Demenz ist ein Oberbegriff für etwa 50 verschiedene neurophysiologische Erkrankungen, von denen Morbus Alzheimer die häufigste ist. Bei einer Demenzerkrankung fallen im Laufe der Zeit immer mehr Gehirnfunktionen aus, wobei das Gehirn als Steuerungszentrale für den gesamten Körper fungiert. In den ersten Phasen einer Demenz leiden Betroffene in der Regel noch nicht unter körperlichen Beeinträchtigungen; Gedächtnislücken, Wortfindungsstörungen und Orientierungsprobleme stehen im Vordergrund. Mit fortschreitender Demenz können jedoch auch körperliche Symptome auftreten, die das Essverhalten beeinflussen.
Ein verändertes Essverhalten ist ein häufiges und komplexes Problem bei Demenzerkrankungen. Manche Betroffene essen ständig, andere verlieren den Appetit. Dieses veränderte Essverhalten kann verschiedene Ursachen haben, die sowohl physischer als auch psychischer Natur sein können.
Körperliche Ursachen für verändertes Essverhalten bei Demenz
Im fortgeschrittenen Stadium einer Demenz entwickeln Patient:innen häufig Schwierigkeiten beim Gehen oder können plötzlich nicht mehr laufen. Der Gang ist unsicher und schwankend, die Gangart kleinschrittig und instabil, was ein erhöhtes Sturzrisiko zur Folge hat. Grobmotorische Einschränkungen und Schwierigkeiten bei der Koordination kommen hinzu. Allmählich kommt es auch zum Verlust der Feinmotorik, was bedeutet, dass Tätigkeiten, die Geschick oder Präzision erfordern, ohne Unterstützung nicht mehr möglich sind.
Harn- und/oder Stuhlinkontinenz schränken die Selbstständigkeit bei fortgeschrittener Demenz weiter ein. Zum einen verlieren die Betroffenen aufgrund der Veränderungen in ihrem Gehirn die Kontrolle über Blase und Darm, zum anderen sind sie oftmals nicht fähig, den Weg zur Toilette zu finden und urinieren dort, wo sie sich gerade befinden. Bei Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium ist oftmals die neurologische Steuerung jener Muskeln eingeschränkt, die am Schluckvorgang beteiligt sind. Schluckstörungen, sogenannte Dysphagien, treten daher im Zuge einer Demenz sehr oft auf. Die Folge: Betroffene verschlucken sich häufig, was das Risiko für eine Lungenentzündung (Aspirationspneumonie) erhöht. Außerdem kann eine Dysphagie auch zur Nahrungsverweigerung und schlimmstenfalls zu Dehydrierung, Mangelernährung und damit einhergehend zu einer allgemeinen Verschlechterung des Gesundheitszustands führen.
Verlust von Fähigkeiten und Kompetenzen
Mit dem Fortschreiten einer Demenz verlieren viele Betroffene nach und nach die Fähigkeit, selbstständig zu essen und zu trinken. Besteck wird nicht mehr richtig geführt, Speisen rutschen aus dem Mund, das Tempo beim Essen ist oft zu hoch oder zu niedrig, Husten und Würgen treten vermehrt auf.
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Hunger- und Sättigungsgefühl
Manche Betroffene haben ständig Hunger, andere fühlen sich nie hungrig. Körpersignale wie Übelkeit oder Magengrummeln werden falsch gedeutet, das Bedürfnis nach Essen oft nicht erkannt.
Schluckstörungen (Dysphagie)
Schluckstörungen nehmen mit dem Fortschreiten der Demenz zu. Sie erschweren das Essen, erhöhen das Risiko des Verschluckens und machen die Nahrungsaufnahme zur anstrengenden Aufgabe. Da der Schluckreflex über 50 Muskelpaare benötigt, reicht eine geringe Störung im Gehirn, um den Ablauf zu beeinträchtigen.
Veränderungen im Geschmacksempfinden
Was sauer schmeckt, stößt auf Ablehnung, während süße Speisen besonders gerne gegessen werden. Die teilweise veränderte Geschmackswahrnehmung von Speisen oder einzelnen Lebensmitteln bremst den Appetit.
Erhöhter Energiebedarf
Viele Menschen mit Demenz sind sehr unruhig, laufen viel umher oder zeigen ein gesteigertes Bewegungsbedürfnis. Dadurch kann ihr Energiebedarf deutlich über dem von gesunden Seniorinnen und Senioren liegen. Während der durchschnittliche Tagesbedarf im Alter bei etwa 1.800-2.200 kcal liegt, benötigen stark unruhige Demenzkranke oft spürbar mehr Kalorien.
Psychische und neurologische Ursachen
Neben den körperlichen Ursachen spielen auch psychische und neurologische Faktoren eine Rolle bei verändertem Essverhalten im Zusammenhang mit Demenz.
