sind, sondern daß sie vielleicht sogar eine notwendige Folge unserer Fähigkeit zum Denken und Planen sind. Wie immer die tatsächlichen Mechanismen aussehen mögen, die Split-Brain-Forschung hat einiges dazu beigetragen, sie zu erhellen.

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