Der kluge Bauch: Unser zweites Gehirn – Wissenschaftliche Einblicke in die Darm-Hirn-Achse

Einführung: Mehr als nur Verdauung

Lange Zeit wurde der Darm primär als Organ für die Verdauung betrachtet. Doch die moderne Wissenschaft hat erkannt, dass der Darm eine viel komplexere Rolle spielt, insbesondere in seiner Verbindung zum Gehirn. Der Ausdruck "Bauchgefühl" ist mehr als nur eine Redewendung; er spiegelt eine reale Verbindung zwischen unserem Verdauungssystem und unserem Denkorgan wider. Dieser Artikel beleuchtet die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Darm-Hirn-Achse und ihre Auswirkungen auf unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden.

Das enterische Nervensystem: Ein "zweites Gehirn"?

Unser Magen-Darm-Trakt ist mit einem eigenen Nervensystem ausgestattet, dem enterischen Nervensystem (ENS). Dieses "Bauchhirn", wie es oft genannt wird, besteht aus Millionen von Neuronen, die in der Darmwand sitzen. Interessanterweise enthält der Bauch ebenso viele Nervenzellen wie das Gehirn eines Haustiers.

Aufbau und Funktionsweise

Das ENS ist in der Lage, weitgehend autonom zu agieren. Es steuert die Verdauungsprozesse, reguliert die Darmbewegung und beeinflusst sogar unser Immunsystem. Emeran Mayer beschreibt in seinem Buch "Das zweite Gehirn" detailliert den Aufbau und die Funktionsweise dieses faszinierenden Systems.

Evolutionäre Perspektive

Die Evolution unseres Gehirns steht in enger Verbindung mit der Verbesserung unserer Ernährung. Augen und Ohren entwickelten sich, um die Nahrungssuche zu erleichtern. Ein entscheidender Wendepunkt war die Zähmung des Feuers vor etwa 1,5 Millionen Jahren. Das Garen von Speisen stellt eine Art Vorverdauung dar, wodurch der Körper weniger Energie für die eigentliche Verdauung aufwenden muss. Diese Effizienzsteigerung ermöglichte die Entwicklung eines komplexeren Gehirns.

Kommunikation zwischen Bauch und Kopf

Obwohl das ENS autonom arbeiten kann, steht es in ständiger Kommunikation mit dem Gehirn über den Nervus Vagus, eine wichtige Nervenverbindung. Diese bidirektionale Kommunikation ermöglicht einen kontinuierlichen Informationsaustausch zwischen den beiden "Gehirnen".

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Der Einfluss des Darms auf Emotionen und Entscheidungen

Der zweite Teil von Mayers Buch widmet sich der Frage, wie der Darm menschliche Entscheidungen und Emotionen beeinflussen kann. Sensorische Signale, die im Darmnervensystem entstehen, werden über spezifische Nervenbahnen ans Gehirn geleitet, insbesondere in die Inselregion. Diese Signale werden dann als "Bauchgefühl" wahrgenommen.

Somatische Marker

Diese Erkenntnisse erinnern an Antonio Damasios Hypothese der somatischen Marker, die besagt, dass emotionale Erfahrungen "verkörperlicht" werden. Signale aus dem Körperinneren, einschließlich des Darms, werden als Emotionen bewusst wahrgenommen und beeinflussen unbewusst unsere Entscheidungen.

Serotonin: Ein wichtiger Neurotransmitter

Serotonin, ein Neurotransmitter, der im Gehirn eine wichtige Rolle für das Wohlbefinden spielt, wird zu einem großen Teil im Magen-Darm-Trakt produziert. Tatsächlich werden etwa 95 Prozent des Serotonins im Körper im Darm gespeichert. Diese Zellen stehen in enger Verbindung zum Gehirn und insbesondere zu Hirnarealen, die am emotionalen Erleben beteiligt sind.

Darmmikroben und psychische Störungen

Darmmikroben werden zunehmend mit psychischen Störungen wie Depressionen in Verbindung gebracht. Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRIs), die häufig bei Depressionen verschrieben werden, beeinflussen das serotonerge Neurotransmittersystem. Da ein Großteil des Serotonins im Darm produziert wird, könnten Darmmikroben möglicherweise eine Rolle bei der Entstehung von Depressionen spielen. Dieses Gebiet ist jedoch noch wenig erforscht.

Gesundheitliche Aspekte: Was können wir für einen gesunden Darm tun?

Ein gesunder und funktionsfähiger Darm ist entscheidend für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden. Mayer gibt in seinem Buch praktische Tipps zur Ernährung, die einen maßgeblichen Effekt auf psychische Parameter hat.

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Das Mikrobiom: Ein komplexes Ökosystem

Unser Verdauungskanal ist von Billionen von Bakterien besiedelt, dem sogenannten Mikrobiom. Dieses komplexe Ökosystem spielt eine wichtige Rolle bei der Verdauung, der Immunabwehr und der Produktion von Vitaminen. Jeder Mensch trägt etwa ein bis zwei Kilogramm Bakterien in sich, die etwa 30 Prozent unserer Kalorien erzeugen.