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Frontotemporale Demenz (FTD)
Eine seltene Form der Demenz, die Frontotemporale Demenz (FTD), betrifft zu einem großen Teil Menschen unter 65 Jahren. Die FTD macht sich unter anderem durch Veränderungen der Persönlichkeit, des Sozialverhaltens sowie der sprachlichen Fähigkeiten bemerkbar. Zudem kann sie sich in ganz spezifischen Situationen zeigen - nämlich beim Essen. Schließlich kann die FTD die Essgewohnheiten der Betroffenen verändern. So ist es möglich, dass sie deutlich mehr essen und trinken als früher, auf zwanghafte oder unangemessene Art und Weise ihre Nahrung zu sich nehmen oder nur noch ausgewählte Lebensmittel verzehren. Auch Binge Eating, also Essanfälle, sowie Heißhungerattacken, großes Verlangen nach Süßigkeiten oder Kohlenhydraten sowie schlechte Tischmanieren sind mögliche Anzeichen.
Gedächtnisverlust und Vergesslichkeit
So wie Demenzpatienten vergessen, dass sie vielleicht einmal einen Ehepartner, Kinder oder Geschwister hatten, so können sie auch vergessen, warum sie essen sollen. Sie können Hunger nicht mehr mit essen in Verbindung bringen. Oder die andere Variante: Sie erinnern sich nicht mehr daran, dass sie bereits gegessen haben und essen mehrfach am Tag zu Mittag oder zu Abend.
Verhaltensauffälligkeiten
Zu den Symptomen der Demenz gehören verschiedene typische Verhaltensweisen und Handlungsmuster der Betroffenen, mit denen sich die meisten Angehörigen zu einem bestimmten Zeitpunkt auseinandersetzen müssen. Viele Menschen mit Demenz stellen immer wieder dieselbe Frage oder wiederholen die gleichen Sätze oder Handlungen. Oftmals ist wiederholtes Fragen auch ein Zeichen von Angst oder Unsicherheit.
Desinteresse
Manche Betroffene sind an dem Geschehen um sich herum desinteressiert. Auch das Essen ist nicht mehr von Bedeutung.
Umgang mit verändertem Essverhalten bei Demenz
Für Angehörige ist ein gestörtes Ess- und Trinkverhalten oft mit Stress und Sorge verbunden. Es ist wichtig, sich in diesen Situationen nicht zu überfordern und zu verstehen, dass viele dieser Probleme krankheitsbedingt sind.
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Beobachtung und Ursachenforschung
Wenn Menschen mit Demenz zu wenig essen und/oder trinken, kann das viele Gründe haben: Vielleicht kommen sie nicht mehr mit der Zubereitung zurecht, vielleicht merken sie nicht, dass es Zeit zum Essen ist. Auch Veränderungen im Geruchs- und Geschmackssinn, motorische Probleme oder gestörte Wahrnehmung von Durst oder Hunger können eine Rolle spielen. Versuchen Sie herauszufinden, welche Gründe hinter der Situation stecken: Gibt es Anzeichen für Krankheiten? Sind Mahlzeiten grundsätzlich schwierig oder nur einzelne? Kam die Appetitlosigkeit plötzlich oder schleichend?
Anpassung der Essenssituation
- Angenehme Atmosphäre: Die Atmosphäre am Tisch ist bei Demenzpatienten ganz wichtig. Es sollte nicht zu laut und hektisch sein, lieber ruhig und entspannt. Manche Patienten mögen eine leise Hintergrundmusik, für andere ist dies aber schon wieder zu viel Ablenkung.
- Gemeinsame Mahlzeiten: Für die Patienten ist es ganz gut, wenn andere Menschen mit am Tisch sitzen und ebenfalls essen. Patienten die vergessen haben mit Besteck umzugehen, können zumindest noch ein bisschen bei den anderen abschauen, wie Löffel und Gabel eingesetzt werden.
- Klare Strukturen: Demenzpatienten fällt es irgendwann immer schwerer, Entscheidungen zu treffen. Deshalb sind Fragen wie: „Was möchtest du gerne essen", meist schon eine Überforderung. Besser ist es, Speisen zu servieren, die der Patient schon immer gerne gegessen hat. Doch auch hier kann es sein, dass der Patient sein heißgeliebtes Lieblingsgericht irgendwann nicht mehr mag, weil sich sein Geschmack oder seine Vorliebe verändert hat.
- Weniger Ablenkung: Ein schön gedeckter Tisch mit schönen Servietten und bunter Deko kann den Appetit anregen, kann aber auch genauso den Patienten überfordern. Er weiß dann nicht mehr, was ist essbar von all dem was auf dem Tisch steht und was nicht. Deshalb nur das auf den Tisch stellen, was zum Essen auch wirklich benötigt wird. Für gute Beleuchtung am Esstisch sorgen, damit der Patient die Speisen gut erkennen kann und sieht, was er isst.
- Pürierte Kost: Patienten mit mittelschweren Kau- und Schluckbeschwerden (Dysphagie) muss unter Umständen pürierte Kost verabreicht werden. Es gibt hierfür auch spezielle Fertig-Püreemenüs, die mit allen wichtigen Nährstoffen angereichert sind.
- Kleine Mahlzeiten: Lieber mehr Mahlzeiten über den Tag verteilt als 3 große Mahlzeiten. Demenziell erkrankte Personen schrecken oft vor zu großen Portionen zurück.
Anpassung der Speisen
- Fingerfood: Läßt die Motorik mehr und mehr nach, ist es sinnvoll, vom Essen mit Besteck auf Fingerfood umzusteigen. Dafür eignen sich Pommes, Kroketten, kleine Fleischbällchen, kleingeschnittenes Fleisch und Würstchen, zusammengerollte Wurstscheiben, mundgerechte Obst- und Gemüsestücke usw.
- Kalorienreiche Kost: Bei allen Lebensmitteln gilt: Nicht kleckern - sondern klotzen. Das heißt, bei mangelernährten Patienten ist die Kalorienzufuhr zu erhöhen. Daher bekommt er anstatt Magermilch die Vollmilch serviert, Sahnejoghurt anstatt fettarmem Joghurt, reichlich Butter und Sahne, Salami statt gekochtem Schinken, Zucker statt Süßstoff.
- Berücksichtigung von Vorlieben: Mit Fortschritt der Demenz wird die Vorliebe zu süßen und fettigen Speisen hervortreten, weil sich der Geschmackssinn auch hier eindeutig verändert hat. Auch wenn es schwer fällt, sollten diese „ungesunden“ Vorlieben berücksichtigt werden. Es ist immer noch besser als die komplette Nahrungsverweigerung und damit einhergehend eine Unterernährung.
Hilfsmittel und Unterstützung
- Spezialgeschirr: Bei einer nachlassenden Beweglichkeit der Hände und Arme kann spezielles Geschirr die Nahrungsaufnahme erleichtern. Es gibt Besteck mit dicken, rutschfesten Griffen, vertieften Löffelschalen oder speziell gebogenes Besteck.
- Trinkhilfen: Getränke sollten den Tag über regelmäßig angeboten und an mehreren Stellen in der Wohnung positioniert werden. Das Trinkgefäß und das Getränkeangebot können für die Trinkbereitschaft eine Rolle spielen. Farbige Becher werden besser wahrgenommen und animieren zum Trinken. Schnabeltassen sind nur geeignet, wenn keine Schluckbeschwerden bestehen, da Getränke sonst unkontrolliert in Mund und Rachen fließen können.
- Logopädie: Bei Schluckstörungen (Dysphagien) gehört die logopädische Therapie zu den Standardmaßnahmen. Logopädinnen und Logopäden unterstützen Betroffene mit gezielten Übungen zur Kräftigung der Schluckmuskulatur, trainieren sichere Schlucktechniken und beraten Pflegekräfte zur Anpassung von Konsistenz und Essenssituation. Eine frühzeitige logopädische Mitbehandlung kann das Risiko von Aspiration und Lungenentzündungen deutlich senken.
Umgang mit Ablehnung und Verweigerung
- Keinen Druck ausüben: Keinen Druck auf den Patienten ausüben. Wenn er eine Speise ablehnt oder nicht mag, macht es keinen Sinn, den Patienten zum Essen zu zwingen. Womöglich assoziiert der Patient dann das Essen mit etwas Negativem. Lieber einige Minuten später etwas anderes anbieten.
- Validierung: Auch wenn es schwerfällt, sollten Sie möglichst nie versuchen, mit Logik zu argumentieren („Aber wir haben gerade gegessen!“) - dies kann Verwirrung auslösen oder Menschen aggressiv machen. Besser ist es, die Wirklichkeit der erkrankten Person anzuerkennen (Validierung) und anschließend eine Lösung anzubieten, zum Beispiel „Wir haben gerade gegessen, aber ich sehe, dass du vielleicht noch Hunger hast.
Medizinische Aspekte
- Regelmäßiges Wiegen: Regelmäßiges Wiegen der Patienten ist ganz wichtig um zu sehen, ob die zugeführte Nahrungsmenge ausreichend ist.
- Mangelernährung: Bei Mangelernährung sollten mehrmals täglich kleine nährstoffreiche Zwischenmahlzeiten angeboten werden. Energiereiche Getränke können eine zu geringe Kalorienaufnahme ausgleichen.
- PEG-Sonde: Aus medizinischer Sicht soll bei einer schweren Demenz keine PEG-Sonde eingesetzt werden.