Enterotypen

Forscher haben herausgefunden, dass sich Menschen anhand ihrer mikrobiellen Population im Darm in drei Gruppen einteilen lassen, die sogenannten Enterotypen. Diese unterscheiden sich in ihrer Fähigkeit, Nahrung in Energie umzuwandeln und Vitamine zu produzieren.

Das Mikrobiom als diagnostisches Werkzeug

Die Zusammensetzung unseres Mikrobioms kann als diagnostisches Werkzeug dienen, um eine Disposition für bestimmte Krankheiten wie Typ-2-Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Leberleiden festzustellen.

Einfluss des Mikrobioms auf das Verhalten

Studien an keimfreien Mäusen haben gezeigt, dass das Mikrobiom das Verhalten beeinflussen kann. Mäuse ohne Darmbakterien zeigen ein risikoreicheres Verhalten.

Krankheiten und die Darm-Hirn-Achse

Die Darm-Hirn-Achse spielt auch bei der Entstehung und dem Verlauf verschiedener Krankheiten eine Rolle.

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Reizdarmsyndrom

Das Reizdarmsyndrom (RDS) ist eine häufige Erkrankung, die starke Schmerzen im Bauchraum verursacht. Obwohl bei Untersuchungen wie Koloskopie oder Gastroskopie keine organischen Ursachen gefunden werden können, zeigen Studien, dass die Neuronen in der Schleimhaut von RDS-Patienten viel aktiver sind als bei gesunden Probanden.

Parkinson-Krankheit

Die Parkinson-Krankheit (PE) ist eine neurodegenerative Erkrankung, die lange Zeit als eine Erkrankung des Gehirns betrachtet wurde. Doch Ärzte stellten fest, dass die Krankheit oft mit starken Verdauungsbeschwerden einhergeht, die Jahre vor den ersten motorischen Störungen auftreten können.

Alpha-Synuclein und Entzündungen

Bei der PE erfährt das Protein Alpha-Synuclein (α-syn) pathologische Veränderungen, die zur Bildung von Lewy-Körperchen führen. Diese Lewy-Körperchen finden sich nicht nur im Gehirn, sondern auch in Neuronen des enterischen Nervensystems. Entzündungen im Darm könnten ein möglicher Auslöser der α-syn-Pathologie sein. Studien haben gezeigt, dass Patienten mit entzündlichen Darmerkrankungen und Reizdarmsyndrom ein höheres Risiko haben, eine PE zu entwickeln.

Vagotomie und Appendektomie

Eine Studie aus dem Jahr 2015 deutete darauf hin, dass eine Vagotomie, die Durchtrennung des Nervus Vagus, das Risiko für die Entwicklung einer PE verringern könnte. Dies stützte die Hypothese, dass der Krankheitsprozess stark von einem intakten Vagusnerv abhängt. Allerdings gibt es auch widersprüchliche Forschungsergebnisse. Eine Studie aus dem Jahr 2018 zeigte, dass eine Appendektomie, die Entfernung des Blinddarms, das Risiko einer Parkinson-Entwicklung reduzierte. Ein Jahr später wurde jedoch eine weitere Korrelation gefunden, die besagte, dass Patienten, denen der Blinddarm entfernt wurde, mehr als dreimal so häufig an Parkinson erkrankten.

Lewy-Körperchen: Neue Erkenntnisse

Neue Forschungen haben gezeigt, dass die Lewy-Körperchen im Gehirn von Parkinson-Patienten hauptsächlich aus Membranfragmenten von Mitochondrien und anderen Organellen bestehen und weniger aus Alpha-Synuclein-Fibrillen, wie zuvor angenommen.

Bauch-Akupunktur

In Asien, Europa und den USA wird Bauch-Akupunktur zur Behandlung von Patienten mit Parkinson, Alzheimer und Depressionen eingesetzt. MRT-Aufnahmen des Gehirns vor und nach der Therapie zeigten Unterschiede in der Anzahl der aktivierten Bereiche.

Schlussfolgerung: Ein ganzheitlicher Ansatz

Die Forschung der letzten Jahre hat gezeigt, dass der Darm eine viel größere Rolle für unsere Gesundheit spielt, als lange Zeit angenommen wurde. Die enge Verbindung zwischen Darm und Gehirn, die sogenannte Darm-Hirn-Achse, beeinflusst nicht nur unsere Verdauung, sondern auch unsere Emotionen, Entscheidungen und sogar das Risiko für bestimmte Krankheiten. Es ist daher wichtig, einen ganzheitlichen Ansatz zu verfolgen, der sowohl den Körper als auch den Geist berücksichtigt. Die Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen ist entscheidend, um ein umfassendes Bild des Menschen zu erhalten. Emeran Mayer verdeutlicht in seinem Buch auf unterhaltsame Weise die immense Bedeutung des Darmnervensystems für unser körperliches und psychisches Wohlbefinden. Seine Ausführungen zu den möglichen Wechselwirkungen von Darmprozessen und emotionalen bzw. kognitiven Prozessen sind besonders für Psychologen von Interesse und bieten wichtige Impulse für zukünftige Forschungsprojekte.

Quellen

  • Emeran Mayer: "Das zweite Gehirn"
  • Emeran Mayer: "Gut feelings: The emerging biology of gut-brain communication", Nature Magazin, 2011
  • ARTE-Beitrag: "Der kluge Bauch - Unser zweites Gehirn"

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